Etwas später als
unsere klassische Literatur begann sich unsere
klassische Philosophie zu entwickeln. Ihr erster
Vertreter war Immanuel Kant (1724-1804), der als
der Sohn eines Sattlers in Königsberg geboren
wurde. Von seinem Leben ist wenig zu berichten; es
war ein einförmiges und eintöniges
Gelehrtendasein, das sich ganz innerhalb des
damaligen deutschen Spießbürgertums abspielte; über
das Weichbild seiner Vaterstadt ist Kant nie
hinausgekommen, bis auf einige Jahre, die er als
Hauslehrer auf ostpreußischen Gütern verlebte.
Kant war durchaus
eine unsoziale Natur, unsozial in dem Sinne, daß
ihm jede Form des Gemeinschaftslebens zuwider war
bis auf die Ehe und Familie. Politische und
nationale Interessen lagen ihm völlig fern; er
huldigte seinem angestammten Könige ebenso
untertänig wie der Zarin Elisabeth, nachdem
russische Truppen im Siebenjährigen Kriege
Königsberg besetzt hatten. Als er am Abend seines
Lebens noch von der preußischen Zensur behelligt
wurde, focht er diesen Konflikt keineswegs mannhaft
aus.
Ein Philister durch
und durch in seinem persönlidien Leben, war Kant
ein bedeutender Gelehrter, der die Geschichte der
Wissenschaften namentlich durch drei große
Leistungen bereichert hat. So hoffnungslos die
Versuche sind, ihn als einen „zeitlosen" Denker
hinzustellen, der heute noch nicht überwunden sei
und niemals überwunden werden könne, so töricht
wäre es, ihm für seine Zeit eine bahnbrechende
Bedeutung abzusprechen. Sein erstes unvergessenes
Verdienst erwarb er sich durch seine Allgemeine
Naturgeschichte, worin er die Verfassung und den
mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes
abzuhandeln unternahm. Er wies darin die
Entstehung der Sonne und aller Planeten aus einer
rotierenden Nebelmasse nach und gab damit einen
folgenreichen Anstoß.
Diese erste Schrift
Kants erschien bereits im Jahre 1755. Ein
Vierteljahrhundert später, im Jahre 1781,
veröffentlichte er seine „Kritik der reinen
Vernunft", durch die er eine befreiende Tat
vollbrachte. Er zertrümmerte die dogmatische
Philosophie, die an deutschen Universitäten
aufgewuchert war, zur Zeit, wo in den
westeuropäischen Kulturvölkern mit dem Aufkommen
der kapitalistischen Produktionsweise die
materialistische Weltanschauung neu erwacht war
und namentlich in Frankreich glänzende Schlachten
gegen den höfischen, feudalen und klerikalen
Despotismus schlug. Die dogmatische Philosophie
war nichts anderes als eine verkappte Theologie, ja
sie war noch gemeingefährlicher als die echte und
offene Theologie, die einfach verlangte, daß an
Gott und Unsterblichkeit geglaubt werden müsse,
ohne Prüfung des Verstandes, während die
dogmatische Philosophie durch angeblich
vernünftige Gründe beweisen wollte, was außerhalb
der menschlichen Erkenntnis liegt. Kant selbst
hatte in seinen jungen Jahren dieser Philosophie
gehuldigt, aber der englische Skeptizismus, eine
Philosophie, die überhaupt an der Erkennbarkeit der
Dinge zweifelte, erregte in ihm Bedenken, die ihn
dann dazu führten, die Grenzen des menschlichen
Erkenntnisvermögens zu prüfen.
Der Kern seiner neuen
Lehre bestand darin, daß die ganze
Erscheinungswelt, wie wir sie mit unseren Sinnen
und unserem Verstände auffassen, vollständig durch
die Einrichtung unserer Sinne und unseres
Verstandes bestimmt werde und daß wir daher das
wahre Wesen der Dinge (das „Ding an sich") nicht
erkennen könnten, daß aber unsere Erkenntnis
deshalb doch keineswegs wertlos und zweideutig,
sondern vielmehr durch unabänderliche Gesetze
geregelt, notwendig und von unserem Wesen
unzertrennlich sei. Diese empirische Erkenntnis
(Erkenntnis durch Erfahrung) ist die einzige Art,
wie wir von den Dingen überhaupt etwas erfahren,
wenn sie uns auch die Dinge nicht so zeigt, wie sie
sind, sondern wie der Mensch sie vermöge seiner
Organisation notwendig sehen muß. Die Philosophie,
die diese Schranken übersteigen will, gerät
notwendig in Irrtümer, so
namentlich, wenn sie beweisen will, daß unseren
Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit eine
außerhalb liegende Wirklichkeit entspricht.
Die Zertrümmerung der dogmatischen
Philosophie, die Kant auf diese Weise vollzog, war
ein großer historischer Fortschritt, aber seine
Erkenntnistheorie war an sich keineswegs neu. Ihr
Grundgedanke, daß wir die Dinge nicht erkennen, wie
sie sind, sondern wie sie unseren Sinnen
erscheinen, war lange vor Kant von anderen
Philosophen, ja schon von den Denkern des
griechischen Altertums ausgesprochen worden;
eigentümlich war nur die Nutzanwendung, die Kant
aus dem Gedanken zog, daß wir die Welt nicht
unmittelbar erkennen, sondern nur durch unsere
unvollkommenen Sinne. Er vernichtete dadurch den
Anspruch der dogmatischen Philosophie, auf
vernünftigem Wege das Dasein Gottes, der Freiheit
und der Unsterblichkeit zu beweisen, aber er tat es
aus einem Grunde, den er ganz offen mit den Worten
aussprach: Ich mußte das Wissen aufheben, um
zum Glauben Platz zu bekommen. Wenn er in
seiner „Kritik der reinen Vernunft" Gott, Freiheit
und Unsterblichkeit zur Vordertür hinausspedierte,
so spedierte er sie in seiner „Kritik der
praktischen Vernunft" zur Hintertür wieder hinein.
Er sagte nämlich: Wenn wir die „Dinge an sich" auch
nicht erkennen können, so müssen wir sie uns
denken können, und da bringt die praktische
Vernunft, die über der reinen Vernunft steht, Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit als notwendige
Forderungen hervor.
Soweit Kant mit
seinem „Ding an sich" nur einen Grenzbegriff
setzen, soweit er nur sagen wollte: Es gibt eine
Grenze der menschlichen Erkenntnis, der
menschliche Geist wird niemals alle Geheimnisse der
Natur erschließen, mag er noch so riesige
Fortschritte in der Erkenntnis der Natur machen,
so ist dagegen nichts einzuwenden. Das haben auch
viele andere Leute gesagt, zum Beispiel Goethe.
Soweit aber Kant mit seinem „Ding an sich" eine
allgemeine Begrenztheit alles menschlichen Wissens
behaupten wollte, um dem Glauben größeren Platz zu
verschaffen, hat seine Erkenntnistheorie nur
historische, aber nichts weniger als
allgemeingültige Bedeutung.
Kant schloß an seine
Forderung, daß Gott, Freiheit und Unsterblichkeit,
wenn nicht erkannt, so doch gedacht
werden könnten, seine Sittenlehre, seine Ethik an.
In ihr ist es ihm nach seinem eigenen Worte nicht
darum zu tun, Gründe anzugeben von dem, was
geschieht, sondern Gesetze von dem, was geschehen
solle, ob es gleich niemals geschehe. Diese Gesetze
erfindet Kant nun aus freier Faust, wenn auch
beeinflußt von der Halb-schlächtigkeit der
bürgerlichen Aufklärung, wie sie in Deutschland
herrschte.
Mit einem Fuße steht
Kants Ethik noch auf dem Boden der christlichen
Religion: Seine Lehre von dem radikal Bösen der
Menschennatur war weiter nichts als das
theologische Dogma von der dem Menschen
angeborenen Erbsünde, und ebenso war sein
kategorischer Imperativ, das heißt die unbedingte
Gültigkeit des Sittengesetzes, dessen Befehlen sich
niemand entziehen dürfe, den mosaischen Zehn
Geboten entlehnt, mit ihrer imperativen, das heißt
befehlenden Form: Du sollst. Kant meinte, eine
Handlung des Menschen habe erst dann echten
moralischen Wert, wenn sie lediglich aus Pflicht
und bloß um der Pflicht willen geschehe, ohne
irgendeine Neigung zu ihr. Der Wert eines
Charakters hebe erst dann an, wenn jemand ohne
Sympathie des Herzens, kalt und gleichgültig gegen
die Leiden anderer, und nicht eigentlich zum
Menschenfreunde geboren, doch bloß der leidigen
Pflicht wegen Wohltaten spende. So daß ein
Geizhals, der sich einen Pfennig Almosen für einen
Bettler abringt, tugendhaft handelt, nicht aber ein
Arbeiter, der dem Wohle seiner Klasse in
begeisterter Hingebung Gesundheit und Leben
opfert. Diese richtige Philisterschrulle ist denn
auch selbst von Kants Bewunderern Schiller und
Schopenhauer weidlich verspottet worden.
Mit dem anderen Fuße
steht Kants Ethik allerdings auf dem Boden der
Französischen Revolution, zu der er sich auch noch
nach ihrer Schrek-kenszeit bekannt hat, wenngleich
er auch hier nicht von dem Widerspruche frei ist,
grundsätzlich das Recht des Widerstandes gegen den
Despotismus zu verwerfen. Gerade der Satz, wegen
dessen Kant von seinen unbedingten Bewunderern als
„der wahre und wirkliche Urheber des deutschen
Sozialismus" gepriesen wird, gehört durchaus dem
Gedankenkreise der Französischen Revolution an.
Dieser Satz lautet: Handele so, daß du die
Menschheit sowohl in deiner Person als in der
Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck,
nie bloß als Mittel gebrauchst. Für den
historischen Blick ergibt sich dieser Satz Kants
sofort als der ideologische Ausdruck der
ökonomischen Tatsache, daß die Bourgeoisie, um ein
für ihre Zwecke taugliches Ausbeutungsobjekt zu
erlangen, die Arbeiterklasse nicht bloß als Mittel
gebrauchen, sondern auch als Zweck setzen, das
heißt sie im Namen der Menschenfreiheit und
Menschenwürde von den feudalen Fesseln der
Erbuntertänigkeit und Leibeigenschaft befreien
mußte. Anders hat es Kant auch gar nicht gemeint,
denn er forderte volle Freiheit und Selbständigkeit
nur für die Staatsbürger, aber nicht für die
Staatsgenossen, zu denen er die ganze
arbeitende Klasse rechnete, die Gesellen bei einem
Handwerker oder einem Kaufmann, die privaten
Dienstboten und Tagelöhner, auch alle
Frauenzimmer, und nicht zuletzt die Bauern, die
doch die bürgerliche Revolution befreien mußte und
auch befreit hat.
Kants Ethik war schon
bei ihrem Erscheinen mehr oder weniger historisch
überholt. Für die Gegenwart genügt es zu sagen, daß
ihre engen und kleinen Maßstäbe nicht entfernt an
die großen sittlichen Forderungen des
proletarischen Klassenkampfes heranreichen.
Dagegen hat sich Kant
noch ein großes Verdienst erworben durch seine
Begründung der modernen Ästhetik. Zwischen die
Erscheinungswelt, die den menschlichen Willen den
Gesetzen der Natur unterwirft, das Reich dessen,
was ist, und die moralische Welt, worin der freie
Wille des Menschen herrscht, das Reich dessen, was
sein soll, stellte er in seiner Kritik der
Urteilskraft als verbindendes Glied das Reich der
Kunst.
Hatte die bisherige
Ästhetik die Kunst auf die platte Nachahmung der
Natur verwiesen oder sie mit der Moral verquickt
oder sie als eine verhüllende Form der Philosophie
betrachtet, so wies sie Kant als ein eigenes und
ursprüngliches Vermögen der Menschheit nach, in
einem tief durchdachten, ebendeshalb auch
künstlich konstruierten, aber an freien und weiten
Ausblicken reichen System.
Quellen.
Eine historisch-kritische Darstellung des
preußischen Despotismus in seinem Zusammenhange mit
der klassischen Literatur bei Mehring: Die
Lessing-Legende, herausgegeben im Stuttgarter
Parteiverlage. Eine Darstellung der klassischen
Literatur und Philosophie vom
historisch-materialistischen Standpunkte fehlt
leider noch. Mehring: Schiller, im Leipziger
Parteiverlage. Aus Mangel an eingehenderer
Darstellung sei auch hingewiesen auf Mehring:
Johann Gottfried Herder, Neue Zeit 22, 321 ff.,
und „Immanuel Kant", ebenda 22,
553 ff. sowie „Kant und Marx", ebenda 22, 658 ff.
(Erinnerungsartikel zu den hundertsten Todestagen
Herders und Kants.) Eingehend kritisiert das
nationale und das soziale Königtum der
Hohen-zollern Maurenbrecher: Die
Hohenzollern-Legende, im Verlage des Vorwärts. Die
beiden Bände enthalten viel Material, namentlich
aus den Schriften der Schmoller-schen Schule, doch
handhabt der Verfasser die
historisch-materialistische Methode noch unsicher.
Editorischer Hinweis
Der Text wurde entnommen aus: Franz Mehring,
Gesammelte Werke, Band 5, Zur deutschen
Geschichte, Berlin, 1964, S. 70-78
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