Nordafrika
Soziale Proteste in Marokko, Algerien und Tunesien

von Bernard Schmid

02/2018

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In Nordafrika ist die soziale Situation derzeit nicht allein in Tunesien aufgewühlt. Auch wenn Marokko und Algerien nicht so stark wie Tunesien von den Umbrüchen betroffen waren, die sich soeben zum siebten Mal jährten, so waren doch auch diese Länder damals auf unterschiedliche Weise einbezogen: In Algerien gab es in der zweiten Januarwoche 2011 massive Riots infolge der Preisanhebung für Grundbedarfsgüter. Infolge ihrer Rücknahme brachen die Unruhen jedoch ab, und Versuche zur Politisierung des Protests gegen die Regierung führten nicht zum Erfolg. Ab Februar 2011 fanden auch in Marokko Massenproteste statt, dabei wurden vor allem demokratische Reformen gefordert. Diese „Bewegung des 20. Februar“ führte zu einer neuen, weniger autoritären Verfassung, die am 1. Juli jenes Jahres per Referendum angenommen wurde, jedoch nicht zum Regimewechsel. Die Monarchie blieb intakt, auch wenn auf parlamentarischer Ebene vormalige Oppositionsparteien in die Regierungsbildung einbezogen wurden. Die wahre Macht bleibt beim Königshaus, das mit seinen Investmentfonds und Beteiligungen auch als stärkster inländischer Einzelkapitalist agiert.

Auch heute durchziehen gesellschaftliche Auseinandersetzungen nicht nur Tunesien, wo die Regierung mit einer Mischung aus Repression und – am Wochenende des 12./13. Januar 18 verkündeten - sozialen Zugeständnissen (wie etwa Wohnbeihilfen für ärmere Familien) reagierte, sondern finden auch in den beiden westlich gelegenen maghrebinischen Nachbarländern statt.

Heute wird Marokko seit einem guten halben Jahr durch eine sehr heterogene Sechs-Parteien-Koalition regiert. Stärkste Einzelpartei darin ist die islamistische „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ – der PJD -, die jedoch ihrerseits tief gespalten ist: Die Anhänger des von 2011 bis 2016 regierenden PJD-Premierministers Abdelilah Benkirane trachten danach, den wesentlich moderateren aktuellen Regierungschef und „Parteifreund“ Saad-Eddine El Othmani zu stürzen. Auf sozialer und gesellschaftspolitischer Ebene ist es vor allem das öffentliche Bildungswesen, welches im Zentrum von Konflikten steht. Am 14. Februar werden die Beschäftigten dort auch durch die Gewerkschaftsvereinigung CDT zu einem Streik aufgerufen. Bei der Confédération démocratique du travail handelt es sich um einen der bedeutenderen Dachverbände im Land. Er stand historisch der Sozialdemokratie in Gestalt der USFP – Regierungspartei von 1998 bis 2011 – nahe, unterstützt jedoch seit 2006 eine linkssozialdemokratische Abspaltung von ihr, der Kleinpartei Ittihadi.
 

Das öffentliche Bildungswesen befindet sich im Umbruch. Grundsätzlich würde dies auch Not tun. Denn im Schulsystem liegt Vieles im Argen. 400.000 Kinder und Jugendliche brechen alljährlich die Schule vorzeitig ab, und 2013 erklärte der damalige Bildungsminister Rachid Belmokhtar, 76 Prozent von ihnen blieben nach vier Jahren Grundschule Analphabeten. Die öffentlichen Schulen sind chronisch unterfinanziert und wurden lange Zeit vom Staat vernachlässigt. Unter der alten Monarchie von Hassan II. (Regent von 1961 bis 1999) war ein miserables Bildungsniveau durchaus politisch erwünscht - da man an der Spitze befürchtete, seine Anhebung gefährde Obrigkeitsgläubigkeit und ein dumpfes Religionsverständnis, die beide aufrecht erhalten bleiben sollten. Heute sind solche Zustände jedoch eher kontraproduktiv. Marokko verzeichnet ein Wirtschaftswachstum von 8 Prozent pro Jahr. Internationale Unternehmen siedeln dort Call Centers an, deren Mitarbeiter korrekt Französisch (oder Englisch) sprechen sollten, nordamerikanische und andere Banken benutzen Marokko als Sprungbrett für den afrikanischen Kontinent. Da braucht es ein leidlich ausgebildetes Personal.

Die Frage ist nur, wohin die Reise bei der angekündigten Reform geht. Am 04. Januar verabschiedete das Kabinett einen Umbauplan, der bis 2030 laufen soll und derzeit noch vage gehalten ist, jedoch in ein Gesetz münden soll. Zunächst verkündete die Regierung einige Aspekte, die in Wirklichkeit nicht im Zentrum der Umgestaltung stehen: Allmorgendlich sollen die Schüler die Nationalhymne singen, und die Lehrer sollen künftig stärker angehalten sein, „korrekte Kleidung“ tragen. Französisch soll ab der ersten und Englisch ab der siebten Klasse unterrichtet werden. Die Einschulung soll in Zukunft mit fünf statt mit sechs Jahren erfolgen, und es soll bessere Schulbücher geben. Dies ist jedoch nicht die Hauptsache.

Im Zentrum steht nämlich das Vorhaben, den zumindest theoretisch kostenlosen Schul- und Hochschulzugang – derzeit gibt es allerdings Einschreibegebühren – zu kippen, jedenfalls ab der Oberstufe. Dies sickerte längst durch, auch wenn die Regierung in der Öffentlichkeit das Gegenteil versichert, wobei sie verdächtigerweise gleich hinzufügt, für ärmere Familie solle es einen Ausgleichsfonds geben. Begründet wird das faktisch auf der Agenda stehende Vorhaben dadurch, es gelte, die Reichen zur Kasse zu bitten, die unverdienterweise durch einen kostenlosen Bildungszugang „von einer nationalen Solidarität profitieren“. Dieses Argument kam bereits 2012 vom damaligen Hochschulminister Lahcen Daoudi (PJD). Es ist allerdings heuchlerisch, denn reiche Familien schicken ihre Sprösslinge ohnehin auf Privatschulen und –universitäten, um die Bildungsmisere zu umgehen. In Wahrheit geht es darum, die Mittelklassen verstärkt zur Kasse zu bitten, während Schüler aus ärmeren Schichten vom Abitur und Studium ausgeschlossen zu werden drohen. Zugleich sollen verstärkt private Wirtschaftsinteressen durch public-private partnerships ins Bildungswesen Einzug halten, und Schulen oder Hochschulen sollen ihre eigene Lehrkräfte mit befristeten privatrechtlichen Arbeitsverträgen rekrutieren können.

Dieses Vorhaben ist sozialpolitisch explosiv. Ebenso ist es in Algerien der Regierungsplan, Krankenhausärzten künftig ihre Freistellung vom Armeedienst zu entziehen. Diese Entbindung vom Militärdienst wurde ihnen in den 1990er Jahre zugestanden, als die Krankenhäuser zahlreiche Opfer des Bürgerkriegs und islamistischen Terrorismus zu versorgen hatten. Dagegen richtet sich ein seit zwei Monaten anhaltender Streik des Krankenhauspersonals, das etwa am 07. und 09. Januar auch auf die Straße ging. Dieser Protest mobilisiert zwar derzeit nur eine Berufsgruppe, wird jedoch in breiten Kreisen mit Aufmerksamkeit verfolgt - während das ganze Land sich fragt, welche Weichen nach dem Ableben des im Amt dahinsiechenden, schwerkranken Präsidenten Abdelaziz Bouteflika gestellt werden.

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Es handelt sich um eine ausführliche Fassung eines Artikels, welcher in gekürzter Version am 18. Januar 18 in der Berliner Wochenzeitung Jungle World publiziert wurde.