Das Sexualstrafrecht in der BRD
Ein Konspekt zu Ulrike Lemkes Thesen über: „Sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum – Rechtslage und Reformbedarf in Deutschland“

von Karl-Heinz Schubert

02/2016

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onlinezeitung

In den gegenwärtigen Debatten im Anschluss an die Kölner Sylvesternacht mangelt es nicht nur an Wissen über die Tathergänge, sondern die Rechtslage erscheint auch völlig unklar. Die Autorin, promovierte Juristin, arbeitet vornehmlich auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts und der rechtlichen Geschlechterstudien an den Universitäten Hamburg und Greifswald. Sie schildert die Rechtslage folgendermaßen:

In der BRD gibt es es seit 1994 ein Recht gegen sexuelle Belästigung im Rahmen des Arbeitsschutzrechts. Das europäische Antidiskriminierungsrecht (sexuelle Belästigung als eine Form sexistischer Diskriminierung) stellt eine Erweiterung dar, wird aber durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 wieder auf den Arbeitsplatz beschränkt.

Nicht jeder sexuelle Übergriff im öffentlichen Raum gilt als Straftat. Ein Übergriff kann daher verurteilt oder als „unerfreuliches, aber strafloses Verhalten angesehen werden“

  • Strafrechtlich verfolgt werden nur „erhebliche sexuelle Handlungen und Gewalt“
    184h Nummer 1 Strafgesetzbuch)

Ob „Erheblichkeit“ besteht, ist im juristischen Diskurs und bei Gerichten unklar.

Ein Kussversuch soll normalerweise nicht ausreichen. Allerdings gibt es auch Gerichte, die selbst einen aufgezwungen Zungenkuss für unerheblich halten. Bei Berührungen von Brust, Gesäß und Genitalbereich scheint es vor allem darauf anzukommen, ob diese oberhalb oder unter der Kleidung erfolgt, was die Strafbarkeit im Zweifel von den Wetterverhältnissen abhängig macht. Jedes Eindringen in den Körper (umstritten beim Zungenkuss) gilt jedoch als erheblich.“

Selbst eine „erhebliche“ Tat gegen den Willen „einer erwachsenen Person“ führt nicht zur Verurteilung.

Vielmehr wird verlangt, dass die sexuelle Handlung durch eine andere gewaltsame Handlung oder erhebliche Drohung des Täters ermöglicht wird.“

International wird dies anders gesehen, z.B.:

  • Der Ausschuss für die UN-Frauenrechtskonvention

  • Die „Istanbul-Konvention“ des Europarates gegen Gewalt gegen Frauen - die BRD hat diese Konvention immer noch nicht ratifiziert.
     

  • Eine strafrechtliche Verfolgung ist als Nötigung (kaum) möglich
    (§240 Strafgesetzbuch)

Nach BRD-Recht muss „die betroffene Person durch Gewalt oder Drohung zur Duldung der sexuellen Handlung genötigt worden sein“. Dies lässt sich bei sexuellen Übergriffen im öffentlichen Raum gerichtlich kaum verifizieren – gerade wenn „Gegenwehr“ als Indiz genommen wird.

  • Strafbarkeit wegen Beleidigung seit den 1970er Jahren keine Chance
    (§185 Strafgesetzbuch)

Selbst wenn man anerkennt, dass der Täter durch einen öffentlichen sexuellen Übergriff seine „Missachtung der Betroffenen“ zum Ausdruck bringt, muss diese Beleidigung eine Ehrverletzung des Geschlechts darstellen. Seit den 1970er Jahren als Straftatbestand juristisch in der BRD unüblich.

  • Sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum als Ordnungswidrigkeit eine untaugliche Notlösung

Wegen der diffusen Rechtslage greifen manche Gerichte auf das Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) zurück. Ordnungswidrigkeiten werden nicht mit Freiheits- oder Geldstrafen sanktioniert, sondern mit Bußgeldern. Eine gerichtsverwertbare Beweiserhebung solcher Handlung ist nahezu unmöglich, da dazu nur die Polizei befugt ist.

  • Verteidigung gegen sexuelle Übergriffe

Davon rät die Autorin ausdrücklich ab. Sie führt als Begründung an:

  • Der öffentlicher Raum wird quasi „Kampffeld“ und der Staat verlöre sein „Gewaltmonopol“. Außerdem: „Die Forderung nach Selbstverteidigung durch die Betroffenen ist auch ein bisschen antisozial, denn sie privatisiert das gesellschaftliche Problem, wie sexuelle Autonomie wirksam geschützt werden kann, beschuldigt die Opfer und entlastet umstehende Dritte.“
  • Da weibliche Sozialisation „immer noch auf körperliche Passivität und die verbale Lösung von Konflikten zielt“ wären sie nicht auf physische Reaktion ihrerseits vorbereitet.

  • Selbstverteidigung kann sehr gefährlich werden, „indem sie Täter ihrerseits zur Anwendung von Gewalt motiviert“.

  • Selbstverteidigung begründet mit den straffreien Notwehrrecht nach § 32 Strafgesetzbuch setzt „einen gegenwärtigen Angriff voraus“. Diese Voraussetzung sei schwer zu beweisen.

Editorische Hinweise:

Ulrike Lembke: Sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum – Rechtslage und Reformbedarf in Deutschland veröffentlicht am 11. Januar 2016

Die Abhandlung umfasst noch folgende Themen:

  • Strafbarkeit sexueller Belästigung im öffentlichen Raum in Österreich
  • Mögliche Regelungsmodelle für das deutsche Recht
  • Zivilgesellschaft gegen Sexismus