Betrieb & Gewerkschaft
Lernen im Kampf
Zum Hintergrund der Streiks an Berliner Schulen

von Christoph Wälz, Mitglied der GEW Berlin

02/2016

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Über 400 angestellte Lehrkräfte haben mit einem Warnstreik am 26.01.2016 einen Startschuss fallen lassen. Die GEW Berlin zieht erneut in eine Auseinandersetzung mit dem Berliner Senat. In den kommenden Wochen und Monaten ist mit mehreren tausend streikenden Lehrkräften zu rechnen. Um was geht es eigentlich bei diesem inzwischen schon langjährigen Konflikt?

Bundesweit gibt es an den öffentlichen Schulen etwa 200.000 angestellte Lehrkräfte. In Berlin werden seit 2003 Neueinstellungen von Lehrkräften nur noch im Angestelltenverhältnis vorgenommen. Mit jeder Einstellungsrunde wird deshalb der Anteil der Beamt*innen geringer (diese gehen in den Ruhestand) und der Anteil der Angestellten wird höher. Inzwischen arbeiten etwa die Hälfte der 30.000 Berliner Lehrkräfte als Arbeitnehmer*innen.

Grundsätzlich besteht der Unterschied zwischen den beiden Statusgruppen darin, dass Beamte besser bezahlt werden – dafür aber keine Möglichkeit haben, ihre Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Angestellte werden schlechter bezahlt – können ihre Arbeitsbedingungen dafür aber kollektiv mitgestalten: mit Tarifforderungen – Tarifverhandlungen – Streiks – Tarifvertrag. Dies gilt bei angestellten Lehrkräften bisher jedoch nicht. Für sie gelten die Nachteile beider Statusgruppen: Das niedrigere Entgelt zahlen die Bundesländer gerne. Die Höhe des Gehalts (also die Eingruppierung) in Tarifverhandlungen festzulegen, sind sie jedoch nicht bereit. (Vgl.: Fair Pay! Flugblatt der Tarifkommission der angestellten Lehrkräfte in der GEW Berlin, 2012)

Zu attraktiv ist es für die öffentlichen Arbeitgeber, durch die einseitige Festlegung der Bezahlung ihre Sparpolitik durchzuziehen. Deshalb hat sich die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) in den bundesweiten Verhandlungsrunden zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) bei diesem Thema wiederholt stur gestellt. 2006, 2009, 2011, 2013, 2015 – immer das gleiche Spiel.

Die Arbeitgeber diktieren also in Form von Richtlinien die Eingruppierung in die Entgelttabelle des TV-L und haben damit freie Hand:

  • Angestellte werden gegenüber Beamt*innen deutlich schlechter gestellt. In Berlin ergibt sich so – bezogen auf ein ganzes Berufsleben – eine Differenz im Nettoeinkommen zwischen 8 und 12 Prozent; eine Differenz, die sich in 40 Jahren auf deutlich mehr als 100.000 Euro summieren kann. (Vgl. Berechnungen der Gruppe „Bildet Berlin!“, 2016)
  • Kolleg*innen an Grundschulen werden erheblich schlechter bezahlt als an Oberschulen, obwohl sie gleichwertige Arbeit leisten. Die Differenz zwischen den Entgeltgruppen 11 und 13 beträgt in Berlin derzeit 547 Euro brutto (Erfahrungsstufe 5). Diese Unterbewertung eines Bereichs, in dem vor allem Frauen arbeiten, trägt ihren Anteil zum „gender pay gap“ bei – der schlechteren Bezahlung von Frauen um durchschnittlich 22%. (Vgl. Statistisches Bundesamt, 2015)
  • Lehrkräfte ohne volle Ausbildung werden je nach Qualifikation sehr unterschiedlich eingruppiert (in Berlin bisher zwischen E6 und E13). Oftmals bestehen Unterschiede zum Gehalt der voll ausgebildeten Lehrkräfte von 1000 Euro netto im Monat. Mit diesen Kolleg*innen, die fast ausschließlich befristete Verträge erhalten, hat prekäre Beschäftigung an öffentlichen Schulen Einzug gehalten. (Vgl. In der Befristungsfalle, 2013)

Wegen all dieser Probleme fordert die GEW seit Jahren eine Lehrkräfte-Entgeltordnung (L-EGO), um die Eingruppierung tarifvertraglich zu regeln und damit auch die Probleme zu beheben.

Die GEW Berlin hat aus dem Scheitern der bundesweiten L-EGO-Verhandlungen im März 2013 die Schlussfolgerung gezogen, auf Landesebene eine Entgeltordnung einzufordern. Der Berliner Senat klagte dagegen vor dem Arbeitsgericht und erhielt in allen Punkten eine Schlappe. Denn das Gericht stellte fest, dass die GEW im Rahmen der Tarifautonomie für ihre (tariffähigen!) Ziele streiken darf. Außerdem könne der Berliner Senat die Verantwortung für Verhandlungen nicht auf die TdL abschieben. Die GEW Berlin sei berechtigt, Tarifverhandlungen auf Landesebene durch Streikmaßnahmen zu erzwingen. (Vgl. ArbG Berlin, Az. 59 Ga 5770/13)

Genau das versuchte die Gewerkschaft daraufhin zu tun. Zwischen Dezember 2012 und Dezember 2013 wurden Beschäftigte an insgesamt 17 Tagen zum Streik aufgerufen. Immer wieder streikten 2000, in einem Fall sogar 3000 Lehrkräfte. Letztlich kam es dadurch zu Gesprächen auf Bundesebene (04/2014 – 01/2015), in denen wiederum versucht wurde eine bundesweite L-EGO anzubahnen. Der Berliner Landesverband wurde dabei innerhalb der GEW überstimmt. Die Berliner*innen befürchteten zu Recht, dass diese Gespräche von Seiten der TdL genutzt werden würden, um die Gewerkschaft hinzuhalten. (Vgl. Beschluss der GEW Berlin, 06/2014)

So geschah es. In den Tarifverhandlungen zum TV-L im Frühjahr 2015 zeigte sich erneut, dass die TdL kein Interesse an einer bundesweiten L-EGO hat. Das „Angebot“ der TdL war nicht annehmbar.

Warum hat sich die GEW bundesweit als nicht durchsetzungsfähig erwiesen? Um diese Frage offen und selbstkritisch zu klären, müsste eigentlich eine bundesweite tarifpolitische Konferenz der angestellten Lehrkräfte organisiert werden – wie von der GEW Berlin seit Juni 2014 eingefordert. Bisher wurde nicht zu so einer Konferenz eingeladen. Wir müssen also zunächst Vermutungen anstellen:
Die Situation ist in den jeweiligen Bundesländern sehr unterschiedlich. Sowohl der Anteil der Angestellten in den Kollegien als auch die landesübliche Eingruppierung variieren deutlich. Das erschwert einen gemeinsamen bundesweiten Kampf. Aber wenn dies zum Vorwand wird, selbst untätig bleiben zu können, dann verschlimmert sich die Situation noch viel mehr. Nach dem Scheitern der L-EGO-Verhandlungen 2013 hat eine ganze Reihe von GEW-Landesverbänden ihre jeweiligen Landesregierungen zu Tarifverhandlungen aufgefordert. Aber nur in Berlin wurde auch die Konsequenz daraus gezogen, einen Arbeitskampf zu führen.
Gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit muss langfristig aufgebaut werden. Dem müssen jedoch die Bereitschaft zum Konflikt und der Wille zum Aufbau zugrunde liegen. Ansonsten macht man sich lächerlich.

Das Verhandlungsergebnis zum TV-L vom März 2015 ist für die GEW Berlin ein zweischneidiges Schwert. Einerseits hat die GEW im Bund das„Angebot“ der TdL zurückgewiesen. Sie hätte ansonsten

  • Verschlechterungen bei der Eingruppierung für verschiedene Gruppen von Berliner Lehrkräften,
  • eine grundsätzliche Verschlechterung der Rechtsstellung angestellter Lehrkräfte
  • und eine Friedenspflicht bis Ende 2018

akzeptiert. Das wäre eine Katastrophe für die angestellten Lehrkräfte Berlins und die GEW gewesen. Es besteht somit keine Friedenspflicht und die GEW Berlin kann weiterkämpfen.

Allerdings wurde die Vorlage der TdL vom „dbb beamtenbund und tarifunion“ unterschrieben. Der dbb, der zwar einige Mitglieder unter verbeamteten Lehrkräften hat, bei angestellten Lehrkräften aber eine Splittergruppe ist, hatte die Verhandlungen um eine bundesweite L-EGO bisher in einer Tarifgemeinschaft mit ver.di und GEW geführt. Aus dieser scherte er nun aus und unterzeichnete auf eigene Faust den „Tarifvertrag über die Eingruppierung und die Entgeltordnung für die Lehrkräfte der Länder“ (TV EntgO-L).

Die Verhandlungen zum TV-L wurden dennoch gemeinsam abgeschlossen. Unter anderem wurde hier eine leichte Erhöhung der Entgelttabelle ausgehandelt. Wie Lehrkräfte aber in Zukunft in diese Entgelttabelle einzugruppieren sind, wurde vom dbb im parallel abgeschlossenen TV EntgO-L vereinbart. Und dort besteht jetzt Tarifpluralität, denn die GEW hat diesen Tarifvertrag ja bewusst abgelehnt. Nach dem Tarifvertragsgesetz gilt ein Tarifvertrag unmittelbar nur für die Mitglieder der vertragschließenden Gewerkschaften, so dass dbb-Mitglieder unter den angestellten Lehrkräften von nun an nach dem TV EntgO-L zu bezahlen wären, GEW-Mitglieder hingegen nach den bisher üblichen, vom Arbeitgeber diktierten Lehrer-Richtlinien (mit der Option, für einen eigenen Tarifvertrag zu streiken).

Nun hat aber der Berliner Senat den dbb-Tarifvertrag dankbar aufgegriffen und erklärt, die Lehrer-Richtlinien ab August 2015 durch den TV EntgO-L zu ersetzen. Damit will er zum einen Verschlechterungen durchsetzen und zum anderen die Bemühungen der GEW um eine eigenständige L-EGO auf Landesebene ins Leere laufen lassen. Das Vorgehen des Senats ist eine offensichtliche Verletzung der grundgesetzlich garantierten Koalitionsfreiheit der GEW-Mitglieder; versucht er doch, einen Tarifvertrag, den die GEW ablehnt, auf alle angestellten Lehrkräfte anzuwenden. Zu Recht haben der Hauptpersonalrat und die GEW verschiedene Klagen dagegen eingereicht.

Nun sollte das Tarifeinheitsgesetz, das der Bundestag im Sommer 2015 beschlossen hat,
ja Tarifpluralität, also kollidierende Tarifverträge, verhindern. Erleben wir hier gerade eine erste Anwendung dieses Gesetzes, das die GEW als Angriff auf das Streikrecht abgelehnt hat? (Vgl. Beschluss der GEW Berlin,  11/2014) Nein. Denn nach dem Tarifeinheitsgesetz müsste bei kollidierenden Tarifverträgen in einem Betrieb die höhere Mitgliederzahl entscheiden – und es steht außer Frage, dass die GEW unter den angestellten Lehrkräften die mit Abstand stärkste Gewerkschaft ist. Der Berliner Senat praktiziert quasi eine umgekehrte Version des Tarifeinheitsgesetzes: Der Wille der großen Mehrheit soll durch den Tarifvertrag einer kleinen Minderheit verdrängt werden.

Das Berliner Arbeitsgericht hat dieses Vorgehen jetzt bestätigt (Az. 21 Ca 11278/15):

„Die Koalitionsfreiheit der GEW berechtigte sie nicht, die Anwendung des Tarifvertrags einer anderen Gewerkschaft auf Arbeitnehmer zu verhindern, die ihr – der GEW – nicht angehörten. Ferner sei das Ziel, weiterhin die Anwendung der Lehrerrichtlinien zu erreichen, nicht durch die Koalitionsfreiheit geschützt; denn bei diesen Richtlinien handele es sich nicht um tarifvertragliche Vorschriften.“

Diese Urteilsbegründung ist sehr fragwürdig, da ja sehr wohl auch GEW-Mitglieder von der Anwendung des TV EntgO-L betroffen sind. Außerdem scheint das Arbeitsgericht zu meinen, dass das Fehlen einer tarifvertraglichen Regelung es möglich machen soll, sämtliche Beschäftigte einem beliebigen Vertrag zu unterwerfen, unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und deren Willen. Die Folgen dieses Urteils sind derzeit schwer abzuschätzen. Die Gewerkschaft tut gut daran, weiter für den Arbeitskampf zu mobilisieren.

Der Senat hat in den vergangenen Monaten bereits mit der Anwendung des Tarifvertrags begonnen; zunächst sind Neueingestellte und Kolleg*innen mit auslaufenden Fristverträgen betroffenen. Wie lange der Besitzstand aller anderen Angestellten hält, ist fraglich. Für einige Gruppen bedeutet die veränderte Eingruppierung eine Verbesserung; zahlreiche Beschäftigte, u.a. Quereinsteiger*innen und Lehrer*innen für Fachpraxis an Berufsschulen sind aber von Verschlechterungen betroffen.

Der Vertrag bedeutet zudem auch grundsätzlich eine Verschlechterung, weil in dem TV EntgO-L die Eingruppierung der Lehrkräfte mit voller Ausbildung von den jeweiligen Besoldungsgruppen der Beamt*innen abhängig gemacht wird, die ja vom Dienstherren einseitig verändert werden können. Wenn also der Berliner Senat beschließen sollte, die Beamten-Besoldung an Oberschulen von A13 auf A12 zu senken, dann würden die entsprechenden Angestellten automatisch von der E13 in die E11 rutschen – ohne eine Handhabe, dagegen vorgehen zu können – tarifvertraglich zugesichert vom dbb.

Die GEW Berlin hat sich entschieden, ihre Forderungen zur Eingruppierung aufrecht zu erhalten und die Beschäftigten zu mobilisieren. Sie fordert:

  • gleiches Geld für gleichwertige Arbeit,
    (Diese Forderung zieht sich durch alle weiteren.)
  • Sicherheit durch tarifliche Eingruppierungsregelungen,
    (statt Abhängigkeit von der Gnade des Arbeitgebers)
  • die Entgeltgruppe 13 für alle Lehrkräfte mit voller Lehrer*innenausbildung,
    (Aufwertung des Grundschullehramts von E11 auf E13)
  • die Gleichbehandlung von Lehrkräften ohne volle Lehrer*innenausbildung, wenn sie mindestens zwei Jahre die entsprechende Tätigkeit ausgeübt haben,
    (Damit soll der Arbeitgeber gezwungen werden, zügig eine Nachqualifizierung zu
    organisieren. Wenn er das nicht hinkriegt, dann muss nach zwei Jahren der prekäre
    Zustand beendet werden.)
  • eine tarifliche Eingruppierung in Funktionsstellen,
    (Bisher ist nicht garantiert, dass Beschäftigte, die eine höhenwertige Tätigkeit
    übernehmen, auch höher bezahlt werden.)
  • die Eingruppierung von Lehrer*innen für Fachpraxis und Pädagogische Unterrichtshilfen in die Entgeltgruppe 10,
    (bisher „große“ bzw. „kleine“ E9)
  • den Ausgleich statusbedingter Unterschiede in der Bezahlung von angestellten gegenüber verbeamteten Lehrkräften durch tarifliche Entgeltgruppenzulagen.
    (Der TV-L sieht in §16 (5) Zulagen „zur regionalen Differenzierung, zur Deckung des Personalbedarfs, zur Bindung von qualifizierten Fachkräften“ vor.)

Die Ausgangslage für erneute Streiks hat sich zum einen verbessert, da sich die Zahl der Angestellten seit 2013 von 9.000 auf 15.000 erhöht hat. Zum anderen sorgt das Vorgehen von dbb und Senat in der Öffentlichkeit für Verwirrung, womit jetzt umgegangen werden muss. Es gilt immer wieder klar zu machen:

  • Der Senat kann sich nicht hinter der TdL verstecken. Ein Tarifvertrag zur Eingruppierung auf Landesebene ist möglich.
  • Das Recht des dbb, für seine Mitglieder schlechte Tarifverträge abzuschließen, ist unantastbar (Koalitionsfreiheit: Grundgesetz, Artikel 9, Absatz 3). Wer sich dem Beamtenrecht unterwerfen möchte, der soll das tun. Aber niemand kann dazu gezwungen werden. Die GEW hat den TV EntgO-L abgelehnt. Er kann für ihre Mitglieder keine Wirkung entfalten.
  • Die GEW hat jedes politische, juristische und moralische Recht, den Kampf für „gleiches Geld für gleichwertige Arbeit“ jetzt wieder aufzunehmen.

 

Lesetipps:

 

Editorischer Hinweis
Erstveröffentlicht bei https://lernenimkampf.wordpress.com/2016/01/29/zum-hintergrund-der-streiks-an-berliner-schulen/