Editorial
100 Jahre und wie weiter?

von Karl Mueller

02/2017

trend
onlinezeitung

Positive und negative historische Erfahrungen sind für alle Kommunisten von Nutzen, wenn sie auf korrekte Art und Weise gewonnen werden, den historischen Tatsachen entsprechen und in keiner Weise verdreht werden.

Die Polemik über die Generallinie
der internationalen kommunistischen Bewegung, S.138

In der letzten Ausgabe veröffentlichten wir eine Glosse "Volkskrieg vs. Generalstreik in Neukölln", die ein nächtliches verbales und angeblich auch nonverbales Kräftemessen zwischen jungen Leuten aus dem trotzkistischen RIO- und dem maoistischen Jugendwiderstand-Spektrum kabarettistisch ausgewertet hatte. Parallel dazu gaben RIO und Jugendwiderstand ihre sich selbstverständlich widersprechenden Aussagen zum Vorgang der geneigten linken Öffentlichkeit zur Kenntnis. Jetzt hätte es eigentlich "Ende Gelände" heißen können. Doch weit gefehlt die RIO-Trotzkist*innen iniitierten erst einmal eine Soli-Kampagne für sich. Und zu allem Überfluss versuchten sie außerdem noch, das juvenile nächtliche Treiben  ideologisch auszuschlachten, indem sie eine sechsteilige Artikelserie mit dem Titel "Wer waren die K-Gruppen? Kleine Geschichte des deutschen Maoismus" herausbrachten. 

Es wäre nicht wert, an diese Artikelserie, deren Erkenntniswert dank Immunität des Autors Wladek Flakin gegen jegliches Quellenstudium und durch sein reines Wiederkäuen unseriöser Sekundärliteratur gleich Null ist, eine Zeile zu verschwenden,  wenn nicht im 6. Teil, Michael Prütz, Hans Dampf in allen trotzkistischen Gassen, in den Geschichtszeugenstand berufen worden wäre.

Ihm fiel die Aufgabe zu, mittels Geschichtsklitterung plausibel zu machen, dass das nächtliche Gerangel mit dem Jugendwiderstand kein Zufall gewesen sein konnte. Seine Erinnerungen von 1975 sollen nämlich nahelegen zu glauben, dass Gewalt gegen Linke - über Zeit und Raum immergleich - ein signifikantes Merkmal maoistischer Politik ist.

Als die GIM, deren Mitglied damals Prütz war, am 6.11.1975 eine Veranstaltung an der TU Berlin durchführen wollte, passierte laut Prütz  angeblich folgendes:

"Schon Tage vorher verfielen die Mao-Parteien, allen voran die KPD(vormals AO) und die KPD-ML in kollektive Raserei. Überall kursierten Flugblätter mit dem Aufruf, diese Veranstaltung zu zerschlagen. Wir waren gewarnt und hatten uns passiv mit Motorradhelmen ausgestattet. 150 mit Eisenstangen und Pflastersteinen bewaffnete Mitglieder der KPD und der KPD-ML droschen auf alles ein, dessen sie habhaft werden konnten. Vier Schwerverletzte und dutzende Leichtverletzte waren die schlimme Bilanz. 1975 gab es natürlich kein Handy oder Internet. Trotzdem sprach sich der Angriff in Windeseile in den Charlottenburger Kneipen (damals die Hochburg der Linken) herum. Innerhalb einer Stunde eilten uns 800 Genoss*innen zur Hilfe. Anarchist*innen, Autonome, Linkssozialist*innen."

Übrigens - anders als Prütz in seinem Erlebnisbericht zitiert, lautete der GIM-Veranstaltungstitel, wodurch die vermeindliche "Raserei" verständlich wird: "Gegen die konterrevolutionäre Rolle der chinesischen Außenpolitik und die Rechtsentwicklung der KPD und KPD/ML."

Zuvor hatte Prützens GIM über ihr Theorieorgan "Die Internationale Nr.7" im August 1975 mit dem Aufsatz von Peter Cardorff und Fred Sommer - Die neuen Vaterlandsverteidiger der KPD(RF und der KPD/ML - die politisch-ideologischer Munition für die Veranstaltung geliefert: "Die Politik die die KPD(RF) und die KPD/ML betreiben, ist offen konterrevolutionär." (ebda. S.127) 

Und so verlief dieser Eklat aus der Sicht des KSV, der Studentenorganisation der maoistischen KPD:

"Seit dem 6.11. findet vor allem in Westberlin, aber auch in verschiedenen Städten der BRD eine von der trotzkisttschen Organisation "GIM" geführte Hetzpropaganda gegen die Marxisten-Leninisten der KPD, des KSV und des KSB/ML, dem Studentenverband der KPD/ML statt. An diesem Tag führte die GIM an der TU Westberlin eine Hetzveranstaltung gegen das sozialistische China unter dem Thema: "Gegen die konterrevolutionäre Außenpolitik der VR China - zur Rechtsentwicklung von KPD und KPD/ML" durch.

Schon Tage vor der Veranstaltung waren sich die GlM-Trotzisten über das provokatorische Ziel ihrer Veranstaltung und auch darüber im klaren, daß ihre Provokation auf den erbittersten Widerstand aller wirklich aufrechten Demokraten, Antiimperialisten und Kommunisten stoßen wird.

Behelmt und mit verschiedenen Schlagwaffen aufgerüstet, zog eine 80-Mann starke Schlägerbande der GIM vor dem Versammlungsraum auf. Ziel unseres Verbandes war es, von vornherein durch Entfaltung des ideologischen Kampfes gegen die konterrevolutionäre Ideologie des Trotzkismus, durch Organisierung einer Gegenkundgebung die anwesenden Studenten für die Verhinderung der Hetzveranstaltung gegen die VR China zu gewinnen. Im Verlauf dieser Kundgebung kam es zu schweren von den Trotzkisten provozierten Auseinandersetzungen, bei denen mehrere Genossen schwer verletzt wurden.

Die trotzkistischen GIM-Führer haben die Ereignisse in der TU Westberlin zu einer bundesweiten Hetzkampagne gegen die Marxisten-Leninisten und besonders gegen KPD und KSV benutzt, mit der der Versuch unternommen wurde, den KSV politisch zu isolieren und zu zerschlagen." (Dem Volke Dienen, Zentralorgan des KSV, Köln vom 15.12.1975)

Für die westdeutsche und westberliner revolutionäre Linke waren diese Ereignisse kein Ruhmesblatt.

Anstatt zu versuchen, die Einheit praktisch auf der Grundlage der real stattfindenden Klassenkämpfe herzustellen (siehe in dieser Ausgabe: Streiks und Massenaktionen gegen Entlassungen, Stillegungen und Betriebsschließungen vom Mai 1975 bis September 1977), atomisierten sich die 1970er K-Gruppen durch ideologische Gespenstergefechte in den Kostümen der jeweiligen Traditionslinien.

Von daher erscheint rückblickend die Geschichte der K-Gruppen gleichsam als Tragödie. Allerdings mit diesen Kostümierungen heute weiterzumachen und dann noch solche Geschichten von früher aufzutischen - das gehört dagegen in die Rubrik: Farce.

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Nicht nur für die Old-School-Linke, sondern auch  für das neu entstehende Spektrum, das klassenbezogen die Organisationsfrage und damit auch die Revolutionsfrage diskutiert (siehe dazu die LLL-Aufrufe in der letzten Ausgabe) , steht im laufenden Jahr die Oktoberrevolution im Zentrum ihrer Erinnerungsarbeit.  Leider droht angesichts solcher theoretischer Ödnis, die wie die oben besprochene recht verbreitet ist, dass sich die Erinnerungsarbeit "100 Jahre Oktoberrevolution" zu einer Nostalgieveranstaltung verkürzt, damit nicht über das Resultat geredet werden muss.

Wir werden von daher ab dieser Ausgabe Texte zur Oktoberrevolution veröffentlichen, wodurch diese als erster Kulminationspunkt im Prozess der globalen Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise untersucht werden kann. Schließlich geht es nach 100 Jahren Niederlagen für bewußte Aufhebungsversuche darum, aus der Geschichte mit der Perspektive "nach vorn" zu lernen. Und -  wie es die chinesischen Genossi*nnen am Beispiel der "Stalinfrage" formulieren: Positive und negative historische Erfahrungen auf korrekte Art und Weise zu gewinnen.

Korrekt kann im marxistischen Sinne nur bedeuten, den gesellschaftlichen Prozess, den es zu untersuchen gilt, als Prozess in einer gesellschaftlichen Totalität zu begreifen, die ihrerseits die materiellen Verhältnisse als in "letzter Instanz" bestimmende Basis einschließt.

Andererseits gilt es zu beachten, sich nicht in der Empirie der Verhältnisse und ihrer Erscheinungen zu verlieren. Wir haben daher als Label der Veröffentlichungreihe "100 Jahre Oktoberrevolution" ein Polit-Plakat von El Lissitzky aus dem Jahre 1920 genommen, weil es in unvergleichlich trefflicher Weise das Wesentliche der Oktoberrevolution, die Konterrevolution durch den "roten Keil" (die bolschewistische Partei) zu zerschlagen, zum Ausdruck bringt.


El  Lissitzky: Schlagt die Weißen mit dem roten Keil

Hier wird die Partei nur in abstrakter Form dargestellt, die die Aufgabe hat "Keil" zu sein, sprich als Instrument der Klasse für deren emanzipatorischen Ziele zu wirken. Die Formalisierung verstellt einer schematischer Übertragung historischer Erfahrungen den Weg, denn die Partei als Instrument der Klasse, muss von dieser in jeder historischen Etappe, geschuldet den  konkreten Bedingungen, geschaffen werden. Eine naturalistische Darstellung hingegen liefe Gefahr, als erstes die Gefühle anzusprechen und damit den Weg zu einer nolstagischen Behandlung der Partei- und Revolutionsfrage zu eröffnen.

Von daher kamen für uns Bilder, die Proleten mit schwieligen Fäusten oder mit strahlenden Bäuer*innengesichtern und entschlossen dreinblickenden Rotarmisten zeigen - also das, was gemeinhin als sozialistischer Realismus in sowjetischer Lesart daherkommt - nicht infrage.

Schlussendlich möchten wir noch darauf zu verweisen, dass wir in der Reihe "100 Jahre Oktoberrevolution" nicht zwischen von uns redigierten Texten und solchen formal trennen werden, die aus der aktuellen Debatte linker Organisationen stammend uns zur Veröffentlichung gegeben wurden.

Dazu gehört in dieser Ausgabe: Max Brym: Revolution ist machbar, Herr Nachbar.

Und ab jetzt gilt!
Call for Papers: 100 Jahre Oktoberrevolution