Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Lauft langsamer!
Einige Ausführungen zum querfrontverdächtigen französischen Denker Jean-Claude Michéa

02/2017

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Ein Denker, der auf Fotos gerne mit einem T-Shirt oder einer Mütze mit der Aufschrift CCCP – der kyrillischen Abkürzung für die verblichene Sowjetunion entsprechend – trägt. Ein pensionierter Oberschullehrer für Philosophie, der oft und gerne Karl Marx, aber auch den Situationisten Guy Debord oder den radikalen Intellektuellen Jaime Semprun – den Gründer der gesellschaftskritischen Publikation L’encyclopédie des nuisances – zitiert. Dem aber auch der in philosophischen Dingen und Geisteswissenschaften bewanderte rechtsintellektuelle Meisterdenker Alain de Benoist in Le Monde vom 11. Januar 17 attestiert, er sei „in der intellektuellen Landschaft Frankreichs derjenige, dem ich mich am nächsten fühle“. De Benoist ist seit Jahrzehnten der geistige Kopf der Nouvelle Droite, der so bezeichneten intellektuellen Neuen Rechten, die allerdings so neu nicht mehr ist, denn die Bezeichnung tauchte in Frankreich vor bald vierzig Jahren auf.

Jean-Claude Michéa, um ihn handelt es sich, polarisiert. Die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde hatte ihm an jenem 11. Januar d.J. – dem Erscheinungstag seines jüngsten Buchtitels, Notre ennemi le capital (Unser Feind, das Kapital) - indirekt ihre Titelseite gewidmet: Diese trug die Überschrift „Untersuchung über das neue konservative Denken“ und verwies auf eine Doppelseite im Blattinneren, die mehrere Artikel enthielt; mehrfach ging es darin um Michéa In einem von ihnen wurde Alain de Benoist ausgegraben, den eine Journalistin eigens aufgesucht und interviewt hatte. Das Ergebnis kam beinahe einer unfreiwilligen Werbung gleich und stand unter dem suggestiven Titel „Die zweite Jugend des Alain de Benoist“. Es stimmt allerdings, dass dieser seit dem Kioskgang der maßgeblich von de Benoist geprägten Zeitschrift Eléments im Herbst 2015 und einer Konferenz des Rechtsintellektuellen an der Pariser Elitehochschule Scienco Po am 20. April 2016 wieder stärker aus der Versenkung aufgetaucht ist.

Michéa seinerseits kann zunächst erst einmal nichts für diese unfreiwillige Umarmung, denn Alain de Benoist und seine Umgebung sind dafür bekannt, dass sie vielerorts ideologische Andockmanöver unternehmen, auch dort, wo diese bei den Umworbenen ausgesprochen unerwünscht sind. Der pensionierte Philosophielehrer selbst bezieht sich lieber auf George Orwell, den britischen Antistalinisten, als auf rechte Ideologen. Dennoch kann er sich vor Umarmungen auch von letztgenannter Seite wirklich kaum retten, und das geht nicht nur auf Alain de Benoists expansive Zitierpolitik und seine regelmäßigen Umgarnungsversuche zurück.

Am Mittwoch, den 08. Februar 17 etwa taucht Jean-Claude Michéa – mit Sowjet-T-Shirt - im Aufmacher der täglichen Newsletter der nationalistisch-monarchistischen Webseite Lafautearousseau auf, die zur traditionsreichen rechten Organisation Action française zählt. Letztere beklagt sich dort über „diese französische Rechte, die weder (Antonio) Gramsci noch Michéa zu lesen verstand“. Gegenstand ihrer Kritik ist, dass die Mainstream-Konservativen sich vorwiegend für wirtschaftspolitische Fragen interessiert hätten, doch das intellektuelle Terrain, die Universitäten, die Kulturwelt sträflich den Linken überließen. Eine bereits uralte Debatte, auf die just Alain de Benoist bereits in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren antwortete, indem er einen „Gramscismus von rechts“ ausrief in dem erklärten Ziel, eine „kulturelle Hegemonie von rechts“ wiederherzustellen, also eine intellektuellen Vorherrschaft durch Besetzen von Begriffen und Konzepten.

Nun, fällt Jean-Claude Michéa unter diese geistige Hegemonie? Oder ist er als rechts einzustufen - im weiteren Sinne, also unter Einschluss von konservativen bis reaktionären Strömungen und nicht allein faschistischen Tendenzen? Er selbst würde dies ablehnen. Auch sein Umfeld kann mit dieser Zuordnung nichts anfangen. Am 15. Januar 17 antwortete die Zeitschrift Comptoir, die den in Montpellier ansässigen Denker und Schriftsteller Michéa ausführlich interviewte – dessen letzte Buchveröffentlichung vom 11. Januar dieses Jahres weitgehend auf seinen Dialogen mit ebendieser Zeitschrift beruhte – auf das vier Tage zuvor erschienene Dossier in Le Monde. Ihr zufolge ist die Zuordnung unter die Bezeichnung „konservativ“ als grotesk einzustufen: „Sozialistisch, wachstumskritisch (im Original: décroissant), aber nicht konservativ!“

Nirgendwo, fährt die Zeitschrift fort, verwende Michéa dieses Adjektiv, um es auf sich selbst zu beziehen. Vielmehr habe der Philosoph von 1969 bis 1976 der Französischen kommunistischen Partei angehört – wie seine Eltern, die sich im kommunistischen Teil der Résistance unter der nazideutschen Besatzung kennenlernten. Und danach sei er unter dem Einfluss antiautoritärer Intellektueller wie Guy Debord oder Cornelius Castoriadis aus ihr ausgetreten. Zugegeben, auch sich selbst als konservativ einstufende Zeitgenossinnen hätten sich positiv auf Michéa bezogen und sie für ihre Ideenwelt einzugemeinden versucht. Dies treffe auf die in London tätige Historikerin Laetitia Strauch-Bonart, eine frühere Schülerin Michéas – ihr Artikel erschien ebenfalls in der zitierten Ausgabe von Le Monde -, und zuvor schon auf Chantal Delsol zu.

Delsol, die an der Universität von Marne-la-Vallée bei Paris unterrichtete und in der Vergangenheit unter anderem auch Lehrtätigkeiten im Rahmen der Offiziersausbildung beim Verteidigungsministerium übernahm, schreibt unter anderem für die konservative Tageszeitung Le Figaro und das zwischen Konservativen und Rechtsextremen stehende Wochenmagazin Valeurs actuelles. Sie ist die Gattin von Charles Million, der seit 1988 Regionalpräsident in Lyon war und bei seiner Wiederwahl 1998 aktiv eine Brücke zwischen den französischen Konservativen und dem Front National zu bauen versuchte. Letztere hatte ihn im März 1998 mit ins Amt (zurück) gewählt; im Januar 1999 wurde er jedoch durch ein Bündnis aus „Dissidenten“ der bürgerlichen Rechten mit Sozialdemokraten gestürzt und vorzeitig abgelöst.

Warum aber scheint das Denken von Michéa für solche Andockversuche offen? Die Antwort fällt relativ leicht: Er verwirft – im Namen der Idee einer ökologischen Begrenzung des aktuellen Ressourcenverbrauchs - die Idee von „Fortschritt“ als solche. Zwar ließe sich einwenden, der Begriff von Fortschritt bedeute ja nicht notwendig nur technologischen Fortschritt, eine Zunahme von Konsumgütern oder gar von Umweltzerstörung, sondern unter Umständen auch gesellschaftlichen Fortschritt. Und Letzterer könne just die Verringerung der Zerstörung des Planeten mit beinhalten. Michéa positioniert sich jedoch anders, benutzt den Fortschrittsbegriff prinzipiell negativ. Gleichzeitig bezieht er sich unter anderem auf die Vorstellungen der décroissance-Bewegung, also der Wachstumsgegner und Anhängerinnen eines Minuswachstums, wie etwa Serge Latouche. Ihn betreffend wurde bereits an anderer Stelle aufgezeigt, wie vereinfachend und vor allem nach rechts hin anschlussfähig sein Denken ausfällt (vgl. dazu: http://jungle-world.com/artikel/2016/06/53460.html ).

Jean-Claude Michéa bringt seine Konzeption diesbezüglich in folgender Formulierung auf den Punkt: Die Parole laute nicht mehr „Lauf, Genosse, die alte Welt ist hinter Dir her!“ – wie ein bekannter Slogan des Pariser Mai 1968 lautete -, sondern vielmehr: „Lauf weniger schnell, Genosse, die neue Welt – jene der Klimaerwärmung, von Goldman Sachs und Silicon Valley – liegt vor Dir!“

Das Hauptanliegen Michéas, in seinem neuesten Buch ebenso wie bereits zuvor in La Double pensée („Das doppelte Denken“, erschienen 2008), liegt in einer grundsätzlichen Verwerfung des Liberalismus. Ausdrücklich bezieht Michéa sich dabei nicht allein auf den Wirtschaftsliberalismus, sondern bezieht beide möglichen Wortbedeutungen von „liberal“ – also gesellschaftlich liberal, im Unterschied zu konservativ oder traditionalistisch, ebenso wie wirtschaftsliberal – in seine Ablehnung explizit mit ein. Dabei hätte das Französische ihm behilflich sein können, denn wie auch in mehreren anderen romanischen Sprachen werden beide Bedeutungen des deutschen „Liberalismus“begriffs scharf unterschieden.

Anders als im Englischen wird der Begriff libéral hier in der Regel ausdrücklich nur für den wirtschaftsliberalen Sozialdarwinismus im ökonomischen Bereich bezogen – auch die Pinochet-Diktatur in Chile wird in diesem Sinne als „liberal“ (libérale) bezeichnet. Bezogen auf tolerante, weltoffene, Veränderungen akzeptierende Konzeptionen des gesellschaftliche Zusammenlebens spricht man dagegen im Französischen eher von libertaire; ein Begriff, der wiederum etwa in Nordamerika einen gänzlich anderen Bedeutungsgehalt hat, wo wiederum das englische Wort liberal beinahe so viel wie „links“ bezeichnet. Von beiden Sprachen her – auch wenn die Pole anders gelegt sind – hätte Michéa auch das intellektuelle Rüstzeug haben können, um eine Unterscheidung zwischen dem zu treffen, was er selbst als „Kultur- und Wirtschaftsliberalismus“ bezeichnet.

Nur will er sie gar nicht trennen, sondern bezieht ausdrücklich beide in seine Ablehnung mit ein. Denn das Eine lässt sich in seinen Augen nun einmal nicht vom Anderen auseinander dividieren. Das im französischen Sinne „libertäre“ Agieren etwa der No Border-Bewegung oder Initiativen für Homosexuellenrechte ist in seinem Sinne nicht zu trennen von der Durchdringung der Gesellschaft mit Kapitalinteressen, da es dazu beitrage, dieselbe zu atomisieren. Michéa lässt sich auch negativ über „die liberale Phobie gegen Identität“ und die „Faszination für Minderheiten“ aus.

Andere vor ihm stellten schon vor Jahren Theorien auf, die den Liberalisierungsschub infolge der 68er Bewegung mit der Vorstellung einer fortschreitenden Atomisierung des Sozialgefüges sowie triumphierender Kapitalinteressen in Verbindung brachten. Michel Houellebecq tat es in Romanform, der aus dem Umfeld der Französischen KP kommende Michel Clouscard (1928 bis 2009) fasste es in seinen Büchern Néofascisme et idéologie du désir von 1973 sowie Le capitalisme du désir (1981) als Erster in Thesenform. Clouscards Ideen, die den 1968er Einschnitt als überwiegend negativ verwerfen, wurden ihrerseits zum Gegenstand intensiver Vereinnahmung von rechts. Heute sind es vor allem der – ehemals linke – Berufsantisemit Alain Soral oder die nationalrevolutionäre Zeitschrift Rebellion, die Clouscard häufig zitieren.

In nicht-reaktionärer Absicht, sondern mit dem Anliegen verbunden, die Kapitalismuskritik auf die Höhe der Zeit zu bringen, analysierten auch Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem Wälzer Le nouvel esprit du capitalisme („Der neue Geist des Kapitalismus“, 1999), wie Letzterer in der Lage gewesen, kulturelle Fortschritte nach 1968 zu vereinnahmen. Beide stellten dar, wie es ihm gelungen sei, die von ihnen so bezeichnete – und eher auf individuelle Emanzipation ausgerichtete – „künstlerische Kritik“ an der alten Ordnung von der „sozialen Kritik“ abzutrennen. Boltanski und Chiapello wollten aber nicht eine von beiden verwerfen, sondern beide wieder zusammenbringen. (Vgl. http://jungle-world.com/artikel/2000/20/27798.html ) Vor allem jedoch zählt Luc Boltanski heute zu den schärfsten Kritikern der gefährlichen Vereinfachungen, die zum vermeintlich selben Thema bei Michéa anzutreffen sind. Er attestierte ihm bereits im Oktober 2011 in Le Monde, seine Philosophie laufe im Kern darauf hinaus, zu sagen: „Früher war alles besser.“

Manchmal löst auch Michéa die Gleichung, die er aufstellt, noch in progressiver Form auf. In einer Passage bezieht er sich etwa positiv auf den Film Pride des Briten Matthew Warchus, welcher im Jahr 2014 zeigte, wie Schwulen und Lesben einen Kampf der Arbeiterbewegung – den englischen Kohlestreik von 1984/85 unter Margaret Thatcher – aktiv unterstützen. Michéa erblickt hier eine positive Vision davon, wie das Auseinanderdividieren überwunden werden könne.

Allerdings argumentiert er ansonsten weitaus weniger dezidiert progressiv, sondern er will die neue Hauptwiderspruchslinie erklärtermaßen auf eine einfache Formel bringen, die vermeintlich alle Probleme löst: „Wir da unten gegen die da oben!“ Und einen Konsens derer da unten meint er, unter Bezug auf ein bei George Orwell verwendetes Konzept stiften zu können – das der common decency, das ungefähr das spontane Bewusstsein der einfachen Leute bezeichnet, dass etwas mächtig falsch läuft. Neben den Vordenkern der „Wachstumskritik“ bezieht er sich dabei auf die spanische „Empörten“-Bewegung und die später aus ihr hervorgegangene Partei PODEMOS : Diese hätten in ihren Anfängen erkannt, dass es nicht links oder rechts zu sein, sondern im kollektiven Beratungsprozess spontan auf das Richtige zu kommen gelte.

Das dürfte der Komplexität der in widerstreitende innerparteiliche Strömungen zerklüfteten und ins parlamentarische Geschäft verwickelten PODEMOS kaum gerecht werden, bringt jedoch Michéas eigene Sichtweise gut auf den Punkt. Der Philosoph und Wertkritiker Anselm Jappe bringt sie, wiederum in einem Gastbeitrag bei der Abendzeitung Le Monde, auf den Punkt, es handele sich um einen populisme transversal – ungefähr: einen quer stehenden (oder Querfront)populismus -, der ansonsten etwa in der italienischen „Fünf-Sterne-Bewegung“ einen Ausdruck gefunden habe.

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.