Brasilien
Subversives Reinbummeln aus den Slums in die Einkaufszentren

von
Raúl Zibechi / übersetzt von Michèle Mialane

02-2014

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Gruppen von Teenagern (15 bis 20 Jahre) treffen sich massenweise in den brasilianischen Einkaufszentren, insbesondere inSão Paulo, aber die Mode erstreckt sich allmählich aufs ganze Land. Sie wollen einfach mal ausgehen, Spaß haben, tanzen und singen auf funk ostentação -Rhythmen, ein Musikstil, der aus dem Funk von Rio de Janeiro abgeleitet wird und der den Konsum, die Luxusmarken, das Geld und das Vergnügen verherrlicht. Jene Jugendliche kommen aus den Vororten von São Paulo, sind arm und folglich sehr oft Schwarze..

Die rolezinhos (aus dar um rolé, herumbummeln) werden seit Jahren von StudentInnen, Fans von Sängern oder Sportstars unternommen. Eines der bekanntesten findet seit 2007 von StudentInnen der Wirtschaftlichen Universität von São Paulo (USP) im Shoppingzentrum Eldorado statt. Nie wurden die TeilnehmerInnen vom Sicherheitsdienst niedergehalten oder auch nur gestört, obwohl sie massenweise und unangemeldet herbeistürmen. Sie stoßen aggressive Schreie aus und wenn einige auf einen Tische steigen, werden sie von den Wächtern höflich gebeten, herunterzusteigen (Folha de São Paulo vom 21. Januar 2014)

Handelt es sich dagegen um Jugendliche aus den Vororten, werden sie von den Geschäftsinhabern der Einkaufszentren unter dem Vorwand juristischer Beschlüsse gefiltert, die Verkäufer schließen ihre Läden und die KundInnen beschimpfen sie und behandeln sie als Verbrecher. Dadurch entsteht eine Stimmung, die der Brasilianischen Militärpolizei, weltweit eine der mörderischsten, den Weg ebnet.

Die Journalistin Eliane Brum fragt sich: „Warum werden die schwarzen Jugendlichen aus den Vororten des Großen São Paulo kriminalisiert?“ (El País - Brasil vom 23. Dezember 2013) . Ihrer Meinung nach ist es in der brasilianischen Vorstellungswelt eine Transgression, wenn junge Arme sich außerhalb der Grenzen ihres Ghettos zu vergnügen und Konsumwaren zu besitzen wünschen, „weil die Einkaufszentren errichtet wurden, damit sie draußen bleiben“. Und nicht nur die Shoppingszentren, sondern die Gesellschaft überhaupt.

Jedes Mal, wenn die von unten sich bewegen, sichtbar werden, auch wenn sie dabei bloß die Peripherie verlassen wollen und dazu sogar die Richtlinien der kapitalistischen Gesellschaft benutzen, werden sie diskriminiert und bestraft, weil sie Räume besetzen, die ihnen nicht gehören. In diesem Fall begehen sie eines der größten Verbrechen: nicht nur fordern sie die Reichen heraus, indem sie auf ihren braunen Leibern die selben Sachen zur Schau tragen, wie die Reichen, sondern sie wollen auch die neuen Tempel der Mittel- und höheren Stände -deren geheiligte Räume- besetzen.

Wenn die Peripherie in Bewegung kommt, so enthüllt sie die Machtbeziehungen, die im Alltag von dem Beharrungsvermögen, dem von den Medien, Religionen und Ideologien eingeflößten Glauben verhüllt werden. Das Einzige, was sie ans Licht gerückt haben, ist das Machtgewebe: die Rolle des Justiz- und Repressionsapparates als Diener des Kapitals, die Art, wie Rassismus und Klassen ineinander verstrickt sind, und zu Achsen der Unterdrückung und der Ausbeutung werden, die Rolle der Stadt als ein Raum der Grundstückspekulation - mit anderen Worten: des städtischen Extraktivismus.

Die dritte Frage geht unsselber an. Ich hab einen Freund, einen Aktivisten des Movimento Passe Livre (Bewegung für kostenlose öffentliche Verkehrsmittel), die im Juni 2013 eine wichtige Rolle bei den Protesten spielte und ich habe ihn nach seiner Meinung über die aktuellen Vorgänge gefragt. Genervt gab er mir zur Antwort, dass er es satt hatte, von anderen gedeutet zu werden, insbesondere von Menschen, die in keinerlei Zusammenhang mit den Kämpfen stehen, sich aber zu Experten aufblasen, so dass eine koloniale Machtbeziehung entsteht, vom Subjekt zu Objekt, die jene von unten immer wieder in eine zweitrangige Stellung verdrängt.

Binnen paar Tage las und hörte man eine Fülle Auslegungen, die das Handeln der Jugendlichen zu erklären behaupteten und meist daneben schlugen. Die schädlichsten Auslegungen stammen von linken Personen und Gruppen. Als im Juni 2013 während der Konföderationen-Pokalspiele demonstriert wurde, hatten jene die Demos als Provokationen, die zu Gunsten der Rechte benutzt werden konnten, bezeichnet. Ein absurdes, aber wirksames Kalkül, wenn man die Menschen isolieren und entmutigen will.  < Im Falle der rolezinhos behaupten eben die selben Leute, dass es sich dabei um „entpolitisierte Aktionen“, um „Handlungen von Nicht-Engagierten“ und dass diese jungen Menschen sich schließlich nur durch den Konsum zu integrieren versuchen. Hier spielt auch ein „altersbedingtes“ Vorurteil mit: die alte Generation- zu der ich auch gehöre - predigt gerne vor jungen Menschen über das Korrekte und Nicht-Korrekte, und dabei tun sie so überlegen, wie die Parteifunktionäre, die uns 1969 und  1970 eines Besseren belehren wollten.

Am schlimmsten ist aber, dass soziale Kämpfe mythologisiert werden. Die Petersburger Arbeiter haben die Politik nicht aus Lenins und Trotzkis Reden und Schriften gelernt, sondern aus den Schießkugeln des Zaren, als sie in Richtung Winterpalast zogen, um einen Forderungskatalog zu überreichen, unter Führung des Priesters Gapone - eines Mitarbeiters der Geheimpolizei. Der Blutige Sonntag lehrte die russischen Arbeiter, was Politik ist. Etwas Ähnliches hat sich ereignet, als im Oktober 1789 Frauen auf Versailles marschierten, was den Untergang der Monarchie markierte.

Was für eine Rolle Ideologien und Anführer in Revolutionen und Umwandlungsprozessen spielen, bleibt bis heute höchst unklar. Reine Spontaneität, die es laut Gramsci nicht gibt, kann nicht sehr weit führen und endet oft mit blutigen Niederlagen. Die „bewusste (externe) Leitung “ ist aber keine Garantie für Enderfolg. Vielleicht können wir voneinander zu lernen versuchen, vor allem, wenn Vororte sich in Bewegung setzen und unser altes Wissen in Frage stellen.

Editorische Hinweise

Danke Tlaxcala

Quelle: http://www.jornada.unam.mx
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 24/01/2014
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=11249