Ende Februar
fand in Frankfurt/Main eine vom Institut für Marxistische
Studien und Forschungen veranstaltete Konferenz zum Thema
„Die Frankfurter Schule im Lichte des Marxismus" statt.
Diese Konferenz dokumentierte offenkundig die Tatsache, daß
die „kritische Theorie" der „Frankfurter Schule" (u. a.
Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas) unfähig ist,
theoretische Grundlage der Strategie und Taktik des
antimonopolistischen Kampfes zu sein. Hatte sie einen
Anteil an der Formierung der studentischen Opposition gegen
das staatsmonopolistische System, so ist sie heute von der
Entwicklung überholt und stellt ein Hindernis dar bei der
Annäherung der oppositionellen Intelligenz an Positionen
der Arbeiterklasse. Die Untauglichkeit der „kritischen
Theorie" — besonders ihrer Habermasschen Gestalt — in
politisch-taktischer Hinsicht ist schon früher erkannt und
kritisiert worden.(1) Allerdings waren selbst die
schärfsten Attacken führender Repräsentanten der
oppositionellen Studentenbewegung oft begleitet von einer
bewußten oder unbewußten Hinnahme von Habermas'
Sozialphilosophie und Teilen.seiner Imperialismustheorie.
Gerade
deshalb ist es bemerkenswert, daß von den rund 550
vorwiegend studentischen Teilnehmern der Frankfurter
Konferenz der marxistisch-leninistischen Kritik an den
theoretisch-philosophischen Grundlagen der „Frankfurter
Schule", besonders auch der Habermasschen Soziologie(2),
nichts entgegengesetzt wurde. Im Gegenteil, die mit der
Darlegung grundlegender marxistischer Positionen verbundene
Kritik wurde mit gespannter Aufmerksamkeit zur Kenntnis
genommen. Diese Konferenz-Atmosphäre war kein Zufall,
sondern Symptom eines Reifeprozesses innerhalb der
studentischen Bewegung, ausgelöst vor allem durch die
eigenen Erfahrungen der studentischen Protestbewegung. Alle
Versuche, die „kritische Theorie" in eine wirksame
revolutionäre Strategie umzusetzen, endeten mit
Fehlschlägen. Das schafft günstige objektive
Voraussetzungen für einen stärkeren Einfluß des
Marxismus-Leninismus auf die oppositionelle Intelligenz.
Selbst von der „FAZ" wird diese Entwicklung in einer
Besprechung der Frankfurter Konferenz zugegeben: „Das wäre
vor Jahr und Tag nicht möglich gewesen. Die Sehnsucht nach
der Organisation ist offensichtlich."(3)
Die teilweise
Abkehr der Frankfurter Schule vom Anarchismus und von
romantischen Illusionen läßt die „kritische Theorie"
allerdings nicht automatisch von der Bildfläche
verschwinden. Im Gegenteil, es gibt Anzeichen, daß sie
versucht, im „neuen Aggregatzustand" zu überleben, d. h.,
in den Bestand der revisionistischen und
sozialdemokratischen Ideologie überzugehen.
Habermas
und die „kritische Theorie"
Jürgen
Habermas ist der letzte bedeutende Repräsentant der
„kritischen Theorie" in Westdeutschland. Der heute
Vierzigjährige gehört zur jüngeren Generation „kritischer
Theoretiker" und verwaltet das Erbe der Frankfurter Schule
- Ursprung und Heimstätte der „kritischen Theorie".
Demzufolge ist auch seine Gesellschaftstheorie teilweise
von einer anderen gesell- \ schaftlich-historischen
Erfahrungssituation geprägt als die anderer Vertreter der
„kritischen Theorie" (Marcuse, Horkheimer, Adorno).
Habermas reflektiert vor • allem den Widerspruch zwischen
hohem Entwicklungsstand der Technik, Technologie und
geistiger und moralischer Verkuppelung der Persönlichkeiten
durch Manipulation, skrupellose Ausbeutung. Nach Habermas'
Meinung existiert der Klassengegensatz zwar noch, jedoch
ist er „stillgelegt", latent. Aus ihm läßt sich „kein *
systemsprengender Konflikt mehr entfachen". Dafür gibt
Habermas zwei Gründean.
Erstens sei es dem staatsmonopolistischen System gelungen,
die Arbeiterklasse zu korrumpieren, „Massenloyalität" zu
erreichen, indem es den Arbeitern eine Reihe von
ökonomischen Zugeständnissen gemacht habe. Diese
Zugeständnisse, wie überhaupt ein stabiles
Wirtschaftswachstum, wären dem staatsmonopolistischen
Kapitalismus auf Grund von zwei Tendenzen möglich, dem
Anwachsen der „interventionistischen Staatstätigkeit" und
der Tatsache, daß die Wissenschaft zur ersten
Produktivkraft geworden ist.
Zweitens: Der
staatsmonopolistische Staat kann jedoch nur dann seine
systemstabilisierende und allseitig regulierende Rolle
erfüllen, wenn die Bevölkerung „entpolitisiert" ist, wenn
die „demokratische Öffentlichkeit" ausgeschaltet wird. Das
geschieht einerseits durch die obengenannten
„Zugeständnisse", die eine das Handeln der Menschen auf die
Befriedigung „privatisierter" Bedürfnisse lenkende
Ideologie zur Folge haben. Auf der Grundlage dieser
Ideologie entsteht eine zweite Tendenz zur
Entpolitisierung: Die Produktivkräfte übernehmen die Rolle
einer Ideologie. Indem der durch den „staatlichen
Interventionismus" gestützte Fortschritt der
Produktivkräfte als Voraussetzung zur Befriedigung der
privatisierten Konsumbedürfnisse anerkannt wird, ist es
möglich, im angeblichen Interesse der Sachzwänge des
technischen Fortschritts demokratische
Willensbildungsprozesse auszuschalten. Gesellschaftliche
Probleme erscheinen als technische und demzufolge von
„Technokraten" fachmännisch zu erledigende. Die
gesellschaftlichen Systemprobleme verschwinden aus den
Köpfen der „Entpolitisierten", und dem System wird es
möglich, angeblich im Namen des technischen Fortschritts
die letzten Reste bürgerlicher Demokratie abzubauen, ohne
auf nennenswerten politischen Widerstand zu stoßen. Dieser
Entwicklung will Habermas entgegentreten. Den
entscheidenden Ansatzpunkt sieht Habermas in der
„Politisierung der Öffentlichkeit", in der Veränderung
der Ideologie, indem durch die „kritische Theorie" der
Unterschied von technischen und gesellschaftlichen
Problemen wieder zu Bewußtsein gebracht wird. Träger und
Subjekt einer solchen systemverändernden Ideologie könne
nicht die angeblich korrumpierte Arbeiterklasse sein,
sondern eine soziale Gruppe, die auf Grund ihrer
privilegierten Stellung, ihres ohnehin vorhandenen
materiellen Überflusses nicht mehr durch ökonomische
Zugeständnisse zu korrumpieren sei — die Intellektuellen
und vor allem die Studenten bürgerlicher Herkunft. Deren
Mission sei es, auf der Grundlage des westdeutschen
Grundgesetzes und in Zusammenarbeit mit den noch
bestehenden bürgerlich-demokratischen Institutionen und
Organisationen die Öffentlichkeit zu repolitisieren.
Die kapitalistische
Gesellschaft habe sich beim Übergang von der „liberalen"
zur monopolistischen und besonders zur
staatsmonopolistischen Phase derart verändert, daß die
Marxsche Gesellschaftstheorie nicht mehr gültig sei. Vor
allem treffe das auf die Lehre vom Klassenkampf, vom
Basis-Überbau-Verhältnis, auf die Wert- und
Ideologietheorie zu — überhaupt könne die politische
Ökonomie nicht mehr das Kernstück einer revolutionären
Theorie sein. An ihre Stelle müsse Ideologiekritik treten.
Habermas kommt über eine
Beschreibung der ideologischen und „moralischen
Physiognomie" des Spätkapitalismus nicht hinaus. An die
Stelle der materialistisch konkreten Klassenanalyse treten
bei ihm Ideenkampf und Räsonieren über abstrakte
Gattungsverhältnisse. Die Ausklammerung der
Produktionsverhältnisse wird in seiner Sozialphilosophie
und Imperialismustheorie zur Methode erhoben. Statt dessen
werden Erscheinungen des Überbaus für das eigentliche
Soziale ausgegeben und aus den auf Technik und Wissenschaft
eingeengten Produktivkräften direkt abgeleitet.
Daneben weist jedoch sein
System eine Reihe von Unterschieden gegenüber anderen
Vertretern der „kritischen Theorie" auf. Er möchte den
Pessimismus und die Praxisferne eines Adorno überwinden,
indem er die „kritische Theorie" auf der „Höhe des
gegenwärtigen Methodenbewußtseins und des Standes der
analytischen Wissenschaften" erneuert. Das heißt, er
versucht, in seiner Gesellschaftstheorie eine Reihe von
Ansätzen der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie,
Soziologie und Psychologie zu integrieren. Weiterhin
beschäftigt er sich mit solchen aktuellen Problemen wie
Großforschung, Hochschul-und Wissenschaftspolitik,
engagiert sich in der Studentenbewegung und entwirft
verschiedene Reformvorschläge.
„Haber-Marx"
Habermas stellt seine
Gesellschaftstheorie als dialektische Negation des durch
die objektive Entwicklung veralteten Marx dar.
Besonders seit 1968 („Erkenntnis und Interesse")
konzentriert er seine Kritik auf Marx, was von der
Monopolpresse freudig zur Kenntnis genommen wird. Dabei
gibt Habermas vor, viel von Marx gelernt zu haben, seine
eigentlichen Absichten auf der Höhe der Zeit realisieren zu
wollen. Habermas' Kardinalvorwurf gegen Marx lautet: Marx
sei von einem automatischen Entwicklungszusammenhang
zwischen technischem und gesellschaftlichem Fortschritt
ausgegangen. Er habe gesellschaftliche Beziehungen
(„Interaktion") auf produktionstechnische reduziert und
aus letzteren hergeleitet Da der gegenwärtige
Kapitalismus aber gerade durch den Widerspruch zwischen
gesellschaftlicher und technischer Entwicklung
gekennzeichnet sei, sei der von Marx angenommene
Zusammenhang ungültig geworden. Man braucht nicht
unbedingt Marxist zu sein, um zu wissen, daß Marx
keinesfalls einen automatischen Zusammenhang technischer
und sozialer Entwicklung unterstellt hat. Deshalb erhebt
sich die Frage: Wie bewerkstelligt Habermas seine
originelle Marx-Rezeption, und welches Licht wirft sie auf
seinen eigenen Standort? Der Ausgangspunkt seiner
„Marx-Kritik" ist ein Trick: Er zitiert Stellen von Marx,
wo dieser von konkreter Arbeit, von produktiver Arbeit im
Sinne des einfachen Arbeitsprozesses, von den einfachen
abstrakten Momenten des Arbeitsprozesses oder von flachen,
vulgären Auffassungen der Produktion spricht, und
unterstellt, Marx meine die Arbeit, den
gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Weil das naturgemäß
nicht so glatt geht, ist Habermas nicht zimperlich im
Zitieren. Zwei Kostproben dazu.
Habermas: „Aus der
Produktion, jener Tathandlung also, die Marx fortwährend
als sinnliches Arbeiten und
Schaffen apostrophiert ..."(4)
Marx dagegen: „Endlich als
Resultat des Produktions- und Verwertungsprozesses
erscheint vor allem die Reproduktion und Neuproduktion
des Verhältnisses von Kapital und Arbeit selbst... Dies
soziale Verhältnis, Produktionsverhältnis, erscheint in
fact als ein noch wichtigeres Resultat des Prozesses als
seine materiellen Re-sulate."(5)
Diese eigenartige Zitier-
und Interpretationsweise zielt darauf ab, den Marxschen
Begriff der gesellschaftlichen Produktion, der die
widersprüchliche Einheit von Produktionsverhältnissen und
Produktivkräften sowie von Ökonomie und Gesellschaft faßt,
zu ersetzen durch einen Begriff von „Produktion" und
„Arbeit" im Sinne der Auseinandersetzung eines als isoliert
gedachten Individuums mit der Natur. Es ist unverkennbar,
daß Habermas in seiner eigenen Soziologie mit einem Begriff
von ungesellschaftlicher Arbeit und Produktion hantiert.
Einem derartigen
„Haber-Marx" ist nun leicht technologischer Evolutionismus
vorzuwerfen. In den „Grundrissen" auf Seite 592 ff. stellt
Marx dar, wie die Entwicklung der Produktivkräfte innerhalb
des Kapitalismus in Widerspruch gerät mit den
kapitalistischen Produktionsverhältnissen und daß die
modernen Produktivkräfte die „materiellen Bedingungen"
sind, um ihre kapitalistische „bornierte Grundlage in die
Luft zu sprengen". Jedem, der ein wenig in Marx' Werken
gelesen hat, ist klar, daß diese materielle Bedingung,
dieser Widerspruch über die verschiedenen Formen des
Klassenkampfes realisiert werden muß, um daraus eine
revolutionäre Kraft werden zu lassen. Aber das ist für
Habermas kein Hinderungsgrund, in dieser dialektischen
Einheit „zwei Versionen" und technologischen Evolutionismus
zu sehen. Diesen „Haber-Marx" konfrontiert er dann mit dem
für die kapitalistische Gegenwart typischen Widerspruch
zwischen hochentwickelter Technik und Verkrüppelung der
Persönlichkeit und resümiert: „Marx hatte Unrecht, die
Produktivkraftentwicklung konvergiert nicht notwendig mit
der Befreiung von Knechtschaft und Erniedrigung, denn ein
entwicklungsautomatischer Zusammenhang zwischen Arbeit und
Interaktion besteht nicht."(6)
Den Vorwurf, Marx
„reduziere Interaktion auf Arbeit" bzw. leite den
gesellschaftlichen Fortschritt unmittelbar aus dem
Wissenschaftlich-Technischen her, führt Habermas weiter zu
der Unterstellung, Marx sei Positivist, denn u. a. wäre für
ihn auf Grund der o. g. Reduktion das Erkennungsmodell der
Naturwissenschaften das einzig gültige gewesen. Deswegen
könne man Marx' Konzept der revolutionären Veränderung der
kapitalistischen Gesellschaft nach dem Modell
sozialtechnischer Verhaltenssteuerung, Manipulation denken.
Damit stellt er Marx auf eine
Stufe mit positivistischen Herrschaftstechnikern, die
vorgeben, durch sozialtechnische „Rationalisierung" den
Kapitalismus „vernünftiger" zu gestalten.
Ausklammerung
der Produktionsverhältnisse
und ihre politischen Konsequenzen
Nach dem Studenten- und
Schülerkongreß 1967, besonders aber nach seinem Auftreten
auf dem Kongreß 1968 begann eine heftige Kritik an
Habermas' politischen Thesen von Vertretern der linken
Studentenbewegung. Deren sozialphilosophische
Voraussetzungen blieben jedoch meist undiskutiert. Eine
Reihe der ihn von links Kritisierenden glaubte, man brauche
aus seiner Sozialphilosophie lediglich andere politische
Schlußfolgerungen zu ziehen. Wir gehen davon aus, daß man
den ganzen Habermas kritisieren muß. Das entscheidende
Kettenglied einer solchen umfassenden Kritik liegt
offensichtlich in der bei ihm zur Methode avancierten
Ausklammerung der Produktions- und Klassenverhältnisse.
Auf allgemein-theoretischer
Ebene hat ein solches Vorgehen u. a. die folgenden
Konsequenzen: Es verleitet ihn dazu, Ökonomie und
Gesellschaft zu trennen. Er negiert den Charakter der
ökonomischen Beziehungen als grundlegend sozialer Beziehung
und geht somit von der Fiktion eines neben der Ökonomie
verlaufenden Geschichtsprozesses aus. In aller Deutlichkeit
zeigen sich die Konsequenzen seiner sozialphilosophischen
Voraussetzungen in seiner Imperialismustheorie. Der
„staatlich geregelte Kapitalismus" ist für ihn nicht in
erster Linie sozialökonomisch bestimmt, sondern „stützt
sich auf eine Ersatzideologie, die auf Ablenkung und
Privatisierung zielt" (Frankfurter Rundschau vom 5. Juni
1968). Bei einer ideologischen Definition des Imperialismus
bleibt Habermas' auf Entökonomisierung bedachter Geist
nicht stehen. In seiner Imperialismusanalyse werden alle
wesentlichen ökonomischen und politischen Widersprüche
verflüchtigt. Welche konkret sozialen Widersprüche
verbleiben noch in einer derartigen Optik? Neben geistigen
und ideologischen Widersprüchen stellt Habermas noch
„Entwicklungsdisparitäten" zwischen gesellschaftlichen
Bereichen, Ungerechtigkeiten in der Verteilung, zwischen
Privilegierten und Unprivilegierten etc. fest. Habermas
nimmt bestimmte ideologische Erscheinungen
nicht nur als Ausgangspunkt seiner Bestimmung des Wesens
des Imperialismus, sondern betrachtet
Bewußtseinsveränderung auch als einzig gebotene Strategie
des antimonopolistischen Kampfes. Er propagiert eine
„langfristige Strategie der massenhaften Aufklärung", deren
unmittelbares Ziel er in der Politisierung der
Öffentlichkeit sieht. Mittels der Habermasschen „kritischen
Theorie" soll die kapitalistische Gesellschaft ihr
Selbstbewußtsein erlangen und damit sich selbst aufheben,
denn die spontane Naturwüchsigkeit kapitalistischer
Verhältnisse „herrscht durch die symbolischen Mittel des
Geistes; darum kann sie auch durch die Kraft der Reflexion
bezwungen werden".(7)
Habermas entwickelt scheinbar
eine ganz raffinierte Taktik: Er möchte den
staatsmonopolistischen Kapitalismus
total von innen heraus, nämlich vermittels seiner eigenen
Institutionen, aufsprengen. Habermas' Aufklärungsstrategie
entsprang auch seine Sympathie für die Studentenbewegung in
Westdeutschland. Er betrachtete sie als Motor einer Reform
des westdeutschen Hochschulwesens. Deshalb ist es nur
folgerichtig, wenn in dem Maße, wie die Studentenbewegung
sich über den Hochschulbereich hinaus erweiterte, das
politische Zerwürfnis mit Habermas offen zutage trat. In
seiner Polemik mit der linken Studentenbewegung werden
viele politische Implikationen seiner Theorie deutlicher.
So vertritt er offen die Meinung, das studentische
Protestpotential sei nicht sozialökonomisch, sondern
sozialpsychologisch determiniert. Habermas' Einfluß auf die
Studentenbewegung, der bis zur Mitte der 60er Jahre ohne
weiteres positive Aspekte einschloß, ist vor allem auch
darauf zurückzuführen, daß er dem Intellektuellen die
führende Rolle im antimonopolistischen Kampf suggerierte.
Das bedeutet allerdings nicht, daß er der Arbeiterklasse
überhaupt keine Bedeutung beimißt — gegenüber manchen
Studenten betont er sogar, daß diese ihre Ziele nur mit
Hilfe der Arbeiter und der Gewerkschaften verwirklichen
können. Aber er faßt die Arbeiterklasse nicht als das sich
selbst und die Gesamtgesellschaft befreiende Subjekt,
sondern als Objekt der von den intellektuellen Trägern der
„kritischen Theorie" intuitierten Aufklärungsprozesse.
An wen adressiert Habermas
seine Theorie?
Habermas ist der Meinung, ein
Bündnis von staatsmonopolistischer Politik und
Sozialwissenschaft hätte eine „mündige Gesellschaft" zur
Folge. Dabei beruft er sich ausdrücklich auf amerikanische
Vorbilder der Politikberatung. Allerdings, so wendet er
ein, dürfe sich dieses Politik-Wissenschaft-Verhältnis
nicht technokratisch hinter den geschlossenen Türen der
Bürokratien abspielen, sondern müsse durch eine
funktionierende demokratische öffentliche Meinungsbildung
vermittelt sein. Es offenbaren sich interessante Parallelen
zu positivistischen Modellen. H. Albert, einer der
einflußreichsten Vertreter der positivistischen und offen
systemkonformen Soziologie in Westdeutschland, weist der
Soziologie eine ähnliche Funktion zu. Sie sollte einen
Beitrag dazu leisten, daß „die politische Praxis von einer
vergleichenden Beurteilung der in Betracht kommenden
Änderungen" ausgehen kann sowie für eine „wirksame
Institutionalisierung von Kritik und Kontrolle der
Herrschaft unter Aufrechterhaltung der Möglichkeit
erfolgreich zu planen und entscheiden" eintreten (Die Zeit,
5. Dezember 1969).
Diese Funktion bürgerlicher
Soziologie und damit die objektive Gemeinsamkeit zwischen
„kritischer Theorie" und positi-vistischer
Herrschaftstechnik nimmt in einer sozialdemokratisch
regierten Bundesrepublik an Bedeutung zu. Spätestens an
dieser Stelle, bei seinem Versuch, wissenschaftliche
Beratung der Politik zu installieren, wird die politische
Konsequenz der zur Methode erhobenen Ausklammerung der
Produktions- und Klassenverhältnisse und ihre Ersetzung
durch abstrakte Gattungsverhältnisse deutlich: Nicht nur
Illusionismus und Utopismus ist die Folge, sondern direkte
Systemstabilisierung. Habermas' Spezifik und Vorteil
gegenüber der offen systemkonformen bürgerlichen
Sozialwissenschaft ist die Fähigkeit, vor allem die Kritik
der Intelligenz zu binden, sie leerlaufen zu lassen und
letztlich umzufunktionieren. All das provoziert die Frage:
An wen ist Habermas' „kritische Theorie" eigentlich
adressiert? Offenkundig nicht an eine revolutionäre Klasse,
denn schon in „Theorie und Praxis" (1963) war er der
Meinung, daß eine revolutionäre Theorie heutzutage ihres
Adressaten entbehre. Auf den ersten Blick hat es den
Anschein, als wende sich die kritische Theorie nur an das
mehr oder weniger kritische Potential der Intelligenz.
Zweifelsohne wendet sich
Habermas an große Teile der Intelligenz, einschließlich der
naturwissenschaftlichen. Das zeigt seine Beschäftigung mit
allgemein-methodologischen Problemen, mit Problemen
kapitalistischer Großforschung ebenso wie seine
Verabsolutierung der Rolle der Wissenschaften in der
kapitalistischen Gesellschaft. Gerade damit will er die
Praxisferne und esotherische Abkapselung von Adorno
überwinden. Aber offensichtlich wendet sich Habermas auch
an die Machtträger des kapitalistischen Staates. Objektiv
versucht er ihnen klarzumachen, daß zur Erhaltung des
Kapitalismus nicht nur notwendig ist, die bürgerliche
Sozialwissenschaft für notwendige Reformen
gesellschaftlicher Teilbereiche noch stärker einzubeziehen,
sondern daß man diese Reformen „mit einem imaginären
Mäntelchen der Freiheit versehen(5)
muß. Das heißt, man muß so tun, als wären diese Reformen
(„radikaler Reformismus") der einzig mögliche Weg zur
„strukturellen Veränderung" des staatsmonopolistischen
Kapitalismus.
Die unkritischen
Kategorien der „kritischen Theorie"
Es wäre jedoch ein Irrtum,
wollte man annehmen, daß sich die Übereinstimmung zwischen
der „kritischen Theorie" Habermasscher Version und
bürgerlicher Schulsoziologie nur auf das Modell der
„Politikberatung" erstreckt oder lediglich eine funktionale
Einheit ist. Habermas' gesamtes System zeigt, in welchem
Maße er den bürgerlichen Verhältnissen, bei aller
scharfsinnigen Kritik an Erscheinungsformen, verhaftet
bleibt. Seine theoretischen Ausgangspunkte und sein
gesamtes Kategoriensystem lassen erkennen, daß er im Trend
der bürgerlichen Schulsoziologie mitschwimmt. Er zeichnet
sich lediglich durch seinen Versuch aus, alle möglichen
Ansätze in seinem System „dialektisch aufheben" zu wollen.
Sein Integrationsbestreben reicht von der klassischen
deutschen Philosophie über Psychoanalyse und Sprachanalyse
bis zum Funktionalismus und Positivismus. Die Psychoanalyse
ist für ihn das einzige Beispiel einer Wissenschaft, die
„methodisch Selbstreflexion in Anspruch nimmt".
Offensichtlich zufriedenstellend, charakterisiert dann auch
die „Welt" sein Werk „Erkenntnis und Interesse" (1968) als
„Weg von Marx zu Freud". Die Psychoanalyse liefert
die allgemein philosophische Begründung seines
gattungsgeschichtlichen Dualismus von Arbeit und
Interaktion. Geht sie doch aus von einem unsozialen,
vorwiegend durch seine Triebe und körperliche Organisation
bestimmten Individuum, abstrahiert sie doch wesentlich vom
Klassencharakter und begreift (Klassen-) Herrschaft als
„Repression von Triebregungen, die im System der
Selbsterhaltung generell auch unabhängig von einer
klassenspezifischen Verteilung der Güter und Leiden
auferlegt werden muß". Vermittelt wird diese
gattungsabstrakte „Repression" vor allem durch Ideologie
und Institution — also bedarf es nach Habermas'
idealistischer Kurzschlußlogik lediglich des geistigen
Kampfes, der „befreienden Kraft der Reflexion".
Habermas operiert äußerst souverän mit einem Begriff
von Klasse und Klassenkampf, der absolut nichts mit
Marxismus zu tun hat. Habermas faßt die Klasse nicht durch
ihre Stellung in der gesellschaftlichen Produktion, durch
ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, sondern er
definiert Klassenspaltung als „Verteilung der sozialen
Lasten und Entschädigungen auf die Individuen nach
Klassenzugehörigkeit". Das ist nicht verwunderlich, denn er
trennt prinzipiell in positivistischer Manier die
Produktion als technischen Akt der Gütererzeugung von der
Distribution als dem „eigentlichen Sozialen" ab. Es ist nur
folgerichtig, wenn er den Klassenkampf der Arbeiterklasse
ebenso kleinbürgerlichökonomisch als Kampf um einen höheren
Anteil an „sozialen Entschädigungen" (Lohn, arbeitsfreie
Zeit) darstellt. Wer von Anfang an einen bürgerlichen
Begriff vom Klassenkampf unterstellt, kommt allerdings
leicht zu der Behauptung, dieser sei „stillgelegt" und aus
ihm sei „kein systemsprengender Konflikt mehr zu
entfachen". Die Anerkennung der bloßen Existenz des
Klassengegensatzes erweist sich nur als eines jener
Habermasschen Feigenblätter. Unser
kurzer Exkurs über Habermas' Kategorien sollte
verdeutlichen, wie die Eliminierung der Produktions- und
Klassenverhältnisse mit der Macht einer Methode die
Gesamttheorie von Habermas durchzieht. Dadurch können wir
jetzt die Behauptung, er projiziere seine eigenen
Ungereimtheiten in Marx hinein, etwas präzisieren. Logische
Konsequenz der Unterschlagung der Produktionsverhältnisse
ist die direkte Ableitung von Politik und Ideologie aus den
Produktivkräften bzw. eine ideologische statt einer
sozialökonomischen Bestimmung des Imperialismus. Genau
diese Konzeption wird Marx unterstellt, um dann
festzustellen, daß heute an Stelle der von „Habermas-Marx"
angenommenen progressiv emanzipativen eine quasi
konterrevolutionäre Funktion der Produktivkräfte getreten
sei. Da es allerdings selbst Habermas schwerfällt, den
ganzen Marx auf eine solche Konzeption festzulegen, zerlegt
er ihn in zwei Versionen. Das ermöglicht ihm, sich nicht
nur als gewöhnlicher Marx-Kritiker, sonder zugleich als
sein legitimer Erbe auszugeben. Dieses Verhältnis zu Marx
ist Ausdruck seines kleinbürgerlichen Standpunktes: Er
ignoriert Marx' Kritik an den grundlegenden materiellen
gesellschaftlichen Verhältnissen im Kapitalismus und
versucht an Marx anzuknüpfen, wo er glaubt, mit seiner
Hilfe staatsmonopolistische Erscheinungsformen kritisieren
zu können.
Die doppelte Angst des
kleinbürgerlichen Intellektuellen
Jürgen Habermas registriert
sehr genau und mit bemerkenswerter intellektueller Schärfe
die Degradierung der Persönlichkeit, die Verarmung der
zwischenmenschlichen Beziehungen, den Abbau der Demokratie,
die Tendenz der Monopole und ihres Staatsapparates,
Wissenschaft und Kultur noch stärker für ihre
Herrschaftsbedürfnisse zu verwerten, die totale
Liquidierung der progressiven Traditionen des Bürgertums.
Diese Entwicklung begreift Habermas jedoch nicht als
Ausdruck des dem Monopol immanenten Strebens zur
allseitigen Herrschaft. In der Alternative, die er dieser
Entwicklung entgegensetzen möchte, versucht er, die
positiven Errungenschaften des Bürgertums mit der
Entwicklung des staatsmonopolistischen Systems zu
versöhnen. Daß dabei eine Konzeption entsteht, die sowohl
in ihren Vorschlägen zur Bekämpfung der kritisierten
Entwicklungstendenzen als auch hinsichtlich ihres Bildes
von der zukünftigen, anzustrebenden Gesellschaft illusionär
und utopisch ist, liegt auf der Hand. Trotzdem können
derartige Vorstellungen in unterschiedlichen historischen
und nationalen Bedingungen durchaus verschiedene Funktionen
ausüben. In Anbetracht eines offenprimitiven
Antikommunismus, einer verbotenen kommunistischen Partei,
einer rechten Sozialdemokratie und anderer Faktoren hat
Habermas bis zur Mitte der 60er Jahre z. T. eine positive
Rolle gespielt. Erinnert sei nur an seinen Anteil an der
Formierung der studentischen Opposition, an seine
Auseinandersetzung mit der primitiven Marx-Tötung, an seine
Polemik gegen die Illusion positivistischer Illusion der
„reinen", nicht sozial bedingten Erkenntnis etc. In dem
Maße jedoch, wie sowohl durch die Festigung der
antimonopolistischen Kräfte in Westdeutschland als auch
durch den zunehmend aggressiven und reaktionären Charakter
des Monopolkapitals die Anforderungen an eine
antimonopolistische Konzeption wachsen, wird Habermas von
der objektiven Entwicklung überholt und wirkt
desorientierend, vor allem auf die Intelligenz, indem er
ihre ideologischen Scheuklappen vor dem objektiv
notwendigen Bündnis mit der Arbeiterklasse und ihren
Organisationen verstärkt und mit viel Aufwand untermauert.
Während Harald Wessel vor über zwei Jahren Marcuses
Konzeption noch mit den Worten charakterisieren konnte:
„Die kritische Theorie bleibt negativ" (FORUM 2 bis
5/1968), müssen wir heute feststellen, daß zumindest die
Ha-bermassche Version der „kritischen Theorie" zunehmend
konstruktiv wird, allerdings nicht im Sinne des
antimonopolistischen Kampfes. Selbst die des Marxismus
unverdächtige bürgerliche Presse macht sich über Habermas'
Glauben an die Macht der Aufklärung lustig und registriert
zum Teil die Funktionen der „kritischen Theorie": „Die oft
beschworene kritische Theorie kann dann nur noch eine
automatisierte, systemstabile Gesellschaft mit einem
imaginären Mäntelchen der Freiheit versehen." (Die Zeit,
13. März 1970.)
Anmerkungen
1) O. Negt u. a.: Die Linke antwortet Jürgen Habermas.
Frankfurt/M. 1968
2) E.Hahn: Die theoretischen Grundlagen der Soziologie von
Jürgen Habermas, Referat zur Konferenz „Die Frankfurter
Schule im Lichte des Marxismus", Februar 1970
3) FAZ vom 24. Juli 1970
4) Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M.
1968, S. 55
5) Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen
Ökonomie, Berlin 1953, S. 362
6 Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als
„Ideologie", Frankfurt/M. 1968, S. 46
7) Jürgen Habermas: Logik der Sozialwissenschaften,
Tübingen 1967, S. 191
8) Die Zeit vom 13. März 1970
Entnommen aus:

Facit 22/23, Neumünster Februar 1971, S. 37ff,
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