Entwicklung der Arbeitszeiten in Deutschland

02-2015

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Die Arbeitszeit unterliegt ständigem Wandel. Betriebe stellen ihre Zeitregime um, passen sich der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen sowie Veränderungen auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes an, scheiden vom Markt aus oder kommen neu hinzu. Der wirtschaftliche Strukturwandel hinterlässt Spuren in den Arbeitszeiten. Impulse gehen auch von den Beschäftigten aus. Einem Teil gelingt es, Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit an veränderte Präferenzen, Lebenslagen und Arbeitsbedingungen anzupassen. Entscheidende Weichenstellungen für die Gestaltung der Arbeitszeit durch Betriebe und Beschäftigte gehen von veränderten gesetzlichen, tariflichen und betrieblichen Regelungen aus, so beispielsweise vom Flexi II-Gesetz, den Demografietarifverträgen in der Stahl- und in der chemischen Industrie sowie zahlreichen betrieblichen Vereinbarungen zu Arbeitszeitkonten. Dieser Wandel lässt sich aus der Vogelperspektive, gestützt auf hochaggregierte Daten, nur in groben Linien und Mustern nachzeichnen. Für die Feinstrukturen fehlen systematische Daten vor allem über die Nutzung von flexiblen Arbeitszeitmodellen, von Wahlarbeitszei-ten, Sabbaticalzeiten oder Vertrauensarbeitszeiten.

Gleichwohl lassen sich Tendenzen und Strukturen in den drei Dimensionen der Arbeitszeit ausmachen: Dauer, Lage und Verteilung.(2) Ihre Kombination bildet das Profil der Arbeitszeit, das im umgekehrten Sinn das Profil der komplementären Zeit, also nichterwerbsgebundenen Zeit konfiguriert, die für private oder gesellschaftliche Aktivitäten zur Verfügung steht und den Nutzen dieser Zeiten bestimmt. Diese Di-mensionen der Arbeitszeit werden separat betrachtet. Nicht erfassen lässt sich dabei, dass die frühere klare Abgrenzung von Arbeitszeit und Komplementärzeit in Teilbereichen der Wirtschaft schwindet und die Arbeitszeit in den Bereich der Nichterwerbszeit eindringt, der umgekehrte Fall ist nicht bekannt. Man bezeichnet diesen Prozess als Entgrenzung der Arbeitszeit (Jurczyk 2010).

Dauer

Die Dauer der Arbeitszeit entwickelt sich in unterschiedliche, teilweise gegenläufige Richtungen und zeigt ein fragmentiertes und in mehrfacher Weise polarisiertes Muster:

  • Langfristig nimmt die durchschnittlich normalerweise geleistete Wochenarbeitszeit je Beschäftigten ab. Zwischen 1992 und 2012 sank sie um gut 2,5 Stunden oder 6,8 Prozent von 38,1 auf 35,5 Stunden (Statistisches Bundesamt 2014).(3)
  • Gleichzeitig ging die Arbeitszeit der weiblichen Beschäftigten um 10,3 Prozent von 34 auf 30,5 und der männlichen Beschäftigten um 2,9 Prozent von 41 auf 39,8 Stunden zurück.(4) Die Arbeitszeitkluft zwischen Frauen und Männern ver-größerte sich von 7,8 auf 9,3 Stunden. Die Entwicklung tendiert nicht zu Konvergenz.

  • Der Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit ist wesentlich auf die annähernd verdoppelte Teilzeitquote (Anstieg von 14,3 auf 27 Prozent) zurückzuführen; zudem sank die durchschnittliche Arbeitszeit der Teilzeitbeschäftigten von 20 auf 18,2 Stunden.(5)

  • Die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten blieb da-gegen in etwa konstant und lag 2012 bei 41,9 Stunden und damit um gut vier Stunden über der durchschnittlichen tariflichen Arbeitszeit (37,7 Std.).

  • In etwa konstant blieb auch die tarifliche Wochenarbeitszeit mit 37,7 Stunden in Westdeutschland, insofern gingen hiervon keine Impulse mehr für einen Rückgang der geleisteten Arbeitszeit aus (siehe Kapitel 2).

  • Die Zahl der Überstunden sinkt. Verkehrt hat sich das Verhältnis zwischen bezahlten und unbezahlten Überstunden. 1992 leisten die Beschäftigten durchschnittlich 48,8 bezahlte und 23,1 unbezahlte Überstunden pro Jahr. 20 Jahre später lagen die Vergleichswerte bei 20 bzw. 27,2 Überstunden (Abbildung 1). Diese inverse Entwicklung könnte mit dem wachsenden Bereich hochqualifizierter Beschäftigter einerseits (mehr unbezahlte Überstunden) und der Expansion betriebs-ratsfreier Zonen (ebenfalls mehr unbezahlte Überstunden) andererseits zu tun haben.

  • Etwa 14 Prozent der Männer und knapp 5 Prozent der Frauen leisten überlange Arbeitszeiten von 45 Stunden und mehr (Abbildung 2), die Anteile sind seit 2001 leicht gestiegen.

  • Hoch qualifizierte Beschäftigte (Hochschulabschluss) arbeiten mit 41 Stunden durchschnittlich etwa sechs Stunden pro Woche länger als Geringqualifizierte (35 Stunden).(6)

  • In Paargemeinschaften mit Kindern, in denen beide Partner erwerbstätig sind, kommt 2011 mit 70 Prozent am häufigsten die Eineinhalb-Erwerbs-Variante vor, bestehend aus Vollzeittätigkeit des Mannes und Teilzeitarbeit der Frau (Keller & Haustein 2013). 1996 entschieden sich lediglich 53 Prozent für dieses Modell. Dagegen hat das Modell der doppelten Vollzeittätigkeit an Bedeutung verloren und ging zwischen 1996 und 2012 von 45 auf nur noch 25 Prozent zurück (zu den Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland siehe Kapitel 6). Gleichzeitig stieg die Erwerbstätigenquote der Mütter von 55,0 auf 60,3 Prozent und die der Väter sank leicht von 89,8 auf 84,1 Prozent.

Arbeitsvolumen

Trotz der beschriebenen trendmäßigen Abnahme der durchschnittlichen Arbeitszeitdauer je Beschäftigten liegt das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen 2012 in etwa auf dem Niveau von 1995, da im gleichen Zeitraum die Zahl der Erwerbstätigen von 37,73 Mio. um gut 10 Prozent auf 41,55 Mio. gestiegen ist (Abbildung 3). Dieser Anstieg der Erwerbstätigkeit steht im Zusammenhang mit der Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit, insbesondere in Teilzeit (siehe Kapitel 6).

Lage

Bei der Lage der Arbeitszeit setzt sich der Trend zu atypischen Arbeitszeiten fort (Abbildung 4).(7) Über die Hälfte (57 Prozent) aller Beschäftigten arbeitet mittlerweile zumindest hin und wieder entweder nachts, im Schichtsystem oder am Wochenende. Die einschichtige Normalarbeitszeit an den Tagen Montag bis Freitag erodiert, die Arbeitszeit dringt immer häufiger in das Wochenende hinein. Der den gewerkschaftlichen Kampf um die Fünftagewoche begleitende Slogan aus den 1950er Jahren „Samstag gehört Vati mir" kehrt sich allmählich um, immer mehr Väter und Mütter müssen auch am Samstag die Familie allein lassen.

Verteilung

Die zweifelsohne bedeutsamste Veränderung der Arbeitszeit stellt der Wechsel von der gleichförmig zur variabel verteilten Arbeitszeit dar. Er basiert vor allem auf der Einführung von Arbeitszeitkonten. Sie ermöglichen, die Arbeitszeitdauer von Tag zu Tag oder Woche zu Woche zu variieren und entweder nach den Vorgaben der Betriebe an eine schwankende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen oder an wech-selnde Zeitanforderungen der Beschäftigten anzupassen. Den Extremfall variabler Arbeitszeiten bilden Vertrauensarbeitszeiten, bei denen Ergebnissteuerung die Steuerung der Arbeit durch die Zeit ersetzt. Mehr als die Hälfte der über die WSI Betriebs-rätebefragung(8) erfassten Beschäftigten organisiert mittlerweile die Arbeitszeit mit Hilfe von Zeitkonten (Abbildung 5(9)).(10) Neben Gleitzeitkonten findet man vor allem Überstundenkonten, Jahresarbeitszeitkonten, Lernzeitkonten (für Weiterbildungszwecke), Flexi-Konten (zum Ausgleich von vor allem konjunkturellen Auftragsschwankungen), Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten.

Fußnoten

2) Für die Auswertungen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) danken wir Susanne Schulz, WSI in der Hans-Böckler-Stiftung.
3) Dieser Wert liegt leicht unter dem europäischen Durchschnitt von 37,3 Stunden. Am kürzesten in der EU wird in Dänemark mit 33,6 Stunden gearbeitet und am anderen Ende der Skala rangieren die Beschäftigten in Griechenland mit 42,0 Stunden.
4) Die Daten wurden freundlicherweise durch das Statistische Bundesamt zur Verfügung gestellt und basieren auf einer Sonderauswertung des Mikrozensus.
5) Diese Daten enthalten einen nicht genau quantifizierten Anteil von Minijobbern.
6) Die Daten basieren auf einer Auswertung des SOEP für 2012.

7) Die Daten beinhalten ständige, regelmäßige und gelegentlich geleistete Arbeitszeiten.

8) In der WSI Betriebsrätebefragungen sind ausschließlich Betriebe mit mindestens 20 Beschäftig-ten und Betriebsrat erfasst.
9) Mehrere Konten parallel mit unterschiedlichen Ausgleichszeiträumen sind möglich.
10) Das Statistische Bundesamt beziffert für 2010 den Anteil der Beschäftigten mit flexiblen Arbeitszeiten auf 36 Prozent, etwa ein Viertel arbeitet auf Basis von Zeitkonten und gut 10 Prozent mit Gleitzeitregelungen (Statistisches Bundesamt 2012). Gleitzeit wird hier nicht als Zeitkonto kategorisiert. Deutlich höhere Werte weisen dagegen andere Untersuchungen auf. Groß und Schwarz (2010) beziffern für 2007 den Anteil der Beschäftigten auf 47 Prozent und Zapf und Brehmer (2010) für 2009 auf 51 Prozent.

Editorische Hinweise

Der Leseauszug wurde entnommen aus:  WSI Report 19, November 2014, Arbeitszeiten in Deutschland, S. 5-8, die Grafiken wurden nicht übernommen. Die komplette Ausgabe kann hier heruntergeladen werden: http://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_19_2014.pdf