Kommentare zum Zeitgeschehen
Der Präsident, die Produktion und der Sex

von Horst Schulz

02/2016

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Im Oktober 2015 hat sich der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck zur „Woche  der Welthungerhilfe“ an seine lieben „Mitbürgerinnen und Mitbürger“ gewandt und uns mitgeteilt, „die Nachrichten, die uns täglich aus vielen Teilen der Welt erreichen, zeichnen ein schreckliches Bild des Elends und der Verzweiflung. Und die Vereinten Nationen zählen beinah 60 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind, vor Hunger  und Krankheit, vor Krieg, Bürgerkrieg und Verfolgung. Ein bedrückender Höchststand ist das. Wie können wir diesen Menschen helfen? Kann eine Spende etwas ausrichten? Ja, sie kann!(1)

Kann man da widersprechen? Ja, man kann. Muss man einer solchen Heuchelei  nicht sogar entgegentreten, wenn man eine Welt ohne Hunger und Elend für ein vernünftiges Anliegen hält? Spenden aller Art - ob Geld, Beifall oder bloße Aufmerksamkeit - sind offenkundig nicht nur nutzlos gegen das Elend, sie sind den Verelendeten sogar schädlich, solange sie dazu dienen, den eitlen Wichtigtuern und rücksichtslosen Karrieristen eine Tribüne zu geben, damit sie mit ihren Auftritten für die Beibehaltung derjenigen Zustände werben können, die Hilfsorganisationen überhaupt erst nötig machen. Wie sonst soll man sich die Erfolgsgeschichten der weltweiten Hilfsindustrie erklären? Sie wuchern auf natürlichem Wege mit dem Elend, den Bürgerkriegen, den Grenz- und den Fluchtopfern und der Ohnmacht der Elenden. Wer das bejammerte Elend ausräumen will, der muss an die Ursachen ran, das sagt der Präsident sogar selber:

„Verfolgung, Krieg und Bürgerkrieg … treiben Menschen in die Flucht und das  erleben wir gerade. Wir erleben, dass wir eigentlich viel intensiver Fluchtursachen bekämpfen müssen und dass wir es doch nicht immer können“(2).

„Wir“ würden doch so gerne! Aber da sind ja die Sachzwänge. Und wenn Terroristen die Fluchtursachen sind, dann schicken „wir“ auch schweren Herzens mal „unsere“ effizienten Bomberpiloten vorbei. Gut und schön. Was ist aber, wenn die „Fluchtursachen“ nicht in den Herkunftsländern der Elenden zu suchen sind – sondern überall und vor allem auch hier: in den „Aufnahmeländern“? Und wenn an diesen Ursachen wir alle beteiligt sind, die wir uns den vermeintlichen Sachzwängen  unterwerfen und die wir unter Führung „unserer“ mächtigen Wirtschaftseinheiten mit unseren harmlosen Alltagshandlungen einen gesellschaftlichen Zusammenhang hochziehen, der das mörderische Elend auch noch in die letzten Winkel der Erdkugel  trägt? In Form von konkurrenzlosen Billigprodukten und vergifteten Redensarten. Und wenn daher nichts für uns leichter wäre als die Bekämpfung der Fluchtursachen? Fehlte uns nicht der gute Wille. Die Entscheidung für die Warenproduktion ist vermutlich niemals stärker ausgebildet gewesen als gerade heute. So viel zur harmlosen Demokratie.

Ohne außergewöhnliche Anstrengungen kann man sich davon überzeugen, dass  Menschen überall dort ihre Heimat verlassen, wo die ihnen so unwirtlich geworden ist, dass sie lieber die Strapazen und die unkalkulierbaren Risiken der Auswanderung auf sich nehmen als auszuharren. Das moderne Elend, das die Leute wegtreibt, erklärt sich überwiegend aus überaus gut erforschten Tatsachen, die sich der heute weltweit dominierenden Weise verdanken, die Unterhaltsmittel aller Art zu  produzieren: In ihrer Warenproduktion folgen die Produzenten nicht einem gesellschaftlichen Gesamtplan, sondern produzieren sie voneinander unabhängig und scheren sich nicht um die unbeabsichtigten Ergebnisse und Kollateralschäden.

Ihr eindimensionaler Zweck heißt: Kapitalrendite. Jeder weiß es. Ungeachtet dieses  dürftigen Zwecks und ihrer katastrophalen Wirkungen bleibt die Warenproduktion aber in der öffentlichen Wahrnehmung unantastbar, so dass mit dem „wirtschaftlichen Fortschritt“ eben auch die Hilfswerke gegen den Welthunger wachsen und die wohlfeilen Gebete für den Frieden in der Welt immer lauter werden.  Man wird also Zweifel anmelden können, ob die Hilfsindustrie das weltweite Elend überhaupt beseitigen will. In den kapitalistisch erfolgreichen Industrienationen jedenfalls gilt „Wirtschaftswachstum“ als das Allheilmittel erster Güte gegen alle möglichen Widrigkeiten des bürgerlichen Geschäftslebens. Selbst diejenigen Bevölkerungsgruppen, die nichts haben und nichts zu verlieren haben, verlangen in der Hoffnung auf Besserung ihrer Lage die Steigerung der Warenproduktion. Wenn manche Unternehmen wachsen und ihre Marktanteile vergrößern, bleibt es nicht aus, dass manchen Wettbewerbern dabei die Luft ausgeht, so dass das blinde Wirtschaftswachstum hier den Produktionsstillstand dort einschließt. Indem die „Ursachen“ des Elends an dem einen Ort „bekämpft“ werden, werden sie an anderer Stelle gesteigert. Dieses Phänomen ist unter der Bezeichnung „Standortwettbewerb“ in der jüngsten Vergangenheit aufwendig verharmlost worden.


Wenn derselbe Präsident Gauck, der über die „Elenden und Verzweifelten“ sein  billiges Mitgefühl ausbreitet, seit Jahren auf allen möglichen Plätzen das Evangelium der Freiheit predigt, weil die „Freiheit“ nach seiner „tiefen Überzeugung … das Allerwichtigste im Zusammenleben ist“(3), dann meint er durchaus nicht nur die Abwesenheit politischer Unterdrückung, sondern wirbt er ausdrücklich „für Markt und für Wettbewerb“: „Denn Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft, sie gehören zusammen(4)“. Mit diesem „Freiheitskampf“ verdient er sich den lärmenden Beifall der bürgerlichen Öffentlichkeit, die beschränkt genug ist, ihre eigenen Ansprüche immerfort und überall als Rechte auszusprechen: Was ist ihre „Freiheit“ sonst als ihr „Menschenrecht“ auf ungehinderten Warenverkehr und die unbeschränkte Verfügung über Arbeitskräfte aus allen Weltteilen zum Zwecke der Produktion dieser Waren? Ohne ausweglose Armut ist aller bürgerliche Reichtum nichts. Wer produzierte all den Plunder für die Angeber, wer putzte ihre Stuben und servierte ihnen die Mahlzeiten – wenn da nicht die arbeitsamen Armen wären? Von den gekauften Fanatikern der „Wirtschaftsfreiheit“ hört man selten einen Gedanken über die Zwangsarbeit der anderen – ohne die es weder Freiheit noch Reichtum im bürgerlichen Sinne gibt. Die Oberflächlichen wagen sich in keine Tiefen, und so könnten wir locker darauf verzichten, ausgerechnet von einem Pfaffen dialektische
Einsichten zu erwarten. Wären da nicht auch immer mal wieder Gottesleute unterwegs gewesen, die ein Beispiel geben können. Vor über zwei Jahrhunderten war der Sansculottenprediger Jacques Roux einer von ihnen: „Die Freiheit ist ein leerer Wahn, solange eine Menschenklasse die andere ungestraft aushungern kann(5)“. Der Mann hat bereits damals auf den Punkt formuliert, was die Freiheit  unseres Präsidenten auch heute noch ist. Strafloses Aushungern! Kein Wunder, wenn die regierenden Terroristen ihm damals den Prozess gemacht haben. Einen aktiven Mitläufer hätten sie gebrauchen können, aber keinen Kritiker. Gauck muss ein solches Schicksal nicht befürchten, denn er erzählt doch nur bereitwillig nach, was hierzulande das heute maßgebliche Interesse diktiert - was also jene „Menschenklasse“ behauptet, die andere „ungestraft aushungern“ kann. Wollte er wirklich die Ursachen des weltweiten „Elends und der Verzweiflung“ ausräumen, so hätte er zunächst nur denkend nachzulesen, was die bürgerlichen Ökonomen, zu deren Ehren er zuweilen seine Sonntagsreden hält, aufgeschrieben haben. Das ist zumutbar und sollte auch möglich sein. Die sagen nämlich selber, dass die kapitalistische Warenproduktion zugleich eine mustergültige Maschinerie der Verelendung ist. Wenn auch nur wenige von ihnen wissen, dass sie es sagen! Seit Jahrzehnten schwärmt diese Zunft ungeniert vom Kapitalismus mit dem Argument, er habe gegenüber allen bisher bekannten Produktionsweisen den unbestreitbaren Vorzug, auf dem Wege der „schöpferischen Zerstörung“ unaufhörlich Neuerungen aller Art zur Wohlfahrt des Menschengeschlechts hervorzubringen. Untersucht haben sie dieses „kapitalistische Faktum“ eher weniger, denn sie hätten sich dann ja auch mit den Ergebnissen dieser „Zerstörungen“ auseinandersetzen müssen. Durch  erfolgreiche Warenproduktion ruinierte Existenzen passen aber nun mal nicht so recht in das Weltbild, das diese meist akademischen Einsatzkräfte ihrer Herrschaft auszumalen haben. Vielmehr ist die Ware als Tatwaffe eines vor unseren Augen stattfindenden universellen Gewaltverbrechens dem bürgerlichen Bewusstsein eine unerträgliche Vorstellung. Das Ding muss verschwinden! Man kennt das ja aus
anderen Kriminalgeschichten auch. Sonst könnte doch jemand auf den Einfall  kommen, für die Beseitigung der Warenproduktion durch die Einrichtung einer vernünftigen gesellschaftlichen Produktionsplanung zu werben, in der die Produktion des Notwendigen für alle eine ebenso selbstverständliche wie auch leichte Angelegenheit wäre. Allein der Gedanke daran ist nicht akzeptabel. Wer so etwas auch nur zum Thema macht, der riskiert es zweifellos, von allen Warenproduzenten und Warenhändlern – also praktisch von allen, von seiner ganzen Familie –  verstoßen und geächtet zu werden. Kafka zeigt in seiner „Verwandlung“, wozu so  etwas führt.

Die Priester des Kapitals werden nicht bezahlt, um Wahrheiten ans Licht zu bringen,  sondern um Dunkelheit dort herzustellen, wo unbeliebte Wahrheiten liegen. Während sie seine produktiven Kräfte zu Recht feiern, bemühen sie sich zugleich, die Verheerungen des Kapitals aktiv zu verschweigen, zu leugnen, zuzudecken oder umzudeuten. Das Kapital als Destruktionskraft? Was soll das denn sein? Wer für die „Freiheit der Marktwirtschaft“ zu streiten hat, der darf sich mit Widersprüchen nicht belasten, der braucht seine ganze Energie zur Unterdrückung der handgreiflichsten  Indizien des mörderischen Charakters der industriellen Warenproduktion.

Als vor einigen Jahren die weltweite Überproduktion von Waren die Weltwirtschaft  dermaßen zerrüttet hatte, dass bei vielen Zeitgenossen Zweifel darüber aufkamen, ob wir mit der kapitalistischen Produktionsweise tatsächlich die beste aller Welten erwischt haben, da beeilten sich die etlichen Zeichendeuter der Bourgeoisie unverzüglich, die industrielle Produktion des Kapitals dem Blickfeld zu entrücken.  Nachdem selbst der damalige Präsident der Vereinigten Staaten Georg Bush irritiert eine „Überproduktion“ von Waren festgestellt haben wollte, da zeigte etwa  Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz sein ganzes Können:

„Der amerikanische Präsident Bush“, meinte er in einem FAZ – Interview bereits  2008, „hat gesagt: Wir haben zu viele Häuser gebaut. Das stimmt zwar, aber (!) das ist keine wirklich gute Antwort, wenn es darum geht, was wirklich falsch gelaufen ist. Es gab auch (!) unfassbar viel Gier, aber (!) die gibt es immer“(6).

Was Bush naiv ausgeplaudert hatte, das musste der Bourgeois-Ökonom entschieden zurückweisen. Und wie! Nach Auskunft des Gelehrten war die Aussage des Präsidenten zwar wahr, aber nicht gut. Denn es gab da auch noch ein ganz „unfassbares“ Verhalten, nämlich die „Gier“ – und die „gibt es immer“! Bedenkenlos ersetzte der geehrte Ökonom einen wahren Kern durch eine Blödheit. Der wahre Kern war der: Häuser zu bauen; Badewannen, Parkettfußböden, Auslegware, Türen,  Fenster, Dachrinnen, Waschmaschinen, Inneneinrichtungen usw. in die Welt zu setzen, das ist heutzutage dank der modernen Produktivkräfte der großen Industrie vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen. Diese Dinge werden sogar regelmäßig „überproduziert“, obgleich die meisten Bau- und Industriearbeiter nur in bescheidenen Wohnverhältnissen leben – und viele während der Krise sogar in Zelte  umziehen mussten. Statt nun einen offenkundigen Widerspruch aufzunehmen, den selbst ein amerikanischer Präsident hat ahnen können, musste Stiglitz ihn in Grund und Boden schwafeln. Wer nun glaubte, er habe nur mal versehentlich danebengegriffen, wie es ja im Leben immer mal wieder vorkommt, der wurde im Fortgang der Dinge belehrt.

Bei ihrer aufwendigen Fahndung nach den Ursachen der Wirtschaftskrise haben sich schließlich alle bedeutenden Sachverständigen damals auf die heute noch gültige Sichtweise verständigen können, die krisenbedingte Ruinierung so vieler Existenzen hätte irgendwie etwas zu tun mit dem Geld, wobei sie nicht sehr klar darüber waren, dass das Geld, soweit nicht Falschgeld, nur die verwandelte Form der Ware ist, deren Dasein sich eben der Produktion verdankt. Aber nicht die Produzenten, sondern die Banken sollten es gewesen sein, die vor lauter Gier und Unvermögen die an und für sich großartige kapitalistische Produktionsweise souverän an den Rand der Katastrophe geführt haben, und deshalb hat man das Desaster dann auch „Finanzkrise“ getauft. Manche Marktbeobachter gaben daneben den Regierungen noch eine Teilschuld, weil die den Banken die finanziellen Machenschaften nicht verboten hatten. Man hat alle möglichen Geschäftsmodelle der Geldhäuser verdächtigt, alle ihre Kreditpapiere sowie die Derivate dieser Papiere, aber niemals die Grundlage des Kredits, niemals die Warenproduktion. Dabei sind die wachsenden Risiken der planlosen gesellschaftlichen Produktion auf höchster Stufenleiter mit den Händen zu greifen, und es ist auch mühelos einzusehen, dass die diversen Papiere einerseits zur Erleichterung dieser Produktion und andrerseits zur Bändigung der daraus resultierenden Produktionsrisiken von den Finanzinstituten entwickelt worden sind; einerseits werden zum Beispiel Waren gegen Zahlungsversprechen verkauft, andrerseits werden anschließend auch die Ausfallrisiken dieser Zahlungsversprechen zum Handelsartikel. Betrachtet man aber die abgeleiteten Papiere nicht an ihren Geburtsstätten, sondern lediglich in dem Auf  und Ab ihrer Kursnotierungen, dann kommt man leicht zu der verbreiteten Ansicht, die dem steinreichen Klassenkämpfer Warren Buffett zugeschrieben wird: Derivate sind „Massenvernichtungsmittel“! Dieses Urteil kommt den Verfechtern der Marktwirtschaft sehr entgegen, weil mit einer solchen Perspektive die Warenproduktion der großen Industrie als die mächtige Triebkraft der ganzen  Veranstaltung in den Schatten gestellt werden kann. Mit einem Skandal um einen irgendwie plausiblen Sündenbock lässt sich das wirkliche Massenvernichtungsmittel im Verborgenen halten und kann weiterhin die vermeintlich harmlose industrielle Warenproduktion dazu genutzt werden, den Profit zu machen, um den sich das ganze Interesse der vermögenden Klassen dreht.

Was man in der Wirtschaftskrise nicht wahrhaben wollte, das muss auch sonst verdunkelt werden: der spezifisch kapitalistische Zusammenhang von Produktion und Zerstörung. Wer über den Einsatz der gesellschaftlichen Produktivkräfte verfügt, der nutzt sie auch für seine Zwecke, und wenn nicht die Gesellschaft der Arbeitenden darüber verfügt, dann muss sich niemand darüber wundern, wenn dieselbe auch nicht ihr Nutznießer ist. Dagegen nutzen die kapitalistischen Unternehmen sie im Auftrag ihrer Eigentümer zur Herstellung „wettbewerbsfähiger Waren“. Je mehr Waren gegebener Qualität zum möglichst niedrigen Preis ein Unternehmen erzeugen  kann, desto mehr kann es davon bei gegebener Handelsfreiheit und sonst gleichen Umständen absetzen und desto größer ist der Ertrag für die Eigentümer. Je günstiger die Waren aber im Vergleich sind, desto schlechter ist es bestellt um die Konkurrenten, die sich ebenfalls um den Absatz ihrer Erzeugnisse bemühen, die aber ihre Produktion einstellen müssen, soweit sie im „Preiswettbewerb“ nichtmithalten können, etwa weil ihnen die nötigen Produktionsmittel fehlen. Wenn der “Kampf um die Marktanteile“ regelmäßig mit der „schöpferischen Zerstörung“ der gegnerischen Stellungen endet, dann ist das also ein „kapitalistisches Faktum“, das als solches von den Ökonomen auch als dauernde Begleitung der kapitalistischen  Entwicklung begeistert registriert wird. Umso merkwürdiger ist das große Wehklagen der bürgerlichen Öffentlichkeit über die aktuellen Fluchtbewegungen, die sehr leicht als Konsequenzen der erfolgreichen industriellen Kampfhandlungen des Kapitals zu entziffern sind. Nach ihren gelungenen Propagandafeldzügen für die Handelsfreiheit zerstören die produktiven Streitkräfte des Kapitals stets und ständig mit ihren wohlfeilen Waren alles, was sich ihnen entgegenstellt, und zwar ohne eine Rücksicht auf das weitere Schicksal der Verlierer. Im Unterschied zu den gewöhnlichen Kriegshandlungen sind die des Kapitals auch eher auf die völlige Vernichtung des Gegners ausgerichtet und enden selten mit Friedensverhandlungen, so dass die geschlagenen Rekruten der ehemals konkurrierenden Unternehmen schließlich oft die Flucht antreten müssen oder ohnmächtig um sich schlagen. Wie sonst sollen wir uns „Selbstmordattentäter“ erklären? Die Ansicht des Präsidenten ist jedenfalls nicht akzeptabel für Leute, die ihre verordneten Glaubensgewissheiten durch Zweifel in Schranken halten. Gauck gibt bedenkenlos seinen Segen für die Fortsetzung der ökonomischen Schlachten mit militärischen Mitteln, wenn er in seiner Weihnachtsansprache 2015 „die Soldatinnen und Soldaten, die im gefährlichen  Kampf gegen die Wurzeln (!) des Terrors“7 eingesetzt sind, dankbar grüßte und damit unterstrich, was auch ein moderner Missionar unter christlicher Nächstenliebe versteht: die Unterwerfung des Nächsten. Nicht einmal darauf will er sich verständigen, dass der Terror gesellschaftliche Ursachen haben könnte, die mit leistungsbereiten Soldaten nie und nimmer auszuräumen sind. Für einen christlichen Fundamentalisten ist das Böse die „Wurzel“ auch des Terrors – und verkörpert ist es  im Terroristen der anderen Seite! „Gewalt und Hass“, meint daher der selbstgefällige Prediger in derselben Predigt weiter, „sind kein legitimes Mittel der Auseinandersetzung, Brandstiftung und Angriffe auf wehrlose Menschen verdienen unsere Verachtung und verdienen Bestrafung (!)“(8). Was will man dazu noch sagen?

Ohne Zweifel ist das Diktat der Überheblichen ein günstiger Nährboden für  Terroristen auf allen Seiten. Auf diesem Wege verdient man sich auch noch die Verachtung aller unvoreingenommenen Beobachter. Gestraft ist Gauck jedenfalls genug.

Wer Hunger und Terror ernsthaft ausräumen will, wird, sofern er ein verständiger  Mensch ist, nicht die Hungernden und die Terroristen umbringen wollen, sondern den ganzen gesellschaftlichen Organismus sich kritisch vornehmen, der die Saat des Hungers wie die des Terrors hervortreibt, der aber auch die bescheuerten Vorstellungen darüber bewirkt.

Auf Dauer kann niemand Waren kaufen, wenn er nicht auch etwas produziert, was  die Verkäufer für ihre Waren entgegennehmen. Die kapitalistische Konzentration der Produktion und des Eigentums lässt dem in der Konkurrenz Unterlegenen allerdings kaum Chancen zur Produktion von solchen Gegenleistungen. Zum Ausdruck kommt diese Unterproduktion von Kaufmitteln nicht nur in dem weltweiten Elend, sondern auch in der weltweit wachsenden Schuldenlast. Früher oder später muss die „schöpferische Zerstörung“ der unkontrollierten Massenproduktion der großen Industrie daher auch selbstzerstörerisch wirken, denn mit der Zahl der Verkäufer vermindert sie notwendig auch die Zahl der Käufer, was bereits in der frühen Phase der Industrialisierung von klaren Köpfen klar gesehen wurde. Wenn wir die „schöpferische Zerstörung“ der Warenproduktion für die öffentlich bejammerten Massenfluchten verantwortlich machen, dann sprechen wir also weder ein Geheimnis  aus noch eine Neuigkeit. Selbst die international tätigen Hilfsorganisationen wissen heute sehr gut, dass die Erzeugnisse der europäischen Intensivlandwirtschaft und Massentierhaltung die bäuerlichen Betriebe in den entferntesten afrikanischen Regionen in den Ruin treiben. Auch für sie ist es die freie Entfaltung der kapitalistischen Warenproduktion, die den Leuten die Lebensgrundlagen nimmt und sie aus ihrer Heimat vertreibt, wenn auch die Oberfläche das bei den Lohnschreibern des Kapitals so beliebte Bild der selbstverschuldeten Armut und der selbstverschuldeten Bürgerkriege zeigen mag. Ist also die Freiheit, für die unser Präsident wirbt, verantwortlich für das Elend, das derselbe Präsident mit Spendengeldern bekämpfen will? Was spricht dagegen, die Sache so zu sehen?  ber welcher Gerichtshof nimmt die Klage entgegen? Und wie könnte die Anklageschrift lauten?

Vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten hat Wilhelm Schulz, ein Weggefährte Georg Büchners, die „unabänderlichen Gesetze der Bewegung der Produktion“ untersucht, und er gelangte bereits damals zu einem aufrüttelnden Ergebnis. Sollte es versäumt werden, so warnte er, die gesellschaftlichen Verhältnisse mit dem Fortschritt der gesellschaftlichen Produktionskräfte in Übereinstimmung zu bringen, so werden früher oder später „die urkräftigsten Beweger und Erneuerer der Weltgeschichte das Ihrige thun: der religiöse Fanatismus und der Hunger“(9).

Die wachsenden gesellschaftlichen Produktivkräfte verlangten nach seiner Auffassung mit der Gewalt einer Naturkraft eine ihnen entsprechende Organisation der gesellschaftlichen Arbeit. Unserer gegenwärtigen Epoche mit ihren ebenso rücksichts- wie gedankenlosen Machern und Mitmachern hätte er nur ein unterirdisches Zeugnis ausstellen können, weil ihr die produktiven Potenzen des Menschengeschlechts als Massenvernichtungsmittel geraten. Nicht einmal in der  Ferne erscheint ein Ende des Massakers. Solange die christlichen Fanatiker der Kapitalverwertung im Namen ihrer „westlichen Wertegemeinschaft“ den religiösen Fanatismus ihrer ohnmächtigen Opfer mit Bomben bekämpfen, werden sie nur die Verheerungen ihrer industriellen Warenproduktion noch ergänzen – und sich selbst und andere auf diesem Wege immer tiefer in vielleicht sogar auch unbeabsichtigte  und unkontrollierbare Handlungen verstricken. Terror und Vertreibungen, Bombenangriffe und Flüchtlingslager, Sicherheitsunternehmen und Zäune bestimmen mehr und mehr unseren Alltag, während die beauftragten Wichtigtuer einer ausufernden Hilfsindustrie uns wohltätige Spenden als Linderungsmittel nahe legen.

Aber Verhältnisse lassen sich ändern - und sie werden geändert werden! Will man  nicht annehmen, dass die Menschen auf ihre bereits erworbenen Produktionskräfte verzichten werden, dann wird früher oder später die blinde kapitalistische Arbeitsteilung einem internationalen Produktionsplan weichen, der alle arbeitsfähigen Menschen in die Lage versetzt, Äquivalente zu produzieren, besser: arbeitend  teilzuhaben an einem universellen Produktionsprozess, mit welcher Teilhabe sie  zugleich auch ihre Unterhaltsmittel erwerben. Sagt man, eine solche Bändigung der modernen gesellschaftlichen Produktivkräfte durch ihre planende Nutzung sei ein Ding der Unmöglichkeit, dann behauptet man nur, die Bombardierungen der Weltelendsquartiere und die Fütterung der Hungernden in allen Weltwinkeln seien alternativlos - bloß weil die kapitalistische Anwendung der Produktionsmittel mit  einem besseren Zukunftsprojekt nicht vereinbar ist. Von Sex kann hier keine Rede sein.
 

Endnoten


1 Joachim Gauck: zur „Woche der Welthungerhilfe“ im Oktober 2015, Berlin, 11.10.2015

2 Joachim Gauck: zum Auftakt der 40. Interkulturellen Woche am 27. 09. 2015 in Mainz

3 Joachim Gauck: Freiheit. Ein Plädoyer, München 2012, S.5

4 Joachim Gauck: Rede auf der Festveranstaltung zum 60-jährigen Bestehen des Walter Eucken Instituts am 16.
Januar 2014.

5 Jacques Roux: Das „Manifest der Enragés“, 25.6. 1793; in: Freiheit wird die Welt erobern, Leipzig 1985, S. 147

6 Im Gespräch, Joseph Stiglitz: „Der amerikanische Staat ist schuld“, FAZ 22.09.2008.

7 Joachim Gauck: Weihnachtsansprache 2015

8 ebenda

9 Wilhelm Schulz: „Bewegung der Produktion“, Zürich und Winterthur, 1843, S. 178

Quelle: Zusendung per Email am 2.2.2016 durch den Autor.

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