Afrin wird das Vietnam der Türkei

von "marxistische Linke & kommunisten.de"

02/2018

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25.01.2018: türkische Truppen kommen nicht voran ++ Türkei verstärkt Luftangriffe auf zivile Ziele ++ Erdogan will ethnische Säuberung ++ Bundesregierung windet sich ++ schmutziger Deal zwischen Moskau, Ankara und Damaskus

Die türkische Armee hatte die 'Operation Olivenzweig' am Samstag begonnen und die Region Afrin mit Artillerie und aus der Luft mit nahezu 100 Flugzeugen angegriffen. Am Sonntag folgte eine Bodenoffensive, bei der die Türkei hauptsächlich auf Terroristen des Al-Kaida-Ablegers Heyet Tahrir El-Şam setzt.

Doch der Angriff blieb stecken. Auch am sechsten Tag des Überfalls kommen die türkischen Streitkräfte und ihre Hilfstruppen nicht voran. Gestern teilten die kurdischgeführten Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) mit, dass bisher 203 türkische Soldaten und Terroristen gefallen sind und mehrere Panzer zerstört wurden. Das Pressezentrum der Volksverteidigungseinheiten YPG veröffentlichte Ausweisdokumente von türkischen Soldaten (Foto), die bei Auseinandersetzungen auf dem Hügel Qûdê in Afrin getötet wurden.

"Heute ist der sechste Tag der Angriffe der türkischen Aremee und ihrer Söldnerbanden auf die Grenzen Afrins. Angesichts dieser abscheulichen Angriffe, zeigen wir als die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und die gesamte Bevölkerung Afrins einen historischen Widerstand und begenen dem Angriff mit großer Entschlossenheit. Wir werden den türkischen Staat und ihre Banden in Afrin begraben, und wir werden dafür sorgen, dass sie bedauern, jemals gekommen zu sein."
Afrin-Kommando der Frauenverteidigungseinheiten YPJ, Donnerstag, 25. Januar 2018 (YPJ: "We will turn Afrin to a graveyard for Turkish state")

https://youtu.be/2fQSSwEsx4A

Türkische Armee bombardiert willkürlich die Städte und Dörfer

Da die Türkei am Boden keine Erfolge erzielt, intensiviert sie den Terror gegen die Zivilbevölkerung mit Artilleriebeschuss und Luftangriffen. Auch der Staudamm von Afrin wurde bombardiert, um eine Katastrophe auszulösen.

Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) appellierten am Dienstag (23.1.) an die internationale Gemeinschaft und humanitäre Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen:

"Die türkische Armee hat die Angriffe auf unsere Bevölkerung ausgeweitet. Mit dem Einsatz von schwerem Kriegsmaterial bombardiert die türkische Armee willkürlich die Städte und Dörfer der Bevölkerung. Lediglich weil es sich um Kurd*innen handelt, die in Afrin leben, werden die Menschen zum Ziel von Bombenangriffen.

In den Morgenstunden legte die türkische Armee erneut ihre Brutalität an den Tag und handelte wie Daish oder al-Nusra, ohne Unterschiede zwischen Zivilisten oder militärischen Kräften zu machen.

"Aber unter wessen Kontrolle steht der Luftraum? Der Luftraum steht unter russischer Kontrolle. Das bedeutet, wenn Kriegsflugzeuge über Afrin fliegen, dann tragen sie vielleicht eine türkische Fahne, aber es bedeutet, dass sie von Russland geschickt worden sind. Das heißt, das sind Russlands Kriegsflugzeuge. Das wird die Öffentlichkeit und das kurdische Volk so verstehen. Warum? Weil der Luftraum über Syrien und Afrin der Kontrolle russischer Technologie steht."
Murat Karayılan, Vorstandsmitglied der PKK

 Die türkische Armee zielte mit schweren Waffen auf Cindirêsê und griff mit äußerster Brutalität die zivile Bevölkerung an. Dabei starben zwei Frauen und zwei Kinder. Es entstand schwerer Sachschaden an den Häusern.

Nach ersten Erkenntnissen wurden mindestens zehn Menschen verletzt. Dieser brutale Angriff zeugt von der terroristischen Gesinnung des türkischen Staates und macht verständlich, dass es keine Unterschiede zwischen der Auffassung des türkischen Staates und Daish gibt.

Aus diesem Grund rufen wir die internationale Gemeinschaft, humanitäre Organisationen und Menschenrechtsorganisationen auf, die Verbrechen des türkischen Staates in Efrîn aufzuklären und darüber zu berichten.

Diejenigen, die diese Verbrechen begehen, müssen ermittelt werden.“

Erdogan will ethnische Säuberung

Erdogan sagte in Ankara, dass Afrin von den "Terroristen gesäubert" und seine Armee Afrin unter ihre Kontrolle bringen werde. "Dann könnten die Syrer dorthin zurückkehren". Damit meint Erdoğan loyale arabische Stämme und Turkmenen. Es geht also um die Vertreibung der Kurd*innen. Das Ziel ist klipp und klar eine ethnische Säuberung. Die Reaktion der Nato-Partner der Türkei: Schweigen.

Hilferuf der Jesiden

Die Menschen in der Region Afrin befürchten das Schlimmste. In der Region leben überwiegend Kurden, aber auch Angehörige von Minderheiten wie Aleviten, Jesiden und Christen. In Afrin ist das größte zusammenhängende Siedlungsgebiet der Jesiden in Syrien. Zudem gibt es in Afrin eine alevitische Minderheit, der auch Hevi Mustefa angehört, die Regierungschefin der Region. Die Aleviten, die in der Türkei systematisch ausgegrenzt werden, dürften eine Machtübernahme durch von Ankara eingesetzte Statthalter ebenso wenig als Befreiung empfinden wie die Jesiden. Sie fürchten sich vor allem vor radikalen Islamisten, die an der Seite der Türkei kämpfen.

Kamal Sido, Nahost-Referent der "Gesellschaft für bedrohte Völker" in Göttingen sagte gegenüber der Tagesschau: "Die türkische Armee rückt gemeinsam mit islamistischen, gar dschihadistischen Truppen vor." Viele Menschen seien aus ihren Häusern geflüchtet und versteckten sich in Berghöhlen, sagt Sido, der selbst aus Afrin stammt.
Auch der Zentralrat der Jesiden in Deutschland schlägt Alarm: "Wir senden einen lauten, verzweifelten Hilferuf." Der Vorsitzende Irfan Ortac sagte, die Welt müsse alles dafür tun, "dass die Region nicht jesiden- und christenfrei wird". (Tagesschau)

Terror und Unterdrückung in der Türkei

Die Türkei wird von einer Welle des Nationalismus überrollt, die Opposition gegen den Krieg mit aller Gewalt unterdrückt. Wer gegen den Krieg ist, werde "ausgelöscht", drohte Erdogan auf einer Kundgebung. Wer gegen den Krieg ist, betreibe "Terrorpropaganda". Dutzende wurden in den letzten Tagen deswegen verhaftet. Kritik am Angriff gibt es sowieso nur noch von der von Kurd*innen und einem Teil der türkischen Linken gewählten Partei HDP. Ansonsten gibt es keine Opposition mehr. Der Überfall hat alle "türkischen Parteien" geeint. Die chauvinistische "Partei der nationalistischen Bewegung" ist seit dem türkischen Verfassungsreferendum von 2017 ohnehin keine Oppositionskraft mehr und unterstützt Erdogan vorbehaltlos. Doch auch Kemal Kilicdaroglu und seine "Republikanische Volkspartei" CHP stellen sich ganz hinter den Feldzug der "ruhmreichen Streitkräfte": Man habe vollstes Vertrauen in die "mutige türkische Armee" und unterstütze den Einmarsch.

Bundesregierung stellt sich dumm

Obwohl die Türkei in Afrin gezielt Dörfer bombardiert und bereits zahlreiche Zivilisten getötet und verwundet worden sind, setzt die Bundesregierung weiter auf schwammige Stellungnahmen. Seit Tagen kann sie sich nicht festlegen, ob der türkische Militäreinsatz völkerrechtswidrig ist.

"Die Bundesregierung betrachtet die Berichte über die türkische Militärintervention im Nordwesten Syriens mit großer Sorge", sagte Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer. Berlin fordere ein Ende der Kampfhandlungen und den Zugang für humanitäre Hilfe. Der deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdamm, sei beauftragt, herauszufinden, ob deutsche Panzer eingesetzt würden.

Bundespressekonferenz am Montag, 22. Januar 2018

"Die Bundesregierung blickt mit Sorge nach Syrien ... Für die Bundesregierung ist es eine fluide Lage ... Die Bundesregierung hat kein vollständiges Lagebild und könne das türkische Vorgehen völkerrechtlich daher nicht einordnen" (Maria Adebahr, Sprecherin des Auswärtigen Amtes)

"Außer den Bildern aus den Medien, die Sie alle kennen, haben wir keine eigenen Erkenntnisse über den Einsatz von Leopard-Panzern.“ (Holger Neumann, Sprecher des Verteidigungsministeriums.)

Demmer verwies aber zugleich auf "legitime türkische Sicherheitsinteressen an der Grenze zu Syrien". Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes verwies darauf, dass die Türkei wiederholt Ziel von Angriffen durch die Terrormiliz "Islamischer Staat" aus Nordsyrien heraus gewesen. Ankara argumentiere deshalb mit seinem "Recht auf Selbstverteidigung". Ob der Einsatz der Türkei völkerrechtswidrig sei, könne man zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen.

Die Tatsache, dass der IS in Afrin überhaupt nicht vorhanden ist, die Türkei noch nie von Afrin aus angegriffen wurde, dass der Angriff der Türkei sich nicht gegen den IS richtet und die Türkei sich vielmehr dschihadistischer Söldner als Bodentruppen in Syrien bedient, wird dabei ignoriert. Vergessen wird auch, dass Erdogan den IS massiv gefördert und auch militärisch unterstützt hat.

Wie ernst die "Forderungen" der Bundesrepublik gemeint sind, zeigt ein Blick auf die Rüstungsexporte aus der Bundesrepublik in die Türkei. Wie aus einer Anfrage der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei, Sevim Dagdelen hervorgeht, wurden von der Bundesregierung im vergangenen Jahr Rüstungsexporte im Wert von 34,2 Millionen Euro genehmigt.


"Natürlich bin ich froh, wenn ich Panzer verkaufen kann."

SPD-Verteidigungsminister Peter Struck im Jahr 2004
zu dem Panzerdeal mit Erdogan

Seit 1982 wurden mehr als 700 deutsche Kampfpanzer an die Türkei geliefert - Panzer, die immer wieder gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt wurden. (im Foto ein Leopard an der Grenze zu Afrin) Der Löwenanteil der Panzerlieferungen wurde von der SPD während der Regierungszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder beschlossen, gegen den Widerstand des grünen Koalitionspartners.

Niederlage des IS ist Niederlage Erdogans

Über die Motive Erdogans für den Überfall auf Afrin äußert sich die Kommandantin der Frauenverteidigungseinheiten YPJ in Deir ez-Zor im Osten Syriens, Axîn Efrîn. Sie zieht eine Verbindung zur bevorstehenden endgültigen Niederlage des IS. In der Region Deir ez-Zor finden im Moment die entscheidenden Kämpfe zur Zerschlagung des IS statt. Der IS hat hier seine letzten Kräfte und Militärtechnik zusammengezogen. "Wir haben den IS an vielen Plätzen vernichtet. Manbij und Raqqa sind die bekanntesten. Das Besondere an Deir ez-Zor ist, dass das absolute Ende des IS in den Händen der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) liegt. Das bedeute nicht, dass der IS nicht weiter existieren wird. Er wird weiter Aktionen in Gegenden wie Idlib und Damaskus fortführen können. Aber als organisierte Kraft, existiert er nur noch hier, uns gegenüber. Und er wird vernichtet von den Kämper*innen der SDF."

Axîn Efrîn weist darauf hin, dass die Niederlage des IS eine Niederlage von Erdogan ist. Sie erinnert daran, dass die Verteidigung Rojavas gegen den IS, die 'Freie Syrische Armee' und andere islamistische Banden in Wirklichkeit ein Krieg gegen die Türkei war. "Heute sind alle Banden, die in Rojava, Nordsyrien und Syrien gegen uns kämpfen, Banden, die Erdogan und der türkische Staat in ihrem Busen genährt haben. Die Wut von Erdogan und sein Motiv für den Angriff auf Afrin kommen aus seiner tiefen Wut über den Misserfolg des IS. Weil dieser Misserfolg in Wirklichkeit der Misserfolg von Erdogan ist."

Die YPJ-Kommandantin betont, dass mit dem Ende des IS eine neue Ära in Nordsyrien beginnt, nämlich die "Durchführung des Nordsyrien-Projekts". "Es ist ein neues Modell des Lebens, das von der kurdischen, arabischen, syrischen, turkmenischen und christlichen Bevölkerung geschaffen wird. Die Grundlage dieses Projektes besteht aus unseren Kräften, den SDF. Die SDF ist ein wirkliches Beispiel für dieses Projektes, das lebendig geworden ist. In den SDF gibt es Angehörige aller Teile der Bevölkerung. Und in Nordsyrien wird es konkrete Gestalt annehmen. Das ist, was Erdogan nicht dulden kann. Deshalb will Erdogan uns und Syrien einen permanenten Krieg aufzwingen, um dadurch die Durchführung dieses Projektes verzögern." (YPJ Commander: We will defeat the Turkish state in Afrin again)

Schmutziger Deal zwischen Moskau, Ankara und Damaskus

Ohne Russlands Billigung, da sind sich alle Beobachter einig, hätte die Türkei ihren Überfall auf Afrin nicht wagen können. Mit dem Abzug seiner Militärbeobachter aus dem Gebiet Afrin gab Moskau der Türkei das Schussfeld frei.

Vorher wollte Moskau die YPG zum Abzug aus Afrin bewegen. Aldar Khalil, Mitglied der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), eine Dachorganisation von sechs politischen Parteien und gesellschaftlichen Institutionen, einschließlich der Partei der demokratischen Union PYD, teilte Reportern am vergangenen Sonntag (21.1.) vor dem Einmarsch der Türkei mit: "Die Russen sagten uns, dass wir sicher und geschützt vor dem türkischen Angriff sind, wenn wir Afrin verlassen und an das syrische Regime übergeben." Wir wiesen dies zurück, sagte Khalil. Der Vorsitzende der Verteidigungsbehörde von Afrin, Bahjat Abdo, ergänzte: "Wir haben vor fünf Jahren das syrische Regime aus Afrin vertrieben. Da ist es unvorstellbar, jetzt zu erlauben, dass sie zurückkomen."

Mücahit Akdogan schreibt in einer Analyse: "Das bedeutete Russland erlaubte den Angriff, Russland und die Türkei haben sich verständigt … Russland, das eine starke Position in Syrien haben möchte und ausreichende Erfahrung mit 'kurzfristiger Politik' hat schlägt der YPG folgendes vor: Gebt Afrin auf. Es will aber nicht nur Afrin, sondern auch das Öl von Dêra Zor. In diesem Fall wird die Türkei gestoppt und das Regime kommt als Profiteur heraus, es hat sich dann nicht in einen Krieg gegen die YPG hineinziehen lassen, solche Berechnungen werden angestellt. Das Hauptziel ist es die YPG als Kraft zu stürzen. Es ist offensichtlich, dass die einzige Partei, die keinen Nutzen aus solch einem Deal zieht die YPG sein würde." (Schmutziger Deal zwischen Moskau und Ankara)

"Russland hat uns betrogen. Aber ich will betonen: Mit der YPG-YPJ und den SDF wird eine neue Geschichte im Kmapf der Völker geschriben. Der Tag wird kommen, an dem sich Russland bei den Kurd*innen für diese Fehlen von Prinzipien entschuldigen wird"
Sipan Hemo, Kommandeur der YPG

Moskau lässt die Türken gewähren, weil es die bedrängten Kurd*innen dazu bringen will, sich in ihrer Not dem russischen Hauptverbündeten in Syrien anzunähern, dem Regime von Baschar al Assad. Das Moskauer Leitmotiv laute demnach: Schutz vor den Türken gibt es nur bei Assad.

Dem Angriff auf Afrin vorangegangen war auch ein Deal des Baath-Regimes mit der Türkei. Wie die russische Nachrichtenagentur Sputnik am Sonntag (21.1.) meldete, hat der türkeigestützte Al-Qaida Ableger Heyet Tahrir El-Sam (HTS) das strategisch wichtige Ebu-Zuhur-Flugfeld an die syrischen Regierungsstreitkräfte übergeben.

Für Mustafa Karasu, Mitglied des Exekutivkomitees der PKK, stellt die Öffnung des Luftraums durch Russland und das syrische Regime eine Feindseligkeit gegenüber der Bevölkerung von Afrin dar. "Russland und das syrische Regime organisierten ein Komplott gegen die Bevölkerung von Afrin. Noch vor kurzem sagte Russland, dass es einen Angriff auf Afrin nicht erlauben werde. Es gab russische Soldaten in Afrin. Dieses schmutzige Abkommen über die Menschen von Afrin wird in die Geschichte als eine der skandalösesten Beziehungen zwischen Staaten eingehen. Russland und das Regime werden für jede in Afrin getötete Person verantwortlich sein." (PKK’s Karasu: Invasion of Afrin will be a test for humanity)

Quelle: http://www.kommunisten.de/ueber-joomla/internationales/7078-afrin-wird-das-vietnam-der-tuerkei