Die
Lebensphilosophie selbst geht rasch über die eben
charakterisierte
"existentialistische"
Episode hinweg und wendet sich einer offeneren,
kämpferischeren Vorbereitung der kommenden
barbarischen Reaktion zu. Hierin liegt die Bedeutung
der Philosophie von Ludwig Klages. Er ist als
Schriftsteller schon in der Vorkriegszeit aufgetreten.
Ursprünglich führendes Mitglied des Georgekreises,
trennt er sich aber von ihm und geht seine eigenen
Wege. Er verwandelt eigentlich die Lebensphilosophie
in ein offenes Bekämpfen von Vernunft und Kultur. (Wie
sehr es sich hier um Zeitströmungen und nicht um
einzelne Individualitäten handelt, zeigt die
auffallende Parallelität der Denkrichtung des
politisch links orientierten Theodor Lessing.) Bei
Klages tritt der anthropologische Zug der
Lebensphilosophie noch entschiedener hervor als bei
seinen Vorgängern. Ein großer Teil seiner
literarischen Wirksamkeit ist auf dieses Gebiet, auf
die Begründung der neuen Wissenschaft der
„Charakterologie" gegründet. Hier ist bereits die
vollständige Auflösung einer jeden objektiven
Erkenntnis in der Typenlehre da.
Während die
anthropologische Typologie bei Dilthey noch der objektiven
Wissenschaft untergeordnet war, während sie ihr bei Jaspers
bereits übergeordnet wird, bedeutet sie bei Klages einen
frontalen Angriff auf den Geist der Wissenschaftlichkeit, auf
die Rolle, die Vernunft, Erkenntnis, Geist in der gesamten
Entwicklung der Menschheit spielten und spielen.
Die
Grundkonzeption von Klages ist höchst einfach: es gibt ein
allgemeines kosmisches Leben, an welchem die Menschen am Anfang
ihrer Entwicklung naturgemäß beteiligt waren: „Wo immer
lebendiger Leib, da ist auch Seele; wo immer Seele, da ist auch
lebendiger Leib. Die Seele ist der Sinn des Leibes, das Bild des
Leibes die Erscheinung der Seele. Was immer erscheint, das hat
einen Sinn, und jeder Sinn offenbart sich, indem er erscheint.
Der Sinn wird erlebt innerlich, die Erscheinung äußerlich.
Jener muß Bild werden, wenn er sich mitteilen soll, und das Bild
muß wieder innerlich werden, damit es wirke. Das sind, ohne
Gleichnis gesprochen, die Pole der Wirklichkeit."(1)
Dieser
kosmisch-naturgemäße, organisch-lebendige Zustand wird durch den
„Geist" verdrängt und zersetzt. „Das Gesetz des Geistes trennt
ab vom Rhythmus des kosmischen Lebens."(2)
Das ist der
Inhalt der menschlichen Geschichte, „daß über die Seele sich
erhebe der
Geist,
über den
Traum die
begreifende
Wachheit,
über das Leben,
welches wird und vergeht, ein auf Beharren gerichtetes Wirken."(3)
Wie der ungeheure Umschwung sich vollzogen hat, weiß niemand:
Tatsache ist nur,
„daß eine
außerweltliche Macht in die Sphäre des Lebens einbrach"(4).
(Klages verdreht
hier mystisch-reaktionär die Bachofensche Darstellung des
Urkommunismus.) Wenn es aber auch unbekannt ist, wieso der Geist
zur Herrschaft gelangt ist, seine Wirksamkeit ist für Klages
völlig evident: „das Leben zu töten"(5).
Die ganze
Philosophie von Klages ist nur die Variation dieses einen
primitiven Gedankens. Seine Bedeutung hegt darin, daß die
Vernunft vor ihm noch nie so offen und radikal bekämpft worden
ist. Er nennt ihre Tätigkeit eine „Verruchtheit"(6),
einen „Frevel"(7).
Der Drang nach Wissen wird mit der ordinären Neugier auf ein
Niveau gesetzt. Klages gibt gelegentlich eine Beschreibung des
Jünglings, der nach der Sage das verschleierte Bild von Sais
enthüllen wollte: „Weshalb will eigentlich der Jüngling den
Schleier heben? Aus Forschbegierde oder, ganz nüchtern
gesprochen, aus
Neugierde?
Zwischen
Forschtrieb und Neugier besteht kein essentieller Untei-schied.
Jener wie dieser entspringt aus einer Beunruhigung des
Verstandes, und den Verstand beunruhigt alles, was er noch nicht
besitzt. Erkenntnistrieb ist Aneignungstrieb .. . und wessen
sich der Geist bemächtigt, ist unfehlbar entzaubert, und es ist
mit ihm zerstört, wenn es dem Wesen nach ein Geheimnis war."(8)
Und darin hegt nach der Klagesschen Auffassung eben das
Frevelhafte jeder Wissenschaftlichkeit; denn das philosophisch
Wesentliche ist keineswegs eine Erkenntnis, sondern nur „Wissen
um Geheimnisse"(9)
Nur wenn diese
Achtung vor dem Geheimnis bewahrt bleibt, ist eine lebendige
Beziehung zum Leben möglich. Es ist klar, daß bei Klages auf
diese Weise die Kategorie „Leben" eine jede Beziehung zur
Biologie verliert; er spricht offen aus, daß die Biologie nicht
weiß, „worin das Lebendigsein der lebenden Dinge bestehe."(10)
Es ist dabei charakteristisch, daß Klages, wie alle seine
lebensphilosophischen Kollegen, mit der Prätention auftritt,
sich über den Gegensatz von Idealismus und Materialismus zu
erheben. Der Scheingegensatz von Sein und Bewußtsein verdeckt
nämlich, nach der Auffassung von Klages, „was weder cogitare
noch esse, weder Geist noch
Leben . .. Der Geist erkennt, daß Sein ist, aber nur das Leben
lebt."(11)
Diese Auffassung des Lebens ist der bisher erreichte Gipfelpunkt
des lebensphilosophischen Irrationalismus, hier aber zugleich
nicht mehr einfache nihilistische Verneinung, sondern ein
Umschlagen in unmittelbaren Mythos. Klages gibt eine
Erkenntnistheorie seiner neuen Mythenlehre, indem er gegen das
Ding das Bild ausspielt. Das Ding ist ein totes Produkt des
Geistes, das Bild eine beseelte Erscheinung. An diese
Gegenüberstellung knüpft Klages seine Erkenntnistheorie, die
wiederum für die mythenschaffende Etappe der Lebensphilosophie
charakteristisch und bedeutsam wird, obwohl sie an sich
rein sophistisch ist. Klages akzeptiert nämlich für die Welt des
Geistes die Erkenntnistheorie der Neukantianer und Positivisten,
um ihr in der Welt der Seele eine
demagogisch-pseudomaterialistische Auffassung von Subjekt und
Objekt gegenüberzustellen. Er sagt: „Das Bild hat
bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit (denn es bleibt gänzlich
unberührt davon, ob ich mich hernach seiner erinnere oder
nicht); das Ding ist in die Welt vom Bewußtsein hineingebracht
und existiert nur
für
eine Innerlichkeit
persönlicher
Wesen."(12)
Bekanntlich ist die Unabhängigkeit der materiellen Welt die
Grundlage der Erkenntnistheorie des philosophischen
Materialismus. Es ist charakteristisch, daß Klages sie gerade
dort zu rezipieren vorgibt, wo es sich um das Allersubjektivste,
um die Produkte der Phantasie handelt. Aber eben diese Sophistik
ist für den Pseudoobjektivismus der lebensphilosophischen
Mythenlehre charakteristisch.
Zu dieser
Erkenntnistheorie der mythisch gewordenen Lebensphilosophie
gehört naturgemäß auch eine eigene Zeittheorie, eine Entdeckung
der „wirklichen Zeit", welche von der der Verstandeswelt ebenso
radikal verschieden ist wie bei Bergson oder Heidegger. Die
Polemik von Klages richtet sich aber hier gegen die Zukunft, die
„keine Eigenschaft der wirklichen Zeit" ist. Erst die
„prometheische Menschheit erhob das Zukünftige auf die
gleiche
Wirklichkeitsstufe
mit dem Vergangenen ... die herakleische der
,Weltgeschichte' erschlug und erschlägt mit dem Hirngespinst der
.Zukunft' die Wirklichkeit des Gewesenen . . . zerreißt den
befruchtenden Zusammenhang der Nähe mit der Ferne, um an dessen
Stelle zu setzen das ahasverisch hinausjagende
Bezogensein
der Gegenwart auf
jenes Gespenst der Ferne, das Zukunft heißt"(13).
Die wirkliche Zeit ist dagegen ein „Strom mit der Richtung
aus
der Zukunft
in
die Vergangenheit"(14).
Wir sehen also
auch bei Klages einen Kampf gegen die Wirklichkeit einer
Weltgeschichte, die als Frevel des Geistes und der Vernunft
erscheint, an der es am verruchtesten ist, daß sie sich für die
Zukunft Ziele zu setzen wagt und damit das Eingebettetsein der
Seele in den Mythos, in die Herrschaft des Vergangenen zerstört.
Es muß wohl nicht besonders hervorgehoben werden, daß die
Zeittheorie von Klages und seine mit ihr eng verbundene
Geschichtsauffassung aus demselben geseUschaftlichen Bedürfnis
der imperialistischen Bourgeoisie, aus dem Bedürfnis, den
Sozialismus zu bekämpfen, entsprang wie die entsprechenden
Lehren von Spengler oder Heidegger. Die Nuance der Divergenz ist
sachlich ohne Belang, da bei ihnen gleichermaßen die wirklichen
Zusammenhänge der objektiven Realität resolut auf den Kopf
gestellt werden; sie alle bezeichnen bloß verschiedene Etappen
des deutschen Irrationalismus auf dem Weg zu Hitler.
So entsteht eine Welt
der Leere, Öde, Entseeltheit und der Verruchtheit. Die Welt des
Mythos vermochte nicht, sich gegen den Einbruch des Geistes zu
schützen, aber sie waltet als dunkles Schicksal über der Welt
der herrschenden Vernunft. Vom Untergang Roms bis zum
prophezeiten Untergang der gegenwärtigen Staaten sieht Klages
überall diese Rache der unterjochten mythischen Mächte. Die
einzige Aufgabe, die seine Philosophie den Menschen stellen
kann, ist nur, sich von der verruchten Welt des Geistes zu
befreien: „die Seele zu retten!"(15)
Wir sehen bei Klages
schon sehr ausgeprägt die neue Etappe der Lebensphilosophie.
Sie ist einerseits in einer ganz anderen Weise offen militanter
Feind der Vernunft geworden als bei den früher behandelten
Denkern, andererseits tritt bei ihm seit Nietzsche zum erstenmal
— wenn wir von der Episode Spengler absehen — die
Lebensphilosophie offen als konkrete Mythen schaffend auf. Damit
wird Klages ein unmittelbarer Vorläufer der
„nationalsozialistischen Weltanschauung", was deren offizielle
Philosophie auch immer dankbar anerkennt. Sie tut das freilich
mit bestimmten Vorbehalten; denn erstens ist Klages zwar ein
militanter Lebensphilosoph — aber noch auf der Grundlage des
alten, apolitischen Individualismus; das Terrain seines Kampfes
kann nur das Kaffeehaus oder der Salon sein; sein Kampf kann
unmöglich auf die Straße hinausgetragen werden. Zweitens und vor
allem, weil bei Klages zu den verderblichen, kulturzersetzenden
Folgen des Geistes auch der Krieg gehört. Das ist natürlich ein
Punkt, wo für die Nationalsozialisten jede Pietät dem
verdienstvollen Vorläufer gegenüber aufhören muß. Diesen
Pazifismus und diesen Individualismus von Klages kritisieren
auch seine faschistischen Verehrer.
Der Übergang der
Lebensphilosophie zum Faschismus vollzieht sich denn auch so,
daß mehrere militante Lebensphilosophen auftreten, in deren
Schriften der Gegensatz von Leben und Tod gesellschaftlich und
politisch aufgefaßt wird, in denen der Kampf um die Vernichtung
der Vernunft einen sozialen Akzent erhält. Diese Etappe der
Lebensphilosophie entsteht zumeist auf der Grundlage jener
kleinen Gruppen und Bünde, die in der zweiten Hälfte der
zwanziger Jahre massenhaft herangewachsen sind, deren
politisch-soziale Bestrebungen von einer zuweilen ehrlich
gemeinten Sympathie mit dem Sozialismus bis zur größten Nähe
zum Nationalsozialismus hin und her schillerten, freilich bei
dem größten Teil mit starkem Überwiegen der letzteren Tendenz.
Aus der ziemlich großen Literatur dieser Art greifen wir hier
nur einen besonders prägnanten, scharf rechts gerichteten
Vertreter heraus: Ernst Jünger. Jünger hat als junger Mensch am
ersten imperialistischen Weltkrieg teilgenommen und schilderte
dann in wirksamen und nicht wertlosen Erzählungen die
maschinellen Schrecken des Krieges im ständigen Zusammenhang mit
dem erhebenden „Fronterlebnis", das nach der Auffassung der
militanten jüngeren Generation der Lebensphilosophen die innere
Grundlage der zukünftigen Erneuerung Deutschlands bildet. Die
Verknüpfung von Maschinenschlacht und Fronterlebnis macht aus
Jünger einen der ersten Propagandisten der „totalen
Mobilisation".
Diese Fragestellung
verschiebt den Inhalt des Gegensatzes von Lebendigem und
Erstarrtem. Indem Schriftsteller von der Art Jüngers den
modernen Krieg bejahen, müssen sie darauf verzichten, alle
Erscheinungsformen des modernen Kapitalismus nach der Art von
Heidegger, Jaspers und Klages, die in dieser Hinsicht auf einer
Linie stehen, als Erstarrtes, als totes „Gehäuse" zu verwerfen.
Der Trennungsstrich zwischen Tod und Leben verläuft bei Jünger
zwischen dem pazifistisch bürgerlichen Kapitalismus der Weimarer
Republik und der erträumten Erneuerung eines aggressiven,
preußisch-deutschen Imperialismus. Hiei setzt die Einschaltung
der sozialen Demagogie, die Einbeziehung der Arbeiterklasse in
diese imperialistischen Projekte ein. Die Kriegsliteratur vom
Typus Schelers und Sombarts, sowie vor allem Spenglers
„Preußentum und Sozialismus" waren die Vorläufer dieser neuen
Synthese. Aber erst bei Jünger wird der Gegensatz von
Proletariat und Bourgeoisie lebensphilosophisch interpretiert,
um so für den ersehnent neuen imperialistischen Krieg, als
Relevation des Lebens der toten bürgerlichen Welt gegenüber, die
notwendige breite soziale Basis zu gewinnen. Damit nimmt der
lebensphilosophische Irrationalismus ganz offen seine
reaktionär historische Mission, die direkte Bekämpfung der
Weltanschauung des Proletariats, des Marxismus-Leninismus auf.
Was bei den früheren Vertretern der Lebensphilosophie erst durch
Entzifferung verzerrter und dunkler, scheinbar darauf nicht
bezüglicher Theorien gezeigt werden mußte, wird hier zur offenen
Aussage. Es erweist
sich zugleich, was freilich schon bei Spengler vorhanden war,
daß dieser Kampf bei all seiner Offenheit und Frontalität ein
indirekter und demagogischer ist: Spengler und Jünger versuchen
gar nicht, wie die vor- oder frühimperialistischen Apologeten,
die Überlegenheit des Kapitaüsmus dem Sozialismus gegenüber
nachzuweisen, sondern spielen gegen den wirklichen Sozialismus
einen „Sozialismus" getauften Monopolkapitalismus als
Gesellschaftssystem der Zukunft aus. Spengler hat aber dabei
noch das Proletariat ignoriert, Jünger spricht bereits, wie
Hitler, demagogisch in dessen Namen.
Jünger faßt diese
Anschauungen in einem programmatischen Buch zusammen: „Der
Arbeiter. Herrschaft und Gestalt." Die „Gestalt" ist schon seit
langer Zeit eine der zentralen Kategorien der Lebensphilosophie.
(Man denke an die „Morphologie" Spenglers.) Hier tritt sie als
Zentralbegriff der mythenschaffenden Tendenz auf. Nach Jünger
ist schon die Methodologie, die aus den Gestalten hervorgeht,
revolutionär: „Das Sehen von Gestalten ist insofern ein
revolutionärer Akt, als es ein Sein in der ganzen und
einheitlichen Fülle seines Lebens erkennt. Es ist die große
Überlegenheit dieses Vorganges, daß er sich jenseits sowohl der
moralischen und ästhetischen, als auch der wissenschaftlichen
Geltung vollzieht."(16)
„Revolution" ist hier selbstverständlich in der faschistischen
Weise zu verstehen: als eine Vernichtung der
demokratisch-parlamentarischen Herrschaftsformen in einer
Weise, die demagogisch vorgibt, mit ihnen und in ihnen die
bürgerliche Gesellschaft zu überwinden. Die miütante
Lebensphilosophie von Jünger verwirft Geist und Vernunft ebenso
radikal wie die von Klages, aber die Stimmung, der Ton hat sich
vollkommen verändert; aus Moral und Geschichtsphilosophie wird
hier Politik. Jünger spricht nicht von der Verruchtheit und dem
Frevel, sondern vom „Hochverrat des Geistes"(17).
Auch der radikale Subjektivismus der Lebensphilosophie erhält
bei Jünger eine weitere Steigerung und eine Wendung ins
Historisch-Politische. Er sagt über die Entstehung des Mythos:
„Der Sieger schafft den Mythos der Geschichte"(18),
womit das Leugnen einer jeden historischen Objektivität seinen
zynisch-offenen Gipfelpunkt erhält.
Der
geschichtsphilosophische Grundgedanke, in dem sich diese neue
militante Etappe der Lebensphilosophie äußert, ist ziemlich
einfach und primitiv. Die „Gestalt" des Arbeiters, aus der alles
ökonomische und Klassenmäßige sorgfältig entfernt wird,
repräsentiert in der Kultur der Gegenwart das Elementare, das
Leben — im Gegensatz zum Bürgertum, das von dessen Vorhandensein
nie eine Ahnung gehabt hat. Wir haben
bereits
darauf hingewiesen, daß diese neue Konzeption bestimmte
Tendenzen aus Spenglers „preußischem Sozialismus" weiterführt.
Es ist aber notwendig, auch auf den Unterschied hinzuweisen.
Spengler hat eine einfache Identifikation vollzogen. Jünger
sieht im Preußentum eine „Bändigung des Elementaren", und sagt
dann: „das Arbeitertum schließt
das Elementare
nicht aus, sondern ein"(19).
Hier ist
lebensphilosophisch die Begründung für die irrationalistische
soziale Demagogie gegeben. Die tote Welt des Bürgers ist eine
Welt der
„Sekurität". Diese
lebensphilosophisch-demagogische Kritik an der bürgerlichen
Kultur ist für die weltanschauliche Begründung des Faschismus
von größter Wichtigkeit. Im Gegensatz zu anderen reaktionären
Strömungen, die eine Rückkehr zu früheren, gesicherten,
„gebundenen" Perioden predigen, geht die Agitation des
Faschismus von der Krise selbst, von der Auflösung aller
gesicherten Bedingungen aus. Und da er im Inneren eine
vollkommene Willkürherrschaft aufrichten will, da seine
Haupttendenz die Organisation des imperialistischen
Aggressionskrieges ist, strebt er einem solchen militanten
Nihilismus, einer bewußten Erschütterung aller Gesichertheit in
der Existenz des Einzelmenschen zu. Darum soll die Ideologie der
„Sekurität" als tote und bürgerliche Auffassung um jeden Preis
verächtlich gemacht werden: der Faschismus will den Typus eines
durch nichts gehemmten, vor nichts zurückschreckenden brutalen
Landsknechts hochzüchten. Da nun die „Sekurität" eine Kategorie
des klassischen Humanismus Deutschlands war (Wilhelm von
Humboldt formulierte sie zuerst mit großer Entschiedenheit),
wird das feindliche Verhalten der führenden Ideologen des
Faschismus zu dieser ganzen Periode verständlich. (Wir weisen
nur beiläufig darauf hin, daß die Existentialphilosophie
Heideggers und Jaspers' in ihrer Weise viel zur Erschütterung
der Ideologie der „Sekurität" beigetragen hat.)
Die beiden
Gestalten, die des Arbeiters und die des Bürgers, stehen völlig
ausschließend einander gegenüber. Der Arbeiter repräsentiert ein
absolutes Anderssein dem Bürger gegenüber. Hier setzt nun die
radikal antihistorische, die Geschichte völlig zersetzende
mythische Geschichtsauffassung Jüngers ein: „Eine Gestalt
ist,
und keine
Entwicklung vermehrt oder vermindert sie.
Entwicklungsgeschichte ist daher nicht Geschichte der Gestalt .
. . Die Entwicklung kennt Anfang und Ende, Geburt und Tod, denen
die Gestalt entzogen ist. Die Geschichte bringt keine Gestalten
hervor, sondern sie ändert sich mit der Gestalt. Sie ist die
Tradition, die eine siegreiche Macht sich selbst verleiht."(20)
Damit ist die Geschichte aufgehoben. Die Lebensphilosophie ging
ursprünglich, mit Dilthey und Simmel,
darauf aus,
die Selbständigkeit der Geschichte der Naturgesetzlichkeit
gegenüber zu bewahren. Allerdings schon damals, besonders bei
Dilthey, mit der Nebentendenz: durch anthropologische
Grundlegung dem historischen Relativismus gegenüber einen Halt
zu gewinnen; bei Dilthey führte dies, wie wir gesehen haben, zu
einer Antinomie der anthropologischen und historischen
Gesichtspunkte. Das Bedürfnis nach Weltanschauung, die
Notwendigkeit der lebensphilosophisch ausdrückbaren
Weltanschauung, mußte, je größer ihre Prätention auf Konkretheit
war, desto mehr, die Geschichte immer energischer in einen
Mythos verwandeln. Die so entstandenen Mythen konnten nur durch
zu Wesenheiten aufgebauschte „Gestalten" der
lebensphilosophischen Anthropologie und Typologie bevölkert
werden. Je mehr die Entwicklung fortschreitet, desto mehr
verliert die wirkliche Geschichte eine jede Bedeutung für die
Vertreter der Lebensphilosophie. Sie wird bei Spengler durch
die Mythen verdrängt; sie versinkt bei Heidegger in der
Uneigentlichkeit; sie erscheint bei Klages als eine
Exempelsammlung zum Sündenfall der Menschheit infolge der
Herrschaft der Vernunft, des verruchten Geistes. So verschieden
alle diese Konzeptionen untereinander auch sein mögen, ihr
gemeinsamer Zug ist, daß das Historische als eine Scheinbewegung
einiger Typen erscheint. Und je militanter reaktionär diese
Mythen werden, je unmittelbarere Vorläufer des faschistischen
Mythos sie werden, desto stärker ist ihre feindliche
Polarisation, desto stärker ist die ganze, mystifizierte
Lebensgeschichte nur dazu da, die alleinige Lebensberechtigung
der einen „Gestalt" und die vollendete Verwerflichkeit der
anderen darzutun. Bei Jünger ist diese Entwicklungslinie soweit
vollendet, wie sie präfaschistisch nur sein kann. Zu Rosenberg
ist von hier aus nur ein ganz kleiner Schritt zu tun.
So bestimmt die
Gestalt des Arbeiters (die, wie bei Spengler und Hitler, nicht
nur den Soldaten, sondern auch den Unternehmer mit begreift) den
Mythos der heutigen Welt. Diese Welt ist eine
„Werkstattlandschaft" und, soweit es sich um die Welt des
Bürgers handelt, „Museum". Zur vollendeten Werkstattlandschaft
wird sie erst mit dem Sieg der Gestalt des Arbeiters, und damit
verwandelt sie sich zur „Planlandschaft", zum „im-perialen Raum"(21).
Der Mythos des Arbeiters ist bei Jünger der Mythos des
kriegerisch aggressiven Imperialismus.
Man sieht: die
militant gewordene Lebensphilosophie ist hier bereits nur wenige
Schritte von der „nationalsozialistischen Weltanschauung"
entfernt. Was sie trennt, ist im Grunde genommen nur der
sektiererische Zug in der Philosophie von Jüngei und
seinesgleichen. Innerlich sind diese bereits entschlossen, die
Lebensphilosophie aus den Gelehrtenstuben und
Intellektuellensalons auf die Straße zu tragen, hat doch ihre
Gedankentendenz bereits einen ausgeprägt politischen Charakter.
Aber ihre Methodologie und Terminologie sind noch tief erfüllt
von der esoterischen Weisheit kleiner geschlossener,
aufeinander eingearbeiteter Grüppchen.
Die sogenannten
philosophischen Vertreter der „nationalsozialistischen
Weltanschauung" machen sich das Erbe dieser ganzen
irrationalistischen lebensphilosophischen Entwicklung der
imperialistischen Periode, vor allem ihrer letzten Etappe, zu
eigen und gebrauchen es dazu, zwischen der in jeder Hinsicht
niveaulosen Agitation von Hitler und der von der
Lebensphilosophie erzogenen deutschen Intelligenz ideologische
Brücken zu bauen, diese — indem äußerlich wie innerlich ihre
eigene Sprache gesprochen wird — ins Lager des
Nationalsozialismus zu locken oder ihm gegenüber wenigstens
wohlwollend neutral zu machen. Die nationalsozialistische
Propaganda hat also Kreise von verschiedener Extensität.
Rosenberg steht etwa in der Mitte zwischen Hitler und den
offiziellen nazistischen Philosophen im engeren Sinne, den
Ideologen von der Art der Baeumler und Krieck.
Diese beiden, die
man als Repräsentanten der offiziellen nationalsozialistischen
Philosophie betrachten kann, nehmen den Jüngerschen Gedanken der
„totalen Mobilmachung" in ihre faschistische Vollendung der
Lebensphilosophie auf; beide setzen dessen demagogische Polemik
gegen Bürgertum, bürgerliches Zeitalter, bürgerliche Kultur
fort. Dabei ist es bezeichnend, daß — da diese Schriften sich
nicht an Arbeiter wenden — Baeumler und Krieck, den Traditionen
der bürgerlichen Philosophie und Soziologie der
imperialistischen Periode entsprechend, sich vorwiegend auf
Kulturkritik beschränken; vom Sozialismus, auch im Sinne der
demagogischen Agitation Hitlers und Rosenbergs, ist bei ihnen
wenig die Rede.
Nur ganz allgemein
stellt Baeumler die Aufgabe einer allgemeinen
„Ent-bürgerlichung". Die bürgerliche Kultur wird bei ihm
herabgesetzt und verächtlich gemacht. Dies geschieht aber
vorwiegend auf der Linie der allgemeinen Militarisierung. Die
Intelligenz soll zum „politischen Soldaten-tum" erzogen werden.
Baeumler schildert das Unglück der deutschen Geschichte des 19.
Jahrhunderts folgendermaßen: „Das eigentliche Verhängnis des
19. Jahrhunderts war, daß die humanistische Philosophie ind die
schweigende Philosophie der Soldaten des preußischen
General-tabs nicht zusammenstimmten."(22)
An anderer Stelle sieht er in der Tat-ache, daß Nietzsche und
Bismarck nicht zusammenfinden konnten, ein ymptom der
unrichtigen Entwicklung unter der Herrschaft des Bürgertums(23).
Damit steht Baeumler der Idee des „preußischen Sozialismus"
Spenglers mit ihrer Jüngerschen Verbesserung sehr nahe. Er will
nun das Spezifische, das Neue am Nationalsozialismus
hervorheben und sich von den reaktionären Strömungen des älteren
Typus abgrenzen. Darum übt er eine Kritik am alten Militarismus
in dem Sinne, daß dieser ein „Heroismus mit schlechtem Gewissen"
war. „Deutschland war vor dem Kriege .militaristisch', weil es
zu wenig heroisch war." Ein Militär ist überhaupt ein
„zivilistisch entarteter Soldat", Militarismus herrscht nur
dort, wo der Zivilist „den Geist des Heeres bestimmt". Jedoch —
und hier setzt die Lebensphilosophie ein —
„Soldatentum
stellt bei einem
männlichen Volke eine
Lebensform
dar"(24).
Das Ideal des „politischen Soldaten", der SA- und SS-Mann, ist
also die Verkörperung des Lebens im Gegensatz zur erstarrten
Bürgerwelt.
Wir haben also
wieder den Gegensatz des Lebendigen und des Toten vor uns. Tot
ist die bürgerliche Welt der „Urbanität" und „Sekurität" mit
allen ihren sozialen und kulturellen Kategorien wie Wirtschaft
und Gesellschaft, Sicherheit, Genuß und Innerlichkeit. Tot ist
ihr Denken, sowohl das des klassischen Humanismus, wie das des
Positivismus, da in ihnen Intuition und Wagnis fehlen und sie
daher, bei aller Innerlichkeit — seelenlos sind(25).
Mit diesen
scharfen Angriffen auf all das, was sie bürgerliche Kultur
nennt, bekennt sich die faschistisch-militante Lebensphilosophie
stolz zum irrationalistischen Nihilismus und Agnostizismus,
freilich in einer Sprache, die aus ihnen etwas
Mythisch-Positives zu machen scheint. Dieses Mythische rückt nun
in den Mittelpunkt der Erkenntnistheorie der neuen Etappe der
Lebensphilosophie. Der faschistische Philosoph Boehm führt aus:
„Das Unerforschliche ist für das deutsche Denken nicht eine
Grenzbestimmung, sondern eine durchaus positive Bestimmung ...
Es durchgreift unsere ganze Wirklichkeit und waltet im Kleinsten
und Größten . . . Das Unerforschliche als unauflösbarer
Einschlag unserer Wirklichkeit ist wesentlich unzugänglich, aber
durchaus nicht — unbekannt. Wir kennen es, wenn es sich auch
nicht sagen läßt, es handelt in unserem Leben, es bestimmt
unsere Entscheidungen, es verfügt über uns ... Was Tiefe ist,
läßt sich nicht sagen, aber es läßt sich zeigen an Menschen, an
denen es da ist."(26)
(Hier ist klar ersichtlich, daß die lebensphilosophische
Begründung dessen, was lebendig und deutsch ist, nichts anderes
vorstellt als eine Unterlage zur schrankenlosen Führerwillkür
Hitlers.)
In demselben Sinn
wie Boehm bestimmt Baeumler die Beziehung des Mythos zur
Geschichte: „Das Problem des Mythos liegt hoffnungslos, solange
man von der Frage nicht loskommt: wie ist der Mythos
entstanden}
enn dabei setzt
man den festen Boden der Menschheitsentwicklung vor-s und fragt
nun, wie
innerhalb der
Geschichte
der Mythos
entstanden sein uß. Auf diese Frage kann nie eine befriedigende
Antwort erfolgen, denn e ist falsch gestellt. Der Mythos ist
schlechthin ungeschichtlich . . . Der
Mythos
reicht nicht nur in die Urzeit, sondern auch in die
Urgründe
der Menschenseele
herab."(27)
Von der Höhe
dieser mystischen Eingeweihtheit in das Unerforschliche, die
Urgründe wird die Kausalität verächtlich gemacht als Kategorie
der „absoluten Sekurität". Wir kennen bereits von Jünger her die
soziale Unterlage dieser Verächtlichmachung der „Sekurität". Für
die nationalsozialistischen Philosophen im engeren Sinn hat der
Kampf gegen Gesetz und Kausalität als Ausdrucksformen der
„Sekurität" auch noch die Ten-'enz, die vollendete innere
Willkürherrschaft des Hitlerismus als etwas darzustellen, das
„weltanschaulich" höher steht, dem Leben und der germanischen
Seele näher ist als die überwundene bürgerliche Weltordnung.
So entsteht auf
allen Gebieten der Gegensatz von Leben und Tod, der 'etzt den
Kontrast von Krieg und Frieden, von deutsch und undeutsch, von
nationalsozialistisch und „bürgerlich" („plutokratisch")
bedeutet. So werden die Grundkategorien der Lebensphilosophie
zur Fundamentierung 'er Parolen und Taten der
nationalsozialistischen „Revolution" umgebildet.
Der Nihilismus der späten Lebensphilosophie wird zur Grundlage
des faschistischen „heroischen Realismus".
Denn das Leben
bedeutet auch für Baeumler, genau im Sinne der modernen
Kierkegaardschüler: Entscheidung. Das Handeln auf der Grundlage
der nationalsozialistischen Weltanschauung muß ein prinzipiell
Irrationales, prinzipiell Unbegründbares sein. Handeln, führt
Baeumler aus: „ist aber kein Realisieren erkannter Werte. Der
wahrhaft Handelnde steht immer im Ungewissen, er ist
,wissenslos', wie Nietzsche sagt. Das macht gerade 'as Handeln
zum Handeln, daß es nicht gedeckt ist durch einen Wert. Der
Handelnde exponiert sich, sein Teil ist niemals die securitas,
sondern certi-tudo."(28)
(Das heißt: der Glaube an den „Führer", G.L.) Während aber aus
der Kierkegaardschen Position bei Heidegger konsequent, bei
Jaspers etwas verdeckt ein Nihilismus folgt, zerhaut Baeumler
den Knoten sehr einfach, indem er das Leben als „kosmische
Tatsache" dem Lebensbegriff der Biologie gegenüberstellt. Dieser
müßte allerdings zum Relativismus führen, jener „würde jeder
Relativierung Widerstand leisten"(29).
Wir sehen auch
hier, wie die faschistische Lebensphilosophie die bisherigen
Tendenzen zu Ende führt und auf die Spitze treibt. Wir konnten
die allmähliche, immer stärkere Loslösung des
lebensphilosophischen Lebensbegriffs von dem der Biologie
beobachten; hier ist bereits ein strikter Gegensatz da, der
nicht nur von Baeumler, sondern auch von Krieck und anderen
energisch ausgesprochen wird. Für Krieck sind die Thesen der
Biologie ebenso nur Teile des Mythos, wie die anderer
Wissenschaften(30).
Sogar die Hauptkategorien des orthodoxen Faschismus, Rasse und
Blut, faßt er nur als Symbole auf
(31). Darum
ist es nur konsequent, wenn die neue Lebenswissenschaft so
dargestellt wird: „Im Bild des Menschen von sich selbst
vollendet sich die universelle Biologie. Das Bild wird
umschrieben durch eine rassisch-völkisch-politische
Anthropologie. . . Diese Anthropologie tritt an die Stelle der
verbrauchten Philosophie."(32)
Man kann hier deutlich sehen, wohin die Endkonsequenzen des von
Dilthey schüchtern und zögernd eingeführten anthropologischen
Prinzips gelangen mußten, wie die faschistische
Lebensphilosophie das für ihn unlösbare Dilemma des
Anthropologismus in der Philosophie „löste".
Damit kommen wir
zur realen Aufklärung dessen, was das „kosmische Leben"
bedeutet. Baeumler spricht verächtlich vom „bildlosen
Idealismus" der deutschen Klassik. Und er fügt als Kontrast, als
Ausdruck des philosophisch Positiven hinzu: „Hitler ist nicht
weniger
als die Idee — er
ist mehr als die Idee, denn er ist wirklich."(33)
Wie diese Wirklichkeit des Lebens sich äußert, davon gibt Krieck
ein sehr deutliches Bild: „Das Schicksal fordert den heldischen
Menschen der Ehre, der sich jedem Befehl stellt."(34)
Der Befehl geht selbstverständlich vom „Führer" aus: „Die
Persönlichkeit des berufenen Führers ist der Schauplatz, auf dem
das Schicksal des Ganzen sich entscheidet."(35)
Was der Führer, was die nationalsozialistische Bewegung will,
ist eben eine religiöse Offenbarung. Krieck verficht mit großer
Energie, daß eine solche auch heute möglich sei: „Gott spricht
aber unmittelbar in uns im völkischen Aufbruch."(36)
So lösen sich alle
Antinomien des nihilistischen Relativismus der
Lebensphilosophie im nationalsozialistischen Mythos auf. Man
muß Hitlers Befehlen gehorchen, damit ist jede Frage gelöst;
der Gegensatz des bloß theoretischen (fiktiven, unlebendigen,
bürgerlichen) und des lebendigen, kierkegaardisch
interessierten, handelnden Menschen erhält im Befolgen
dieser
Befehle seine Aufhebung. Baeumler spricht klar aus, was die
Führung für die neue Periode des „politischen Soldatentums"
praktisch bedeutet: „eine Hochschule, die . .. nicht von der
Führung durch Adolf Hitler und Horst Wessel redet, ist
unpolitisch"(37),
das heißt unlebendig, bürgerlich, verwerflich. Und Krieck gibt
einen deutlichen ergänzenden Kommentar zu dieser Proklamation
der „Führung durch Geist und Idee": „Wer Antwort erklügeln
will, dem ist allerdings nicht zu helfen, der wird als unnützer
Beschwer vom schicksalhaften Gang der Dinge beiseite geschoben
und auf den Mist geworfen."(38)
Auf diese Weise
mündet die Lebensphilosophie in die faschistische Demagogie
ein. Wie weit es sich bei Baeumler, Krieck und Co. um ein
wirkliches Ziehen von Konsequenzen handelt, wie weit um eine
zynische Anpassung an jene brutal ausbeuterische und
unterdrückende Macht, deren Kommen sie voraussahen, ist nicht
wichtig. Objektiv-philosophisch ziehen sie die letzten
Konsequenzen der Lebensphilosophie, gehen den Weg zu Ende, der
am Vorabend der imperialistischen Periode mit Nietzsche und
Dilthey beginnt, und deren ruckweise Kulmination wir in ihren
wichtigsten Etappen verfolgt haben. Daß sich Denker wie Dilthey
und Simmel entsetzt von der faschistischen Wirklichkeit
abgewandt und deren sogenannte Philosophie tief verachtet haben
würden, ist sicher, schwächt jedoch diesen objektiv-historischen
Zusammenhang nicht ab. Spengler steht sachlich dem Faschismus
viel näher als sie und befand sich doch in ununterbrochenen
Kontroversen mit dessen offiziellen Vertretern, und Stefan
George, dessen Schule in der Ausbreitung der Lebensphilosophie
eine große Rolle spielte (Gundolf, Klages und der Faschist Kurt
Hildebrandt sind aus ihr hervorgegangen) und dessen einzelne
Gedichte eine prophetische Vorahnung des „Führers" enthalten und
verkünden, der also sicher in dieser Richtung gewirkt hat, starb
sogar im freiwilligen Exil. Das ändert jedoch an der Tatsache,
daß die Baeumler-Krieck-Rosenbergsche Philosophie ohne Spengler
und dieser ohne Dilthey und Simmel nicht möglich gewesen wären,
gar nichts.
Hitler selbst war
viel zu ungebildet und überzeugungslos-zynisch, um in
irgendeiner Weltanschauung mehr zu sehen als ein augenblicklich
wirksames Agitationsmittel. Es ist aber klar, daß auch seine
Anschauungen sich unter dem Einfluß derselben
zersetzend-parasitären imperialistischen Strömungen formierten,
die in der „Elite" der Intelligenz die Lebensphilosophie
hervorbrachten. Nihilistische Überzeugungslosigkeit und
Wunderglauben als zusammenhängende Polaritäten bestimmen auch
die Eigenart der Hitler-schen Propaganda. Freilich überwiegt bei
ihm persönlich der zynische Nihilismus. Hitler hielt ja, wie wir
aus den Gesprächen mit Rauschning wissen, sogar die
Rassentheorie für einen Schwindel, den er aber für seine
räuberisch-imperialistischen Ziele skrupellos ausnützte(39).
Die allgemeine Atmosphäre seiner Agitation ist eine
populär-vulgäre Ausgabe der grundlegenden Tendenzen der
Lebensphilosophie: er lehnt in der Agitation jede
verstandesmäßige Überzeugung ab, es handelt sich für ihn nur
darum, einen Rausch zu erzeugen und aufrechtzuerhalten(40);
Agitation ist für ihn nur eine „Beeinträchtigung der
Willensfreiheit der Menschen"(41).
So sehr die Hitlersche Agitationstechnik sich am amerikanischen
Reklamewesen herangebildet hat, so sehr ist sie inhaltlich aus
demselben Boden gewachsen, aus dem die Lebensphilosophie
entstand.
Direkter ist der
Einfluß der Lebensphilosophie bei Rosenberg zu sehen. Freilich
überwiegt auch bei diesem ganz offenkundig der überzeugungslosc
Zynismus, nur mit der Nuance, daß Rosenberg als Zögling der
russischen Weißgardisten, als Schüler Mereshkowskijs und anderer
dekadenter Reaktionäre schon bildungsmäßig für eine Rezeption
der deutschen Lebensphilosophie prädisponiert war. So ist sein
Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts" eine grob agitatorische
Vulgarisation der letzten Periode der Lebensphilosophie. (Die
Anlehnungen an Spengler und Klages werden von ihm, ungeachtet
aller kritischen Vorbehalte, sogar ausdrücklich zugegeben.) Auch
bei ihm finden wir eine mythische geschichtslose Geschichte, ein
Leugnen der Weltgeschichte, um die absolute Vorherrschaft der
Deutschen in der Welt (und in Deutschland: der Nazis)
„nachzuweisen". Auch bei ihm finden wir den brutal militant
gewendeten Gegensatz von Leben und Tod, von Intuition und
Vernunft; auch bei ihm gehört der vehement demagogische Angriff
auf Geist und Wissenschaft zu den zentralen Punkten der
Begründung des neuen Mythos. Der Gegensatz von Leben und Tod
erscheint hier als der der Germanen und der Juden; des
schaffenden und des raffenden Kapitals usw. Die mit Dilthey
erstarkende aristokratische Erkenntnistheorie wird zur
mythischen Unfehlbarkeit des „Führers". Die Kulturkreistheorie
Spenglers, dieser soziologische Solipsismus, erscheint als die
Lehre von der ewigen Wesenheit voneinander schroff geschiedener
Rassen, die miteinander nur in der Form der gegenseitigen
Vernichtung verkehren können. Die Typenlehre der
Lebensphilosophie erscheint als die Forderung der Schaffung von
Typen: als die Herrschaft des Banditentums der SA und SS.
In alledem ist
philosophisch, selbst wenn man als Maßstab das philosophische
Niveau der letzten Phasen der Lebensphilosophie nimmt, nichts
Neues mehr.
Die Lebensphilosophie eines Rosenberg ist nur mehr ein
Herrschaftsinstrument für die Verbrechen des neuen
imperialistischen Weltkriegs und seiner Vorbereitung. Es ist
aber nicht ohne Bedeutung, daß die Lebensphilosophie gerade
diesen Abschluß erhielt, daß die „nationalsozialistische
Weltanschauung" auf ihrer Grundlage entstanden ist. Denn damit
erscheint diese Sackgasse der Barbarei als notwendiger
Kulminationspunkt der Selbstauflösung der Ideologie des
deutschen Imperialismus in der Lebensphilosophie, deren erste
philosophische Vorläufer wir im Irrationalismus des Reagierens
des deutschen Feudalabsolutismus auf die Französische
Revolution feststellen konnten. Und diese Kulmination ist
keineswegs etwas Zufälliges. Sie ist das verdiente Schicksal der
immanenten Tendenzen der Lebensphilosophie selbst. Hegel, der
die Lebensphilosophie noch in einer nur wenig entwickelten Form,
als Lehre vom „unmittelbaren Wissen" erlebt hat, sagt über diese
prophetisch: „Daraus, daß das
unmittelbare
Wissen
das Kriterium der
Wahrheit sein soll, folgt. . ., daß aller Aberglaube und
Götzendienst für Wahrheit erklärt wird und daß der
unrechtlichste und unsittlichste Inhalt des Willens
gerechtfertigt ist. . . Die natürlichen Begierden und Neigungen
.. . legen von selbst ihre Interessen ins Bewußtsein, die
unmoralischen Zwecke finden sich ganz unmittelbar in
demselben."(42)
Anmerkungen
[Die
Nummerierung wurde aus dem Fußnotenmodus in den fortlaufenden
Endnotenmodus transformiert.]
1) Klages: Vom
kosmogonischen Eros, 2. Aufl., München 1926, S. 63.
2) Ebd., S. 65.
3) Klages: Der Mensch und das Leben, Jena 1937, S. 32.
4) Ebd., S. 33.
5) Ebd., S. 51.
6) Ebd., S. 35.
7) Klages: Der Mensch und das Leben, a. a. O., S. 214.
8) Ebd., S. 215f.
9) Klages: Der Mensch und das Leben, a. a. O., S. 79.
10) Klages: Vom Wesen des Bewußtseins, Leipzig 1921, S. 4.
11) Ebd., S. 137 fr.
12) Klages: Kosmogonischer Eros, a. a. O., S. 79.
13) Ebd., S. 137fr.
14) Ebd., S. 140.
15)
Klages: Vom
Wesen des Bewußtseins, a. a. O., S. 52.
16) Jünger: Der Arbeiter, 2. Aufl., Hamburg 1932, S. 39.
17) Ebd., S. 40.
18) Ebd., S. 204
19) Ebd., S. 66
20) Ebd., S. 79
21) Ebd., S. 292.
22) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934, S. 127.
23) Baeumler: Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig
1931, S. 125.
24) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, a. a. O., S. 63.
25) Ebd., S. 62.
26) Boehm: Anticartesianismus. Deutsche Philosophie im
Widerstand, Leipzig 1938, S. 34f
27) Baeumler: Der Mythos vom Orient und Occident, Einleitung zur
Bachofen-Ausgabe, München 1926, S. XCf.
28) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, a. a. O., S. 91.
29) Ebd., S.95f.
30) Krieck: Völkisch politische Anthropologie, Bd. I: Die
Wirklichkeit. Leipzig 1956, S. 27.
31) Ebd., S. 74.
32) Ebd., S.43
33) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, a. a. O., S. 127.
34) Krieck: Anthropologie, a. a. O., S. 59.
35) Ebd. S.90f.
36) Ebd. S. 60.
37) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, a. a. O., S. 35.
38) Krieck: Anthropologie, a. a. O., S. 35.
39)
Rauschning: The Voice of Destruction, New York 1940, S.
152.
40) Hitler: Mein Kampf, Volksausgabe,
München 1934, Bd. I, S. 183.
41) Ebd., Bd. II, S. 531.
42)
Hegel: Enzyklopädie, § 72.
Editorische Hinweise
Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin DDR, 3.
Auflage 1984, S.417-431, OCR-scan red.
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