Georg Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins

Rezensiert von Helmut Reinicke

02/2016

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Um Georg Lukács, den ungarischen Revolutionär und Theoretiker, entzündeten sich zeit seines Le­bens die heftigsten Diskussionen; seit Erscheinen seines bedeutenden Werks „Geschichte und Klas­senbewußtsein" (1923), dem Versuch, der seinerzeit revisionistisch verkümmerten Marxschen Lehre wieder Momente revolutionärer Theorie zurückzu­gewinnen, ist Lukács aus der internationalen marxi­stischen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Lukács wies damals, angesichts der Aktualität der rus­sischen Revolution für Westeuropa, auf die Konsti­tutionsbedingungen revolutionären Klassenbe­wußtseins hin, auf jene Subjektivität, ohne die eine freie Tat des Proletariats zur Umwälzung der Ge­sellschaft sich nicht denken läßt. Wie damals so ging es auch nach der Stalinzeit dem Budapester Gelehrten darum, die marxistische Theorie wieder­herzustellen. Lukács, der im Juni 1971 starb, kam nicht mehr dazu, sein umfassendes Werk zu been­den; die geplante Ethik und seine Autobiographie blieben ungeschrieben.

Aus seinem letzten Werk hat der Luchterhand-Ver­lag einen in sich geschlossenen Teil veröffentlicht, das Hegel-Kapitel, das denselben Titel trägt wie das Buch selbst: „Zur Lukács des gesellschaft­lichen Seins". Auf den ersten Blick verwundert, daß ein Dialektiker wie Lukács sich in ein Ge­biet begibt, das bislang keineswegs im Kontext pro­gressiven philosophischen Denkens stand; betrach­tet man sich den Gegenstand der Lukácsschen Über­legungen genauer, so bemerkt man unschwer The­menstellungen, die bereits in „Geschichte und Klas­senbewußtsein" angelegt sind, dessen „auf Objekti­vität gerichtete Weiterbildung ... in bezug auf Un­mittelbarkeit und Vermittlung im Entwicklungs­prozeß der Gesellschaft" Thema der „Lukács" werden sollte. Aus der eigenen Kritik an seinem frühen Buch entwickelte sich der Plan, „den philo­sophischen Zusammenhang von Ökonomie und Dialektik zu ergründen". Eine „wirkliche Bewälti­gung dieses Problemkomplexes" - so Lukács - „ver­suche ich jetzt, dreißig Jahre später, in der Ontolo­gie des gesellschaftlichen Seins." Ausgehend von dem Problem der Aufklärung, der -wie Lukács sagt - „ontologischen Relevanz der Vernunft", kommt Hegel fraglos eine besondere Bedeutung zu: Hegels Anstrengung das Reich der Vernunft in der bürgerlichen nachrevolutionären Gesellschaft nachzuweisen, konnte sich nur syste­matisch entfalten, indem er deren Widersprüche sel­ber dem System der entfalteten Vernunft ein­schrieb. „Widersprüchlichkeit als Fundament der Philosophie kombiniert mit der realen Gegenwart als Verwirklichung der Vernunft bilden also" - so Lukács - „die ontologischen Grundfesten des He-gelschen Denkens. Ihre Verknüpfung hat zur Folge, daß bei ihm Logik und Lukács in einer bisher un­bekannten Intimität und Intensität zusammen­wachsen." Das Problem der Widersprüchlichkeit ist für Hegel mithin nicht nur ein erkenntnistheoreti­sches, sondern ein „primär ontologisches Problem". „Neu" an dieser Thematik sei bei Hegel, daß die Wirklichkeit als Lukács sich alle subjektiven wie objektiven Kategorien unterworfen hat; d. h. Hegel hat somit die bürgerliche Gesellschaft in ihrer rea­len Dialektik eines widersprüchlichen klassenzerris­senen Geschichtsganges in seiner Geschichtsphiloso­phie zum Begriff erhoben. Zu Kategorien der Logik purifiziert, repräsentieren sie die Lukács der bür­gerlichen Verhältnisse: die Logik gibt die Stufen der Wirklichkeit wieder und ist mithin Lukács. Diese wiederum kann bei Hegel nur in der Form von logischen Kategorien systematische Gestalt ge­winnen. Sie bergen das Leben des Gegenstandes in sich und reflektieren in der Prozeßartigkeit des Denkens „die Prozeßartigkeit jeder Realität". Lukács wertet diese zum ersten Male in der Ge­schichte des Denkens gewonnene „dynamisch-pro­zeßhafte Methode", in der sich die Erkenntnis „der sich in Widersprüchen bewegenden universellen Hi­storizität" äußert, als „Schritt in Richtung auf eine ganz neue Lukács". Es erhellt, worum es Lu­käcs in seiner Lukács des gesellschaftlichen Seins geht: Um eine - wie er sagt - „kritische Lukács", welche die Hegeische Anstrengung, die wider­sprüchliche Wirklichkeit auf dem Kopfe gehend einzufangen, mit Marx und Engels wieder „auf die Füße stellen" will. Freilich geht Lukács dabei über die Marxsche Intention einer Kritik der Kategorien der bürgerlichen Ökonomie als Daseinsformen der Verhältnisse hinaus. Im Rückgriff auf Hegel und vermittels der Engelsschen Ontologisierung der Dialektik zu einer Dialektik der Natur, beschäftigt sich Lukács im Sinne der großen vorkritischen Phi­losophie wie auch im Sinne Hegels mit einer Seins­lehre, die Gesellschaft und Natur gleichermaßen umgreifen soll, mithin „in der objektiven Wirklich­keit der Natur eine reale Basis für das gesellschaftli­che Sein" finden will. Die Lukács des gesell­schaftlichen Seins erstrebt somit die „Wiederher­stellung des Kontakts mit den großen Traditionen des Marxismus"; denn die „notwendige Erneuerung des Marxismus" bedürfe „einer fundierten und fun­dierenden Lukács". Daß in der Herausarbeitung des Zusammenhangs und der qualitativen Verschie­denheit von Hegel und Marx die ontologischen Probleme in den Vordergrund treten, habe also nichts, wie Lukács betont, mit „einer thematischen Vorliebe des Verfassers zu tun: vielmehr mit der philosophischen Lage unserer Zeit, die gebieterisch diesen Fragen Priorität gegenüber allen anderen gibt".

Nun ist freilich dieser Primat ontologischer Frage­stellungen für Theoretiker, die in der westlichen Tradition des Marxismus stehen, weniger einsehbar als für jene Denker, die nach dem Sieg der Oktober­revolution mit dem östlichen Aufbau des Sozialis­mus lebensgeschichtlich - wie gerade Lukács - eng-stens verbunden waren. Nicht nur Hegel hat sich nach der bürgerlichen Revolution der Ontologisie­rung der gesellschaftlichen Widersprüchlichkeiten zugewandt; ein ähnliches Phänomen läßt sich nach dem Tode Lenins auch im russischen dialektischen Materialismus feststellen: ein ontologisch ausgerich­tetes Denken, das die nachrevolutionäre, noch wi­dersprüchliche Realität zu fassen versucht, wird von Moskau bis hin zu den Autoren um die Zagre­ber philosophische Zeitschrift „Praxis" zum Merk­mal des Philosophierens. Lukács, obwohl er an die westliche Tradition, vor allem die Hegeische, weit unmittelbarer anknüpft, macht hierin keine Aus­nahme. So zeigt sich im Denken Lukács jene Span­nung, die er in Hegels antinomischer Konstruktion von dynamischer Dialektik und ontologisch logifi-zierter Wirklichkeit seziert, als eine zwischen sozia­listischer Realität und der Logik des Begriffs. Anders als bei Hegel gilt für Lukács freilich nicht, daß die Ontologik der Wirklichkeit deren widerspruchsvol­len Gang sistiere; vielmehr setzt er auf die subjekti­ve Möglichkeit der Individuen, die Objektivität stets so zu verändern, daß sie nicht als blinde Logik ihnen übergestülpt bleibt. In dieser Zurückgewin-nung der revolutionären, rätedemokratischen, der subjektiven Seite der marxistischen Theorie sieht Lukács die Erneuerung der Marxschen Lehre. „Ich halte es", sagt Lukács, „für absolut wesentlich, die Methoden des Marxismus richtig zu verstehen, zu diesen Methoden zurückzukehren und auf diese Weise zu versuchen, die Geschichte nach dem Tod von Marx zu erklären .. . Ohne neue Marxe werden zu wollen, sollten wir zum Marxismus zurückkeh­ren".

Georg Lukács
Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins

129 Seiten Taschenbuch
Verlag: Luchterhand / 1971

damaliger Preis: 7,80 DM
heutiger Antiquariatspreis bis zu 38 Euro

Unter https://archive.org/ gibt es die "Prolegomena zur Ontologie" online.

Quelle der Rezension: Ästhetik und Kommunikation,  Nr. 11, 1973, S. 97ff