Am
Ende stieg zwar kein weißer Rauch auf (und auch kein roter), um
eine Parallele zur erfolgreichen Papstwahl zu ziehen. Und es war
auch nicht nötig, die Teilnehmer/innen an der Wahl so lange
einzusperren, um eine Einigung zu erzielen. Am Dienstag dieser
Woche, den 03. Februar um kurz vor 13 Uhr war es so weit: Die
CGT, mit rund 700.000 Mitgliedern der noch immer stärkste
Gewerkschaftsdachverband in Frankreich, der in diesem Jahr sein
120jähriges Bestehen (1895 bis 2015) feiern wird, hatte einen
neuen Generalsekretär. Philippe Martinez wurde mit 93,4 % der
Delegiertenstimmen beim Conseil confédéral national (CCN), einer
Art „kleinem Gewerkschaftstag“, an die Spitze gewählt.
De
facto hatte seit drei Monaten ein Vakuum an der Spitze
geherrscht. Denn der kurzlebige Generalsekretär Thierry Lepaon,
seit März 2013 im Amt, hatte sich – politisch schwer
angeschlagen – einige Wochen lang an seinem Sitz festzukrallen
versucht. Doch dann wurde er zum Rücktritt gedrängt. Es ist erst
zum zweiten Mal in der einhundertzwanzigjährigen Geschichte der
CGT, dass ein Generalsekretär der CGT faktisch durch die Basis
und die unteren sowie mittleren Führungsebenen aus dem Amt
gemobbt wird (wenngleich die bürgerliche Presse ihrerseits ein
erhebliches Scherflein dazu beitrug, an seinem Sitz zu sägen).
Das letzte Mal war im Jahr 1909.
Nachdem er in der zweiten Januarwoche 2015 seine hinhaltenden
Widerstände gegen einen seit Wochen von Vielen erwarteten
Rücktritt aufgegeben hatte, fiel sein designierter Nachfolger am
13. Januar d.J. zunächst durch. Martinez, den Lepaon (wohl oder
übel) als Nachfolger akzeptiert hatte, erhielt bei einem
„außerordentlich“ einberufenen CCN damals zwar eine Mehrheit mit
57,5 % der Delegiertenstimmen für seinen Wahlvorschlag zum
Bureau confédéral, dem zentralen Vorstandsgremium. Diese war
jedoch nicht ausreichend, da für die Besetzung der
Spitzengremien eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist.
Martinez dreht gewissermaßen eine Ehrenrunde und arbeitete eine
neue Liste für die Besetzung des zehnköpfigen Zentralgremiums
aus; diese kam nun diese Woche auch durch. Die ursprünglichen
Widerstände gegen seinen Wahlvorschlag vom Januar des Jahres
hatten allerdings nicht so sehr seiner (Martinez‘) Person
gegolten, sondern vor allem der Tatsache, dass sein aus dem Amt
gedrängter Vorgänger – Lepaon – noch immer eine federführende
Rolle bei der Zusammensetzung des ersten Wahlvorschlags gespielt
hatte. Dies hatte nun ein Ende, und Lepaon hat sich in seine
Herkunftsregion, die Normandie, zurückgezogen.
Doch das war passiert, und wie sind diese Ereignisse zu
analysieren?
Am
29. Oktober 14 fiel der Startschuss für das, was Einige in der
CGT als eine „äußere Pressekampagne“ erlebt wurde – welche
jedoch aus dem Inneren des Apparats heraus alimentiert wurde,
und ohne dieses Element auch nicht hätte funktionieren können.
An jenem Mittwoch veröffentlichte die, an diesem Wochentag
erscheinende, französische wöchentliche Satire- und
Enthüllungszeitung Le Canard enchaîné einen Artikel, dem
ein Faksimile einer Rechnung beigefügt war. Die Rechnung war
durch ein Bau- und Renovierungsunternehmen ausgestellt worden
und betraf Arbeiten zur Erneuerung einer Wohnung im eher
„gehobenen“ Pariser Vorort Vincennes, in Waldnähe (nebenan liegt
der berühmte Stadtwald Bois de Vincennes). Es handelte sich um
die Dienstwohnung, die 2013 für den frischgebackenen
Generalsekretär Thierry Lepaon angemietet worden war. Es war das
erste Mal überhaupt, dass der Dachverband eine solche Anmietung
unternahm: Die dreizehn vor Lepaon amtierenden Generalsekretäre
stammten alle aus dem erweiterten Pariser Großraum und hatten
alle ihre eigenen Wohnungen, in erreichbarer Weite vom
Zentralsitz der CGT, der seit 1980 im Pariser Vorort Montreuil
liegt.
Besagte Wohnung war für (je nach Angaben, die zwischen diesen
beiden Zahlen variierten) 105.000 Euro respektive 130.000 Euro
renoviert worden. Die Wohnung ist geräumig, aber nicht
überdimensioniert – ursprüngliche Angaben von 120 Quadratmeter
wurden alsbald auf 79 Quadratmeter revidiert -, liegt jedoch in
nobler Wohnlage. Über die genannte Summe konnten
Wirtschaftsbosse und Manager ohne Zweifel nur lachen. Dennoch
wirkte sie verstörend. Erstens fügte die Zeitung ihren
Informationen die Nachricht hinzu, die Wohnung sei kurz vor
ihrer Anmietung durch die CGT bereits einmal renoviert worden.
Zum Zweiten verfügt die CGT nur über einen kurzfristigen,
dreijährigen Mietvertrag, ist also nicht Eigentümerin der
Wohnung. Sprich, das Geld war für einen Privateigentümer zum
Fenster hinausgeblasen worden, ohne dass dieser deswegen eine
besonders günstige Miete gewährt hätte. Einige an der Spitze der
CGT, konkret ihr damaliger Verwalter Eric Lafont (dem schon
zuvor die Mentalität eines Parvenus nachgesagt wurde), waren
offensichtlich von dem Standpunkt ausgegangen: „Geld spielt
keine bedeutende Rolle, wir haben es ja!“ Nur handelte es sich
um die Beiträge von Mitgliedern, deren Monatsverdienst oft eher
in der Nähe des gesetzlichen Mindestlohns liegt. Hinzu kam, dass
der ,Canard enchaîné‘ Stimmen aus der CGT zu Wort kommen ließ –
unter anderem besagten Lafont. Dieser verbreitete sich mit der
Erkenntnis: „Was wollen Sie denn?, wir konnte ihn ja schließlich
nicht in Aubervilliers oder Clichy-sous-Bois unterbringen!“
Ausgesprochen im Tonfall der Entrüstung, nach dem Motto: So weit
kommt’s noch! Es handelt sich um zwei ärmere Vororte von Paris
mit starker Bevölkerungskonzentration. Die Mitglieder der CGT,
die ebendort leben, durften diese Aussage ihres Verwalters
„wertschätzen“.
Es
folgten, Schlag auf Schlag, in den acht und vierzehn Tage später
erscheinenden Ausgaben der Wochenzeitung weitere Enthüllungen.
Es kam heraus, dass das (gar nicht sonderlich geschmackvoll)
eingerichtete Büro Lepaons seinerseits für lockere 67.000 Euro
renoviert worden war. Das wunderte Beobachter/innen aus der Nähe
nicht unbedingt, da bereits bekannt war, dass Eric Lafont bei
seiner Ankunft seinerseits die Lappalie von 20.000 Euro für
eine, nicht gerade dringend notwendige, Renovation seines
eigenen Büros ausgegeben hatte bzw. ausgeben ließ. Und die
Wirtschaftszeitung ,L’Expansion‘ ihrerseits setzte nach mit der
Information, Lepaon habe 2013, als er die CGT-Region Normandie
für seinen Job in der Zentrale der CGT verließ, von Ersterer
eine Abfindung von rund 30.000 Euro ausgezahlt bekommen.
Dahinter steckte freilich eine Überlegung: Lepaon war formal in
der Arbeitslosigkeit belassen worden, als er in der Normandie zu
arbeiten begonnen hatte – um den geltend gemachten Schaden und
dadurch die Abfindungssumme, die wegen ungerechtfertigter
Entlassung gerichtlich von seinem vormaligen Arbeitgeber (dem
Konzern Moulinex) eingefordert wurde, ein wenig die Höhe zu
treiben. Die nachträglich abgegoltene Summe sollte dafür sorgen,
dass Lepaon dennoch für diesen Zeitraum formeller
Arbeitslosigkeit noch Sozialversicherungsbeiträge geltend machen
konnte. Solche Tricks, hinter denen durchaus strategische
Absichten stehen, gibt es nicht nur in diesem
(Nicht-Einzel)fall. Freilich zog die regionale CGT sich damit
auch das Risiko auf sich, wegen, juristisch ausgedrückt,
vermeintlicher Schwarzbeschäftigung belangt zu werden.
Beim
Publikum kam die ganze Chose jedoch noch mal anders an, nämlich
wie der simple Vorwurf der Selbstbedienung. Diese Sichtweise war
zu einfach. Umgekehrt gab es wesentlich schlimmere Dinge, die
Lepaon intern vorgeworfen wurden, dem breiteren Publikum jedoch
unbekannt blieben, etwa die Nutzung eines Fahrdiensts für
private Zwecke (Einkäufe für Madame). Unter dem Strich war der
Vorwurf vielleicht nicht der illegalen Selbstbedienung, aber
einer Neureichen-Mentalität – endlich sind wir auch einmal an
der Spitze und dürfen ausgeben – nicht völlig aus der Luft
gegriffen. Lepaon drohte zunächst bei Krisensitzungen damit,
müsse er gehen, dann werde er seinerseits nicht länger mit
seinem Wissen über gewisse Praktiken anderer Funktionäre in
Branchenverbänden hinter dem Berg halten. Das Erpressungsmanöver
fruchtete jedoch nicht. Zugleich versuchte er es mit Manövern:
Er zeigte sich in den ersten Januartagen d.J. zu seinem
Rücktritt bereit, forderte dann jedoch zunächst – und quasi als
Vorbedingung – den aller anderen Leitungsmitglieder, also auch
den bisheriger Opponenten gegen seine Person und/oder seinen
Kurs. Und er erklärte sich bereit, seinen bisherigen Lohn (er
bezog ein Gehalt von 5.200 Euro) um eintausend Euro monatlich zu
senken, was allerdings nichts als eine hohle Geste ohne riesige
Wirkungen auf das Gesamtbudget darstellte. Angeblich hatte er
diesen Beschluss sogar bereits ein Jahr zuvor gefasst bzw. vom
Führungsgremium fassen lassen, ihn jedoch kurioserweise bis zum
Jahreswechsel 2014/15 nicht umsetzen lassen.
Der
Druck wuchs ins Immense und leitete schließlich, Anfang Januar
15, Lepaons Kapitulation ein. Doch er leitete zunächst den Stab,
der interne Wahlvorschläge für die in Eile zusammengebastelte
künftige Führungsspitze ausarbeiten sollte – und profitierte von
der Gelegenheit, um auch seine eigenen bisherigen Widersacher
aus dem ausscheidenden Bureau confédéral herauszukanten.
Vor diesem Hintergrund fiel auch die erste Wahlvorschlags-Liste
am 13. Januar 15 durch.
Die
Pressekampagne war jedoch kein äußerliches Ereignis, das wie ein
Gewitter auf die CGT eingeprasselt wäre. Vielmehr wurden die
Zeitungsveröffentlichungen aus dem Inneren des Apparats heraus
alimentiert. Die fragliche Rechnung, die als Faksimile im
,Canard enchaîné‘ publiziert wurde, war eine Woche zuvor in
Briefumschlägen an alle Branchenverbände der CGT versandt
worden. Das Dokument kam von innen.
Und
was steckte dahinter? Zunächst einmal gab es einen unmittelbaren
Anlass: Lepaon war ein schwacher Generalsekretär, der im März
2013 ohne eigene Hausmacht an die Spitze gespült worden war.
Sein Name war als „kleinster gemeinsamer Nenner“ ins Spiel
gekommen, weil sich das ganze Jahr 2012 hindurch die
wesentlichen Strukturen der CGT nicht auf eine/n Nachfolger/in
für den bisherigen Generalsekretär (und Ex-Eisenbahner) Bernard
Thibault einigen konnten. Thibault hatte im Frühjahr 2012, er
sähe gerne „eine Frau als Nachfolgerin“ – es wäre die erste
Generalsekretärin in der Geschichte der CGT gewesen, jedenfalls
beim Dachverband, während in den Branchenverbänden viele Frauen
auch erste Positionen besetzen -, im Gespräch waren Nadine
Prigent aus dem Gesundheitssektor und Agnèns Nathon, Direktorin
eines Teils der Gewerkschaftspresse. Umgekehrt favorisierten
Teile des Apparats den „Rentenexperten“ und Sekretär für
Beschäftigungspolitik, Eric Aubin. Er gilt als kompetent, aber
auch relativ „rechtslastig“ (für die Verhältnisse der CGT), u.a.
auch wegen seiner Strategie im Rahmen des großen Rentenstreits
und –streiks im Jahr 2010. Eine Einigung wurde nicht erzielt.
Schlussendlich wurde Thierry Lepaon als, relativ schwache,
„Kompromissfigur“ aufs Schild gehoben.
Es
ist auf unzulässige Weise übervereinfacht, wenn Teile der
bürgerlichen Presse hinter jedem schärfer ausgetragenen Konflikt
innerhalb der CGT (partei)politische Spaltungslinien auszumachen
versuchen. Der Gewerkschaftsspezialist der liberalen Pariser
Abendzeitung ,Le Monde', Michel Noblecourt, behauptete etwa,
beim Streit um die alte Führungsspitze stünden einander eine
Fraktion von Mitglieder der französischen KP auf der einen
Seite, Anhänger/inne/n von Robert Hue andererseits gegenüber.
(Hue war Parteichef von 1994 bis in die 2000er Jahre hinein
gewesen. Er brachte die Partei, nach dem erzwungenen „Abschied
vom sowjetischen Modell" in den frühen neunziger Jahren,
zunächst auf einen linkssozialdemokratischen Kurs. Wenn auch mit
einigen Komplikationen - so proklamierte Hue unter der frisch
angetretenen Rechtsregierung von Jacques Chirac/Alain Jupe 1995
einen Kurs der „konstruktiven Opposition", der darauf
hinauslaufen sollte, dass nicht alle Vorhaben der regierenden
Rechten unbedingt abzulehnen seien, bevor ihn die breiten
Streiks im November/Dezember 1995 notgedrungen auf eine verbal
stärker betonte Oppositionsrolle zurückzwangen. Doch Robert Hue
selbst endete als ausgesprochen rechter Sozialdemokrat, welcher
sich noch im Jahr 2014 verzweifelt um einen Eintritt in die
Regierung von Manuel Valls mit einem Ministeramt bemühte. Zur
Zeit der regierenden „Links"koalition unter Lionel Jospin von
1997 bis 2002 existierte, wie im Nachhinein bekannt, eine
ständige direkte Telefonleitung zwischen dem
sozialdemokratischen Premier einerseits und Hue andererseits.
Letzterer versprach dem Regierungschef präventiv, alle
aufkeimende Opposition in seiner Partei ruhigzustellen und
Konflikte auszutreten. Der rechtslastige „Gartenzwerg" - so wird
er aufgrund seines Aussehens bisweilen genannt - Hue führt heute
eine eigene Miniaturpartei an, die „Bewegung für Einheit der
Progressiven"/MUE, gesamtgesellschaftlich ohne weitere
Bedeutung.) Noblecourt wollte mit diesem Artikel rund um den
Jahreswechsel 2014/15 unterstreichen, es drohe nun eine
Machtübernahme durch die KP-Fraktion und eine gefährliche
„Redogmatisierung" der CGT. Doch in Wirklichkeit war seine
Präsentation beider widerstreitender Lager gröbstens
vereinfachend und karikaturhaft.
Die
wirklichen Debatten und Konflikte heute sind oft andere. In der
CGT gibt es seit ihrem Bestehen strukturelle Konflikte, weil
ihre zentralen Gremien auf einer Doppelstruktur ruhen: Die Macht
der Brancheverbände (fédérations) kreuzt sich mit jener der
berufsgruppenübergreifenden Orts- und vor allem Bezirksverbände
(Unions locales und Unions départementales, UL/UD). Beide
Strukturen zusammen machen, vertreten durch ihre jeweiligen
Vorsitzenden respektive Sekretäre/Sekretärinnen, den CCN aus,
also das entscheidende Beschlüsse fassende „Parlament“ der CGT
zwischen zwei Kongressen (Gewerkschaftstagen). Beide sind
einflussreich, anders als beim DGB, wo die reale Macht vor allem
bei den Branchengewerkschaften sitzt und der übergreifende
Dachverband DGB daneben relativ schwach ausgeprägt bleibt.
Seit
Jahrzehnten erwachsen daraus Konflikte, weil es strukturell
unvermeidlich ist. Geht das kollektive Interesse der gemeinsam
organisierten Beschäftigten in einem Betrieb vor (notfalls, im
Konfliktfall, auch gegen die anderer Betriebe – Konkurrenten auf
dem gleichen Markt, Zulieferer und Abnehmer-Unternehmen)? Oder
ist das betriebs-, aber auch berufsgruppenübergreifende
Interesse aller Beschäftigten vorrangig, auch dann, wenn das im
Betrieb unter Umständen schlechter ankommt? Darauf wurden und
werden unterschiedliche Antworten gegeben. Manche
Mitgliedsgewerkschaften der CGT sind eher
berufsgruppenegoistisch (corporatiste) und nehmen nur auf ihre
Kernklientel Rücksicht, etwa an vielen Stellen im Staatsdienst
(nicht jedoch in den Krankenhäusern). Andere sind stärker
„universalistisch“ auf Gesamt-Lohnabhängigeninteressen
orientiert. Manche sind sehr skeptisch gegenüber Verbindungen zu
(organisierter) Politik und bleiben sogar Demonstrationen fern,
wenn diese etwa durch Linksparteien aufgerufen werden –
eingedenk früherer Erfahrungen mit der Dominanz durch die
französischen KP, zwischen den 1940er und den 1990er Jahren, auf
Distanz bedacht -, und andere scheuen es nicht, mit politischen
Kräften an einem Strang zu ziehen. (Wie etwa erstmals am 16.
Oktober 1999, als die damalige CGT-Spitze die Demonstration
gegen Massenentlassungen und die unternehmensfreundliche
Beschäftigungspolitik der Regierung Jospin schwänzte, weil diese
zunächst durch die – als Regierungspartei um etwas
oppositionelle Profilierung bemühte – französische KP aufgerufen
worden war.)
Diese Widersprüche wurden in einer bestimmten Periode, etwa
zwischen 1945 und Ende der 1970er Jahre, überdeckt oder
übertüncht, indem man sich auf ein vermeintlich allen (in den
Grundzügen und im Prinzip) gemeinsames Gesellschaftsprojekt
berief: Der Sozialismus wird es richten, er wird die
Widersprüche auf einer höheren Ebene aufheben. Und ein wenn
nicht schlüsselfertig, so doch zumindest greifbares Modell für
diesen Sozialismus schien es in den Augen Vieler in Frankreich
(nicht nur bei der CGT) damals auch tatsächlich zu geben, im
Osten des Kontinents, bis diese Referenz ab den 1980er Jahren
gesamtgesellschaftlich zunehmend in Misskredit geriet. Bis dahin
konnte man sich bei Widersprüchen etwa zwischen
Beschäftigteninteressen im Betrieb und außerhalb (bei
konkurrierenden Unternehmen, bei Zulieferern und
Kundenunternehmen) darauf berufen, dass man überall gemeinsam
das Wirtschaftssystem denunzierte und darauf insistierte, man
habe gemeinsame Grundinteressen, die in der nachkapitalistischen
Gesellschaft schon zusammenfinden würden. Und die
Hauptamtlichenbürokratie, dies es gab und die de facto eigene
(Schichten-)Interessen verfolgen konnte, musste ihre
Legitimation immer wieder aufs Neue darin suchen, dass sie eine
soziale Basis in der Lohnabhängigenschaft erfolgreich
mobilisieren konnte. Eher selten kollidierten diese Interessen
und dieser Imperativ offen, wie in den Anfängen der Mai
1968-Bewegung, als die französische KP die Bewegung offen
auszubremsen versuchte, während Teile der CGT und vor allem ihre
jüngere Basis von ihr mitgezogen wurden – die CGT-Spitze zeigte
sich denn auch (rund um das Abkommen von Grenelle vom 27. Mai
1968) viel geschmeidiger, und dazu bereit, der Streikbewegung zu
folgen, als die viel härter auf die Bremse tretende KP-Führung.
Diese frühere, die Widersprüche erfolgreich covernde Decke ist
heute weggezogen. Denn auch wenn weite Teile der CGT nach wie
vor nicht mit dem Kapitalismus (als „letztem Wort der
Geschichte“) sich abfinden mögen, verfügt doch heute niemand
über ein schlüsselfertiges Gesellschaftsmodell – auch wenn dies
„gestern“ ebenfalls nur vermeintlich der Fall war. Deswegen
treten Widersprüche mitunter offen, ungeschminkt und auf
scheinbar chaotisierende Weise zu Tage. Hinzu kommt, dass
örtliche und/oder auf Berufsgruppen zentrierte Verbände
innerhalb der CGT sehr viel mehr eigene Gestaltungsmacht
aufweisen - an der Stelle merkt man die ursprüngliche
anarcho-syndikalistische Herkunft der CGT von vor 1920 noch sehr
deutlich -, viel mehr, als dies etwa innerhalb der CFDT der Fall
ist. (CFDT : sozialdemokratisch geprägt,
rechtssozialdemokratisch geführter zweitstärkster Dachverband in
Frankreich.) Auch wenn die Vorurteile der öffentlichen Meinung
scheinbar Anderes besagen – da tatsächliche oder vermeintliche
Sozialdemokraten scheinbar der Demokratie verpflichtet,
tatsächlich oder (überwiegend) vermeintliche Kommunist/inne/n
dagegen angeblich notwendig antidemokratisch seien -, ist das
Ausmaß an innerverbandlicher Demokratie oder jedenfalls
Autonomie der Strukturen bei der CGT heute ungleich größer als
etwa bei der CFDT.
Vor
diesem Hintergrund können jedoch innerverbandliche Kompromisse
oft schwierig ausfallen. Zumal dann, wenn es keinen
gesellschaftspolitischen Kompass mehr gibt. Unter Thierry
Lepaon, der weder über eine starke Rückendeckung in einem
Bereich (bei einer gewerkschaftlichen Orientierung, bei einem
Branchenverband, bei einer – im weiteren Sinne – politischen
Kraft) verfügte, sondern lediglich auf Sicht manövrierte, flogen
der Spitze deswegen die Widersprüche um die Ohren. Und die
Tatsache, dass Lepaon Mitte Oktober 14 gegenüber ,Le Monde‘
ankündigte, beim für Anfang 2016 programmierten CGT-Kongress
(Gewerkschaftstag) erneut für ein zweites Mandat kandidieren zu
wollen, brachte das Fass zum Überlaufen. Der Rest ist
mittlerweile bekannt.
Unter Lepaon hatten sich Teile der Führungsspitze an
,realpolitischem' Durchwurschteln probiert, und auf
Verhandlungen mit den Kapitalverbänden ohne vorher aufgebautes
soziales Kräfteverhältnis gesetzt - Hauptsache es wird
verhandelt!, während bislang die CGT stets nur mit Rücksicht auf
reale soziale Kräfteverhältnisse zu verhandeln bereit war.
Beispielsweise insistierte ein Teil der soeben ausgeschiedenen
Führungsspitze stark darauf, eine neue Form von
Personalvertreter/inne/n vor allem für Klein- und mittlere
Betriebe einzuführen, in Form von außerbetrieblichen, doch durch
die Beschäftigten und Arbeitgeber gewählten, paritätisch
zusammengesetzten „Bezirkskommissionen". Dabei waren einzelne
Protagonist/inn/en auch durchaus bereit, ihrem Einfall bisher
bestehende gesetzliche Verpflichtungen der „Arbeitgeber" in
Sachen innerbetrieblicher Demokratie zu opfern. Anlässlich einer
Pressekonferenz am 13. November 14 blieb den anwesenden
Journalist/inn/en bis zuletzt unklar, ob die laut Wünschen
mancher damaliger CGT-Führungsmitglieder einzuführenden
künftigen Bezirkskommissionen mit einer Abschaffung der
bisherigen Pflicht zur Abhaltung einer Wahl in allen Betrieben
ab 11 Beschäftigten einhergehen sollte, oder aber ob Letztere
beibehalten werden und der neue Vorschlag diese nur ergänzen
sollte. Entsprechend widersprüchliche Artikel erschienen dann
dazu in der bürgerlichen Presse (,Le Figaro', Wirtschaftszeitung
,La Tribune'…) Doch die Unklarheit in dem Punkt wurde nicht
durch die Journalist/inn/en herbeigeführt, sondern war
tatsächlich ursprünglich durch die Darstellung bei der
Pressekonferenz angelegt. Was zu viel Unmut an der CGT-Basis und
im Mittelbau führte.
Dieses Blatt scheint nunmehr gewendet zu sein. Hoffen wir es.
Ausblick
Was
bringt der fünfzehnte Generalsekretär? Für eine Bilanz jeglicher
Art ist es natürlich noch viel zu früh. Augenscheinlich ist es
offenbar, dass es zu einer Repolitisierung der Führungsspitze
kommt. Martinez kommt jedenfalls aus der französischen KP, in
welcher er manchen Quellen zufolge noch Mitglied sein soll, der
er anderen Angaben zufolge 2002 den Rücken kehrte (und zwar,
weil die bis dahin neben den Wohngebiets- noch bestehenden
Betriebsgruppen der Partei aufgelöst wurden, als aus einem klar
inhaltlichen Motiv). Neben ihm kehrt ein Mitglied des ,Conseil
national‘ („Nationalrat“, das erweitere Führungsgremium)
selbiger Partei in das Bureau confédéral der CGT zurück, Pascal
Joly aus dem Regionalverband der Pariser Großregion. Es ist das
erste Mal seit 2001, als Bernard Thibault dieses Gremium
verließ, dass eine solche Doppelmitgliedschaft besteht. Alte
(scheinbare) „Pracht & Herrlichkeit“ der früheren KP-Kontrolle,
die seit den 1940er Jahren die – in ihrer Gründungsphase
einstmals anarcho-syndikalistische – CGT erfasst hatte, dürften
kaum zurückkehren. Denn Erstens ist die Partei selbst heute
weitgehend kompass- und strategielos und kann keine „Linie“ mehr
vorgeben, weil die französische KP selbst längst über keine
einheitliche Linie mehr verfügt, sondern lokale Strategien sich
durchwurschteln. Zum Zweiten ist die, faktisch heute als
linkssozialdemokratische Partei funktionierende, französische KP
längst nicht mehr Trägerin einer „gesellschaftlichen
Alternative“, das einstmals in Gestalt eines auf mehreren
Kontinenten existierenden Gesellschaftssystems greifbar
erschien.
Die
ersten Ankündigungen der neuen Führung deuten darauf hin, dass
diese verstärkt durch die Mobilisierung ihrer Basis in sozialen
Kämpfen ihre Legitimation suchen wird – was erst einmal auf
keine Fall schädlich sein kann. Martinez kündigte an, zu einer
zentralen frankreichweiten Großdemonstration (voraussichtlich im
März oder Anfang April 15) gegen die Austeritätspolitik zu
mobilisieren. Diese soll gemeinsam mit anderen Kräften
organisiert werden – nur deswegen wurde bislang noch kein
präziseres Datum genannt, um Gesprächen mit den übrigen
Gewerkschaftsverbänden nicht vorzugreifen -, wozu der
Dachverband FO bereits seine Bereitschaft signalisiert hat.
Ferner ging der 53jährige Ex-Metaller für eine neue Offensive
zur Arbeitszeitverkürzung, auf 32 Stunden wöchentlich, in die
Offensive. Diese Punkte deuten für’s Erste in eine richtige
Richtung. Doch noch ist nicht aller Tage Abend.
Editorische
Hinweise
Wir erhielten
den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
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