Präfaschistische und faschistische Lebensphilosophie
Klages, Jünger, Baeumler, Boehm, Kriech, Rosenberg

Leseauszug aus
"Die Zerstörung der Vernunft" von Georg Lukács

02-2014

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Die Lebensphilosophie selbst geht rasch über die eben charakterisierte "existentialistische" Episode hinweg und wendet sich einer offeneren, kämpferischeren Vorbereitung der kommenden barbarischen Reaktion zu. Hierin liegt die Bedeutung der Philosophie von Ludwig Klages. Er ist als Schriftsteller schon in der Vorkriegszeit aufgetreten. Ursprünglich führen­des Mitglied des Georgekreises, trennt er sich aber von ihm und geht seine eigenen Wege. Er verwandelt eigentlich die Lebensphilosophie in ein offenes Bekämpfen von Vernunft und Kultur. (Wie sehr es sich hier um Zeitströmungen und nicht um einzelne Individualitäten handelt, zeigt die auffallende Parallelität der Denkrichtung des politisch links orientierten Theodor Lessing.) Bei Klages tritt der anthropologische Zug der Lebens­philosophie noch entschiedener hervor als bei seinen Vorgängern. Ein großer Teil seiner literarischen Wirksamkeit ist auf dieses Gebiet, auf die Begründung der neuen Wissenschaft der „Charakterologie" gegründet. Hier ist bereits die vollständige Auflösung einer jeden objektiven Erkennt­nis in der Typenlehre da.

Während die anthropologische Typologie bei Dilthey noch der objek­tiven Wissenschaft untergeordnet war, während sie ihr bei Jaspers bereits übergeordnet wird, bedeutet sie bei Klages einen frontalen Angriff auf den Geist der Wissenschaftlichkeit, auf die Rolle, die Vernunft, Erkenntnis, Geist in der gesamten Entwicklung der Menschheit spielten und spielen.

Die Grundkonzeption von Klages ist höchst einfach: es gibt ein all­gemeines kosmisches Leben, an welchem die Menschen am Anfang ihrer Entwicklung naturgemäß beteiligt waren: „Wo immer lebendiger Leib, da ist auch Seele; wo immer Seele, da ist auch lebendiger Leib. Die Seele ist der Sinn des Leibes, das Bild des Leibes die Erscheinung der Seele. Was immer erscheint, das hat einen Sinn, und jeder Sinn offenbart sich, indem er erscheint. Der Sinn wird erlebt innerlich, die Erscheinung äußer­lich. Jener muß Bild werden, wenn er sich mitteilen soll, und das Bild muß wieder innerlich werden, damit es wirke. Das sind, ohne Gleichnis ge­sprochen, die Pole der Wirklichkeit."(1)

Dieser kosmisch-naturgemäße, organisch-lebendige Zustand wird durch den „Geist" verdrängt und zersetzt. „Das Gesetz des Geistes trennt ab vom Rhythmus des kosmischen Lebens."(2) Das ist der Inhalt der menschlichen Geschichte, „daß über die Seele sich erhebe der Geist, über den Traum die begreifende Wachheit, über das Leben, welches wird und ver­geht, ein auf Beharren gerichtetes Wirken."(3) Wie der ungeheure Um­schwung sich vollzogen hat, weiß niemand: Tatsache ist nur, „daß eine außerweltliche Macht in die Sphäre des Lebens einbrach"(4). (Klages verdreht hier mystisch-reaktionär die Bachofensche Darstellung des Urkommunismus.) Wenn es aber auch unbekannt ist, wieso der Geist zur Herrschaft gelangt ist, seine Wirksamkeit ist für Klages völlig evident: „das Leben zu töten"(5).

Die ganze Philosophie von Klages ist nur die Variation dieses einen pri­mitiven Gedankens. Seine Bedeutung hegt darin, daß die Vernunft vor ihm noch nie so offen und radikal bekämpft worden ist. Er nennt ihre Tätigkeit eine „Verruchtheit"(6), einen „Frevel"(7). Der Drang nach Wissen wird mit der ordinären Neugier auf ein Niveau gesetzt. Klages gibt gelegentlich eine Beschreibung des Jünglings, der nach der Sage das verschleierte Bild von Sais enthüllen wollte: „Weshalb will eigentlich der Jüngling den Schleier heben? Aus Forschbegierde oder, ganz nüchtern gesprochen, aus Neu­gierde? Zwischen Forschtrieb und Neugier besteht kein essentieller Untei-schied. Jener wie dieser entspringt aus einer Beunruhigung des Verstandes, und den Verstand beunruhigt alles, was er noch nicht besitzt. Erkenntnistrieb ist Aneignungstrieb .. . und wessen sich der Geist bemächtigt, ist un­fehlbar entzaubert, und es ist mit ihm zerstört, wenn es dem Wesen nach ein Geheimnis war."(8) Und darin hegt nach der Klagesschen Auffassung eben das Frevelhafte jeder Wissenschaftlichkeit; denn das philosophisch Wesentliche ist keineswegs eine Erkenntnis, sondern nur „Wissen um Geheimnisse"(9)

Nur wenn diese Achtung vor dem Geheimnis bewahrt bleibt, ist eine lebendige Beziehung zum Leben möglich. Es ist klar, daß bei Klages auf diese Weise die Kategorie „Leben" eine jede Beziehung zur Biologie verliert; er spricht offen aus, daß die Biologie nicht weiß, „worin das Lebendig­sein der lebenden Dinge bestehe."(10) Es ist dabei charakteristisch, daß Klages, wie alle seine lebensphilosophischen Kollegen, mit der Prätention auftritt, sich über den Gegensatz von Idealismus und Materialismus zu erheben. Der Scheingegensatz von Sein und Bewußtsein verdeckt nämlich, nach der Auffassung von Klages, „was weder cogitare noch esse, weder Geist noch Leben . .. Der Geist erkennt, daß Sein ist, aber nur das Leben lebt."(11)

Diese Auffassung des Lebens ist der bisher erreichte Gipfelpunkt des lebensphilosophischen Irrationalismus, hier aber zugleich nicht mehr ein­fache nihilistische Verneinung, sondern ein Umschlagen in unmittelbaren Mythos. Klages gibt eine Erkenntnistheorie seiner neuen Mythenlehre, indem er gegen das Ding das Bild ausspielt. Das Ding ist ein totes Produkt des Geistes, das Bild eine beseelte Erscheinung. An diese Gegenüber­stellung knüpft Klages seine Erkenntnistheorie, die wiederum für die mythenschaffende Etappe der Lebensphilosophie charakteristisch und be­deutsam wird, obwohl sie an sich rein sophistisch ist. Klages akzeptiert nämlich für die Welt des Geistes die Erkenntnistheorie der Neukantianer und Positivisten, um ihr in der Welt der Seele eine demagogisch-pseudo­materialistische Auffassung von Subjekt und Objekt gegenüberzustellen. Er sagt: „Das Bild hat bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit (denn es bleibt gänzlich unberührt davon, ob ich mich hernach seiner erinnere oder nicht); das Ding ist in die Welt vom Bewußtsein hineingebracht und exi­stiert nur für eine Innerlichkeit persönlicher Wesen."(12) Bekanntlich ist die Unabhängigkeit der materiellen Welt die Grundlage der Erkenntnistheorie des philosophischen Materialismus. Es ist charakteristisch, daß Klages sie gerade dort zu rezipieren vorgibt, wo es sich um das Allersubjektivste, um die Produkte der Phantasie handelt. Aber eben diese Sophistik ist für den Pseudoobjektivismus der lebensphilosophischen Mythenlehre charak­teristisch.

Zu dieser Erkenntnistheorie der mythisch gewordenen Lebensphilo­sophie gehört naturgemäß auch eine eigene Zeittheorie, eine Entdeckung der „wirklichen Zeit", welche von der der Verstandeswelt ebenso radikal verschieden ist wie bei Bergson oder Heidegger. Die Polemik von Klages richtet sich aber hier gegen die Zukunft, die „keine Eigenschaft der wirk­lichen Zeit" ist. Erst die „prometheische Menschheit erhob das Zukünftige auf die gleiche Wirklichkeitsstufe mit dem Vergangenen ... die herakleische der ,Weltgeschichte' erschlug und erschlägt mit dem Hirngespinst der .Zukunft' die Wirklichkeit des Gewesenen . . . zerreißt den befruchten­den Zusammenhang der Nähe mit der Ferne, um an dessen Stelle zu setzen das ahasverisch hinausjagende Bezogensein der Gegenwart auf jenes Ge­spenst der Ferne, das Zukunft heißt"(13). Die wirkliche Zeit ist dagegen ein „Strom mit der Richtung aus der Zukunft in die Vergangenheit"(14). Wir sehen also auch bei Klages einen Kampf gegen die Wirklichkeit einer Welt­geschichte, die als Frevel des Geistes und der Vernunft erscheint, an der es am verruchtesten ist, daß sie sich für die Zukunft Ziele zu setzen wagt und damit das Eingebettetsein der Seele in den Mythos, in die Herrschaft des Vergangenen zerstört. Es muß wohl nicht besonders hervorgehoben werden, daß die Zeittheorie von Klages und seine mit ihr eng verbundene Geschichtsauffassung aus demselben geseUschaftlichen Bedürfnis der im­perialistischen Bourgeoisie, aus dem Bedürfnis, den Sozialismus zu be­kämpfen, entsprang wie die entsprechenden Lehren von Spengler oder Heidegger. Die Nuance der Divergenz ist sachlich ohne Belang, da bei ihnen gleichermaßen die wirklichen Zusammenhänge der objektiven Reali­tät resolut auf den Kopf gestellt werden; sie alle bezeichnen bloß verschie­dene Etappen des deutschen Irrationalismus auf dem Weg zu Hitler.

So entsteht eine Welt der Leere, Öde, Entseeltheit und der Verruchtheit. Die Welt des Mythos vermochte nicht, sich gegen den Einbruch des Gei­stes zu schützen, aber sie waltet als dunkles Schicksal über der Welt der herrschenden Vernunft. Vom Untergang Roms bis zum prophezeiten Untergang der gegenwärtigen Staaten sieht Klages überall diese Rache der unterjochten mythischen Mächte. Die einzige Aufgabe, die seine Philoso­phie den Menschen stellen kann, ist nur, sich von der verruchten Welt des Geistes zu befreien: „die Seele zu retten!"(15)

Wir sehen bei Klages schon sehr ausgeprägt die neue Etappe der Lebens­philosophie. Sie ist einerseits in einer ganz anderen Weise offen militanter Feind der Vernunft geworden als bei den früher behandelten Denkern, andererseits tritt bei ihm seit Nietzsche zum erstenmal — wenn wir von der Episode Spengler absehen — die Lebensphilosophie offen als konkrete Mythen schaffend auf. Damit wird Klages ein unmittelbarer Vorläufer der „nationalsozialistischen Weltanschauung", was deren offizielle Philosophie auch immer dankbar anerkennt. Sie tut das freilich mit bestimmten Vor­behalten; denn erstens ist Klages zwar ein militanter Lebensphilosoph — aber noch auf der Grundlage des alten, apolitischen Individualismus; das Terrain seines Kampfes kann nur das Kaffeehaus oder der Salon sein; sein Kampf kann unmöglich auf die Straße hinausgetragen werden. Zweitens und vor allem, weil bei Klages zu den verderblichen, kulturzersetzenden Folgen des Geistes auch der Krieg gehört. Das ist natürlich ein Punkt, wo für die Nationalsozialisten jede Pietät dem verdienstvollen Vorläufer gegen­über aufhören muß. Diesen Pazifismus und diesen Individualismus von Klages kritisieren auch seine faschistischen Verehrer.

Der Übergang der Lebensphilosophie zum Faschismus vollzieht sich denn auch so, daß mehrere militante Lebensphilosophen auftreten, in deren Schriften der Gegensatz von Leben und Tod gesellschaftlich und politisch aufgefaßt wird, in denen der Kampf um die Vernichtung der Vernunft einen sozialen Akzent erhält. Diese Etappe der Lebensphilosophie entsteht zumeist auf der Grundlage jener kleinen Gruppen und Bünde, die in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre massenhaft herangewachsen sind, deren politisch-soziale Bestrebungen von einer zuweilen ehrlich gemeinten Sym­pathie mit dem Sozialismus bis zur größten Nähe zum Nationalsozialismus hin und her schillerten, freilich bei dem größten Teil mit starkem Über­wiegen der letzteren Tendenz. Aus der ziemlich großen Literatur dieser Art greifen wir hier nur einen besonders prägnanten, scharf rechts gerichteten Vertreter heraus: Ernst Jünger. Jünger hat als junger Mensch am ersten imperialistischen Weltkrieg teilgenommen und schilderte dann in wirk­samen und nicht wertlosen Erzählungen die maschinellen Schrecken des Krieges im ständigen Zusammenhang mit dem erhebenden „Fronterlebnis", das nach der Auffassung der militanten jüngeren Generation der Lebens­philosophen die innere Grundlage der zukünftigen Erneuerung Deutsch­lands bildet. Die Verknüpfung von Maschinenschlacht und Fronterlebnis macht aus Jünger einen der ersten Propagandisten der „totalen Mobilisation".

Diese Fragestellung verschiebt den Inhalt des Gegensatzes von Lebendigem und Erstarrtem. Indem Schriftsteller von der Art Jüngers den modernen Krieg bejahen, müssen sie darauf verzichten, alle Erscheinungs­formen des modernen Kapitalismus nach der Art von Heidegger, Jaspers und Klages, die in dieser Hinsicht auf einer Linie stehen, als Erstarrtes, als totes „Gehäuse" zu verwerfen. Der Trennungsstrich zwischen Tod und Leben verläuft bei Jünger zwischen dem pazifistisch bürgerlichen Kapitalismus der Weimarer Republik und der erträumten Erneuerung eines ag­gressiven, preußisch-deutschen Imperialismus. Hiei setzt die Einschaltung der sozialen Demagogie, die Einbeziehung der Arbeiterklasse in diese imperialistischen Projekte ein. Die Kriegsliteratur vom Typus Schelers und Sombarts, sowie vor allem Spenglers „Preußentum und Sozialismus" waren die Vorläufer dieser neuen Synthese. Aber erst bei Jünger wird der Gegen­satz von Proletariat und Bourgeoisie lebensphilosophisch interpretiert, um so für den ersehnent neuen imperialistischen Krieg, als Relevation des Lebens der toten bürgerlichen Welt gegenüber, die notwendige breite soziale Basis zu gewinnen. Damit nimmt der lebensphilosophische Irra­tionalismus ganz offen seine reaktionär historische Mission, die direkte Be­kämpfung der Weltanschauung des Proletariats, des Marxismus-Leninis­mus auf. Was bei den früheren Vertretern der Lebensphilosophie erst durch Entzifferung verzerrter und dunkler, scheinbar darauf nicht bezüglicher Theorien gezeigt werden mußte, wird hier zur offenen Aussage. Es erweist sich zugleich, was freilich schon bei Spengler vorhanden war, daß dieser Kampf bei all seiner Offenheit und Frontalität ein indirekter und demago­gischer ist: Spengler und Jünger versuchen gar nicht, wie die vor- oder frühimperialistischen Apologeten, die Überlegenheit des Kapitaüsmus dem Sozialismus gegenüber nachzuweisen, sondern spielen gegen den wirk­lichen Sozialismus einen „Sozialismus" getauften Monopolkapitalismus als Gesellschaftssystem der Zukunft aus. Spengler hat aber dabei noch das Proletariat ignoriert, Jünger spricht bereits, wie Hitler, demagogisch in dessen Namen.

Jünger faßt diese Anschauungen in einem programmatischen Buch zu­sammen: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt." Die „Gestalt" ist schon seit langer Zeit eine der zentralen Kategorien der Lebensphilosophie. (Man denke an die „Morphologie" Spenglers.) Hier tritt sie als Zentralbegriff der mythenschaffenden Tendenz auf. Nach Jünger ist schon die Methodo­logie, die aus den Gestalten hervorgeht, revolutionär: „Das Sehen von Gestalten ist insofern ein revolutionärer Akt, als es ein Sein in der ganzen und einheitlichen Fülle seines Lebens erkennt. Es ist die große Überlegen­heit dieses Vorganges, daß er sich jenseits sowohl der moralischen und ästhetischen, als auch der wissenschaftlichen Geltung vollzieht."(16) „Revo­lution" ist hier selbstverständlich in der faschistischen Weise zu verstehen: als eine Vernichtung der demokratisch-parlamentarischen Herrschafts­formen in einer Weise, die demagogisch vorgibt, mit ihnen und in ihnen die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden. Die miütante Lebensphilo­sophie von Jünger verwirft Geist und Vernunft ebenso radikal wie die von Klages, aber die Stimmung, der Ton hat sich vollkommen verändert; aus Moral und Geschichtsphilosophie wird hier Politik. Jünger spricht nicht von der Verruchtheit und dem Frevel, sondern vom „Hochverrat des Geistes"(17). Auch der radikale Subjektivismus der Lebensphilosophie erhält bei Jünger eine weitere Steigerung und eine Wendung ins Historisch-Politische. Er sagt über die Entstehung des Mythos: „Der Sieger schafft den Mythos der Geschichte"(18), womit das Leugnen einer jeden historischen Objektivität seinen zynisch-offenen Gipfelpunkt erhält.

Der geschichtsphilosophische Grundgedanke, in dem sich diese neue militante Etappe der Lebensphilosophie äußert, ist ziemlich einfach und primitiv. Die „Gestalt" des Arbeiters, aus der alles ökonomische und Klassenmäßige sorgfältig entfernt wird, repräsentiert in der Kultur der Gegenwart das Elementare, das Leben — im Gegensatz zum Bürgertum, das von dessen Vorhandensein nie eine Ahnung gehabt hat. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß diese neue Konzeption bestimmte Ten­denzen aus Spenglers „preußischem Sozialismus" weiterführt. Es ist aber notwendig, auch auf den Unterschied hinzuweisen. Spengler hat eine einfache Identifikation vollzogen. Jünger sieht im Preußentum eine „Bändigung des Elementaren", und sagt dann: „das Arbeitertum schließt das Elementare nicht aus, sondern ein"(19).

Hier ist lebensphilosophisch die Begründung für die irrationalistische soziale Demagogie gegeben. Die tote Welt des Bürgers ist eine Welt der „Sekurität". Diese lebensphilosophisch-demagogische Kritik an der bürger­lichen Kultur ist für die weltanschauliche Begründung des Faschismus von größter Wichtigkeit. Im Gegensatz zu anderen reaktionären Strömungen, die eine Rückkehr zu früheren, gesicherten, „gebundenen" Perioden pre­digen, geht die Agitation des Faschismus von der Krise selbst, von der Auflösung aller gesicherten Bedingungen aus. Und da er im Inneren eine vollkommene Willkürherrschaft aufrichten will, da seine Haupttendenz die Organisation des imperialistischen Aggressionskrieges ist, strebt er einem solchen militanten Nihilismus, einer bewußten Erschütterung aller Ge­sichertheit in der Existenz des Einzelmenschen zu. Darum soll die Ideologie der „Sekurität" als tote und bürgerliche Auffassung um jeden Preis ver­ächtlich gemacht werden: der Faschismus will den Typus eines durch nichts gehemmten, vor nichts zurückschreckenden brutalen Landsknechts hoch­züchten. Da nun die „Sekurität" eine Kategorie des klassischen Humanis­mus Deutschlands war (Wilhelm von Humboldt formulierte sie zuerst mit großer Entschiedenheit), wird das feindliche Verhalten der führenden Ideo­logen des Faschismus zu dieser ganzen Periode verständlich. (Wir weisen nur beiläufig darauf hin, daß die Existentialphilosophie Heideggers und Jaspers' in ihrer Weise viel zur Erschütterung der Ideologie der „Sekuri­tät" beigetragen hat.)

Die beiden Gestalten, die des Arbeiters und die des Bürgers, stehen völlig ausschließend einander gegenüber. Der Arbeiter repräsentiert ein absolutes Anderssein dem Bürger gegenüber. Hier setzt nun die radikal antihistori­sche, die Geschichte völlig zersetzende mythische Geschichtsauffassung Jüngers ein: „Eine Gestalt ist, und keine Entwicklung vermehrt oder ver­mindert sie. Entwicklungsgeschichte ist daher nicht Geschichte der Ge­stalt . . . Die Entwicklung kennt Anfang und Ende, Geburt und Tod, denen die Gestalt entzogen ist. Die Geschichte bringt keine Gestalten her­vor, sondern sie ändert sich mit der Gestalt. Sie ist die Tradition, die eine siegreiche Macht sich selbst verleiht."(20) Damit ist die Geschichte aufge­hoben. Die Lebensphilosophie ging ursprünglich, mit Dilthey und Simmel, darauf aus, die Selbständigkeit der Geschichte der Naturgesetzlichkeit gegenüber zu bewahren. Allerdings schon damals, besonders bei Dilthey, mit der Nebentendenz: durch anthropologische Grundlegung dem histo­rischen Relativismus gegenüber einen Halt zu gewinnen; bei Dilthey führte dies, wie wir gesehen haben, zu einer Antinomie der anthropolo­gischen und historischen Gesichtspunkte. Das Bedürfnis nach Welt­anschauung, die Notwendigkeit der lebensphilosophisch ausdrückbaren Weltanschauung, mußte, je größer ihre Prätention auf Konkretheit war, desto mehr, die Geschichte immer energischer in einen Mythos verwandeln. Die so entstandenen Mythen konnten nur durch zu Wesenheiten auf­gebauschte „Gestalten" der lebensphilosophischen Anthropologie und Typologie bevölkert werden. Je mehr die Entwicklung fortschreitet, desto mehr verliert die wirkliche Geschichte eine jede Bedeutung für die Ver­treter der Lebensphilosophie. Sie wird bei Spengler durch die Mythen ver­drängt; sie versinkt bei Heidegger in der Uneigentlichkeit; sie erscheint bei Klages als eine Exempelsammlung zum Sündenfall der Menschheit in­folge der Herrschaft der Vernunft, des verruchten Geistes. So verschieden alle diese Konzeptionen untereinander auch sein mögen, ihr gemeinsamer Zug ist, daß das Historische als eine Scheinbewegung einiger Typen er­scheint. Und je militanter reaktionär diese Mythen werden, je unmittel­barere Vorläufer des faschistischen Mythos sie werden, desto stärker ist ihre feindliche Polarisation, desto stärker ist die ganze, mystifizierte Lebens­geschichte nur dazu da, die alleinige Lebensberechtigung der einen „Ge­stalt" und die vollendete Verwerflichkeit der anderen darzutun. Bei Jünger ist diese Entwicklungslinie soweit vollendet, wie sie präfaschistisch nur sein kann. Zu Rosenberg ist von hier aus nur ein ganz kleiner Schritt zu tun.

So bestimmt die Gestalt des Arbeiters (die, wie bei Spengler und Hitler, nicht nur den Soldaten, sondern auch den Unternehmer mit begreift) den Mythos der heutigen Welt. Diese Welt ist eine „Werkstattlandschaft" und, soweit es sich um die Welt des Bürgers handelt, „Museum". Zur vollen­deten Werkstattlandschaft wird sie erst mit dem Sieg der Gestalt des Arbeiters, und damit verwandelt sie sich zur „Planlandschaft", zum „im-perialen Raum"(21). Der Mythos des Arbeiters ist bei Jünger der Mythos des kriegerisch aggressiven Imperialismus.

Man sieht: die militant gewordene Lebensphilosophie ist hier bereits nur wenige Schritte von der „nationalsozialistischen Weltanschauung" ent­fernt. Was sie trennt, ist im Grunde genommen nur der sektiererische Zug in der Philosophie von Jüngei und seinesgleichen. Innerlich sind diese be­reits entschlossen, die Lebensphilosophie aus den Gelehrtenstuben und Intellektuellensalons auf die Straße zu tragen, hat doch ihre Gedankentendenz bereits einen ausgeprägt politischen Charakter. Aber ihre Metho­dologie und Terminologie sind noch tief erfüllt von der esoterischen Weis­heit kleiner geschlossener, aufeinander eingearbeiteter Grüppchen.

Die sogenannten philosophischen Vertreter der „nationalsozialistischen Weltanschauung" machen sich das Erbe dieser ganzen irrationalistischen lebensphilosophischen Entwicklung der imperialistischen Periode, vor allem ihrer letzten Etappe, zu eigen und gebrauchen es dazu, zwischen der in jeder Hinsicht niveaulosen Agitation von Hitler und der von der Lebens­philosophie erzogenen deutschen Intelligenz ideologische Brücken zu bauen, diese — indem äußerlich wie innerlich ihre eigene Sprache ge­sprochen wird — ins Lager des Nationalsozialismus zu locken oder ihm gegenüber wenigstens wohlwollend neutral zu machen. Die national­sozialistische Propaganda hat also Kreise von verschiedener Extensität. Rosenberg steht etwa in der Mitte zwischen Hitler und den offiziellen nazistischen Philosophen im engeren Sinne, den Ideologen von der Art der Baeumler und Krieck.

Diese beiden, die man als Repräsentanten der offiziellen nationalsoziali­stischen Philosophie betrachten kann, nehmen den Jüngerschen Gedanken der „totalen Mobilmachung" in ihre faschistische Vollendung der Lebens­philosophie auf; beide setzen dessen demagogische Polemik gegen Bürger­tum, bürgerliches Zeitalter, bürgerliche Kultur fort. Dabei ist es be­zeichnend, daß — da diese Schriften sich nicht an Arbeiter wenden — Baeumler und Krieck, den Traditionen der bürgerlichen Philosophie und Soziologie der imperialistischen Periode entsprechend, sich vorwiegend auf Kulturkritik beschränken; vom Sozialismus, auch im Sinne der demagogischen Agitation Hitlers und Rosenbergs, ist bei ihnen wenig die Rede.

Nur ganz allgemein stellt Baeumler die Aufgabe einer allgemeinen „Ent-bürgerlichung". Die bürgerliche Kultur wird bei ihm herabgesetzt und verächtlich gemacht. Dies geschieht aber vorwiegend auf der Linie der all­gemeinen Militarisierung. Die Intelligenz soll zum „politischen Soldaten-tum" erzogen werden. Baeumler schildert das Unglück der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts folgendermaßen: „Das eigentliche Ver­hängnis des 19. Jahrhunderts war, daß die humanistische Philosophie ind die schweigende Philosophie der Soldaten des preußischen General-tabs nicht zusammenstimmten."(22) An anderer Stelle sieht er in der Tat-ache, daß Nietzsche und Bismarck nicht zusammenfinden konnten, ein ymptom der unrichtigen Entwicklung unter der Herrschaft des Bürgertums(23). Damit steht Baeumler der Idee des „preußischen Sozialismus" Spenglers mit ihrer Jüngerschen Verbesserung sehr nahe. Er will nun das Spezi­fische, das Neue am Nationalsozialismus hervorheben und sich von den reaktionären Strömungen des älteren Typus abgrenzen. Darum übt er eine Kritik am alten Militarismus in dem Sinne, daß dieser ein „Heroismus mit schlechtem Gewissen" war. „Deutschland war vor dem Kriege .militari­stisch', weil es zu wenig heroisch war." Ein Militär ist überhaupt ein „zivi­listisch entarteter Soldat", Militarismus herrscht nur dort, wo der Zivilist „den Geist des Heeres bestimmt". Jedoch — und hier setzt die Lebens­philosophie ein — „Soldatentum stellt bei einem männlichen Volke eine Lebensform dar"(24). Das Ideal des „politischen Soldaten", der SA- und SS-Mann, ist also die Verkörperung des Lebens im Gegensatz zur erstarrten Bürgerwelt.

Wir haben also wieder den Gegensatz des Lebendigen und des Toten vor uns. Tot ist die bürgerliche Welt der „Urbanität" und „Sekurität" mit allen ihren sozialen und kulturellen Kategorien wie Wirtschaft und Gesell­schaft, Sicherheit, Genuß und Innerlichkeit. Tot ist ihr Denken, sowohl das des klassischen Humanismus, wie das des Positivismus, da in ihnen Intuition und Wagnis fehlen und sie daher, bei aller Innerlichkeit — seelenlos sind(25).

Mit diesen scharfen Angriffen auf all das, was sie bürgerliche Kultur nennt, bekennt sich die faschistisch-militante Lebensphilosophie stolz zum irrationalistischen Nihilismus und Agnostizismus, freilich in einer Sprache, die aus ihnen etwas Mythisch-Positives zu machen scheint. Dieses Mythische rückt nun in den Mittelpunkt der Erkenntnistheorie der neuen Etappe der Lebensphilosophie. Der faschistische Philosoph Boehm führt aus: „Das Unerforschliche ist für das deutsche Denken nicht eine Grenzbestimmung, sondern eine durchaus positive Bestimmung ... Es durchgreift unsere ganze Wirklichkeit und waltet im Kleinsten und Größten . . . Das Uner­forschliche als unauflösbarer Einschlag unserer Wirklichkeit ist wesentlich unzugänglich, aber durchaus nicht — unbekannt. Wir kennen es, wenn es sich auch nicht sagen läßt, es handelt in unserem Leben, es bestimmt un­sere Entscheidungen, es verfügt über uns ... Was Tiefe ist, läßt sich nicht sagen, aber es läßt sich zeigen an Menschen, an denen es da ist."(26) (Hier ist klar ersichtlich, daß die lebensphilosophische Begründung dessen, was lebendig und deutsch ist, nichts anderes vorstellt als eine Unterlage zur schrankenlosen Führerwillkür Hitlers.)

In demselben Sinn wie Boehm bestimmt Baeumler die Beziehung des Mythos zur Geschichte: „Das Problem des Mythos liegt hoffnungslos, solange man von der Frage nicht loskommt: wie ist der Mythos entstanden} enn dabei setzt man den festen Boden der Menschheitsentwicklung vor-s und fragt nun, wie innerhalb der Geschichte der Mythos entstanden sein uß. Auf diese Frage kann nie eine befriedigende Antwort erfolgen, denn e ist falsch gestellt. Der Mythos ist schlechthin ungeschichtlich . . . Der Mythos reicht nicht nur in die Urzeit, sondern auch in die Urgründe der Menschenseele herab."(27)

Von der Höhe dieser mystischen Eingeweihtheit in das Unerforschliche, die Urgründe wird die Kausalität verächtlich gemacht als Kategorie der „absoluten Sekurität". Wir kennen bereits von Jünger her die soziale Unterlage dieser Verächtlichmachung der „Sekurität". Für die national­sozialistischen Philosophen im engeren Sinn hat der Kampf gegen Gesetz und Kausalität als Ausdrucksformen der „Sekurität" auch noch die Ten-'enz, die vollendete innere Willkürherrschaft des Hitlerismus als etwas dar­zustellen, das „weltanschaulich" höher steht, dem Leben und der germani­schen Seele näher ist als die überwundene bürgerliche Weltordnung.

So entsteht auf allen Gebieten der Gegensatz von Leben und Tod, der 'etzt den Kontrast von Krieg und Frieden, von deutsch und undeutsch, von nationalsozialistisch und „bürgerlich" („plutokratisch") bedeutet. So werden die Grundkategorien der Lebensphilosophie zur Fundamentierung 'er Parolen und Taten der nationalsozialistischen „Revolution" umgebildet. Der Nihilismus der späten Lebensphilosophie wird zur Grundlage des faschistischen „heroischen Realismus".

Denn das Leben bedeutet auch für Baeumler, genau im Sinne der moder­nen Kierkegaardschüler: Entscheidung. Das Handeln auf der Grundlage der nationalsozialistischen Weltanschauung muß ein prinzipiell Irrationales, prinzipiell Unbegründbares sein. Handeln, führt Baeumler aus: „ist aber kein Realisieren erkannter Werte. Der wahrhaft Handelnde steht immer im Ungewissen, er ist ,wissenslos', wie Nietzsche sagt. Das macht gerade 'as Handeln zum Handeln, daß es nicht gedeckt ist durch einen Wert. Der Handelnde exponiert sich, sein Teil ist niemals die securitas, sondern certi-tudo."(28) (Das heißt: der Glaube an den „Führer", G.L.) Während aber aus der Kierkegaardschen Position bei Heidegger konsequent, bei Jaspers etwas verdeckt ein Nihilismus folgt, zerhaut Baeumler den Knoten sehr einfach, indem er das Leben als „kosmische Tatsache" dem Lebensbegriff der Biologie gegenüberstellt. Dieser müßte allerdings zum Relativismus führen, jener „würde jeder Relativierung Widerstand leisten"(29).

Wir sehen auch hier, wie die faschistische Lebensphilosophie die bis­herigen Tendenzen zu Ende führt und auf die Spitze treibt. Wir konnten die allmähliche, immer stärkere Loslösung des lebensphilosophischen Lebensbegriffs von dem der Biologie beobachten; hier ist bereits ein strik­ter Gegensatz da, der nicht nur von Baeumler, sondern auch von Krieck und anderen energisch ausgesprochen wird. Für Krieck sind die Thesen der Biologie ebenso nur Teile des Mythos, wie die anderer Wissenschaften(30). Sogar die Hauptkategorien des orthodoxen Faschismus, Rasse und Blut, faßt er nur als Symbole auf (31). Darum ist es nur konsequent, wenn die neue Lebenswissenschaft so dargestellt wird: „Im Bild des Menschen von sich selbst vollendet sich die universelle Biologie. Das Bild wird umschrieben durch eine rassisch-völkisch-politische Anthropologie. . . Diese Anthro­pologie tritt an die Stelle der verbrauchten Philosophie."(32) Man kann hier deutlich sehen, wohin die Endkonsequenzen des von Dilthey schüchtern und zögernd eingeführten anthropologischen Prinzips gelangen mußten, wie die faschistische Lebensphilosophie das für ihn unlösbare Dilemma des Anthropologismus in der Philosophie „löste".

Damit kommen wir zur realen Aufklärung dessen, was das „kosmische Leben" bedeutet. Baeumler spricht verächtlich vom „bildlosen Idealismus" der deutschen Klassik. Und er fügt als Kontrast, als Ausdruck des philoso­phisch Positiven hinzu: „Hitler ist nicht weniger als die Idee — er ist mehr als die Idee, denn er ist wirklich."(33) Wie diese Wirklichkeit des Lebens sich äußert, davon gibt Krieck ein sehr deutliches Bild: „Das Schicksal fordert den heldischen Menschen der Ehre, der sich jedem Befehl stellt."(34) Der Befehl geht selbstverständlich vom „Führer" aus: „Die Persönlichkeit des berufenen Führers ist der Schauplatz, auf dem das Schicksal des Ganzen sich entscheidet."(35) Was der Führer, was die nationalsozialistische Bewe­gung will, ist eben eine religiöse Offenbarung. Krieck verficht mit großer Energie, daß eine solche auch heute möglich sei: „Gott spricht aber un­mittelbar in uns im völkischen Aufbruch."(36)

So lösen sich alle Antinomien des nihilistischen Relativismus der Lebens­philosophie im nationalsozialistischen Mythos auf. Man muß Hitlers Be­fehlen gehorchen, damit ist jede Frage gelöst; der Gegensatz des bloß theoretischen (fiktiven, unlebendigen, bürgerlichen) und des lebendigen, kierkegaardisch interessierten, handelnden Menschen erhält im Befolgen dieser Befehle seine Aufhebung. Baeumler spricht klar aus, was die Führung für die neue Periode des „politischen Soldatentums" praktisch bedeutet: „eine Hochschule, die . .. nicht von der Führung durch Adolf Hitler und Horst Wessel redet, ist unpolitisch"(37), das heißt unlebendig, bürgerlich, verwerflich. Und Krieck gibt einen deutlichen ergänzenden Kommentar zu dieser Proklamation der „Führung durch Geist und Idee": „Wer Ant­wort erklügeln will, dem ist allerdings nicht zu helfen, der wird als un­nützer Beschwer vom schicksalhaften Gang der Dinge beiseite geschoben und auf den Mist geworfen."(38)

Auf diese Weise mündet die Lebensphilosophie in die faschistische Dem­agogie ein. Wie weit es sich bei Baeumler, Krieck und Co. um ein wirkliches Ziehen von Konsequenzen handelt, wie weit um eine zynische Anpassung an jene brutal ausbeuterische und unterdrückende Macht, deren Kommen sie voraussahen, ist nicht wichtig. Objektiv-philosophisch ziehen sie die letzten Konsequenzen der Lebensphilosophie, gehen den Weg zu Ende, der am Vorabend der imperialistischen Periode mit Nietzsche und Dilthey beginnt, und deren ruckweise Kulmination wir in ihren wichtigsten Etap­pen verfolgt haben. Daß sich Denker wie Dilthey und Simmel entsetzt von der faschistischen Wirklichkeit abgewandt und deren sogenannte Philo­sophie tief verachtet haben würden, ist sicher, schwächt jedoch diesen objektiv-historischen Zusammenhang nicht ab. Spengler steht sachlich dem Faschismus viel näher als sie und befand sich doch in ununterbrochenen Kontroversen mit dessen offiziellen Vertretern, und Stefan George, dessen Schule in der Ausbreitung der Lebensphilosophie eine große Rolle spielte (Gundolf, Klages und der Faschist Kurt Hildebrandt sind aus ihr hervor­gegangen) und dessen einzelne Gedichte eine prophetische Vorahnung des „Führers" enthalten und verkünden, der also sicher in dieser Richtung gewirkt hat, starb sogar im freiwilligen Exil. Das ändert jedoch an der Tatsache, daß die Baeumler-Krieck-Rosenbergsche Philosophie ohne Spengler und dieser ohne Dilthey und Simmel nicht möglich gewesen wären, gar nichts.

Hitler selbst war viel zu ungebildet und überzeugungslos-zynisch, um in irgendeiner Weltanschauung mehr zu sehen als ein augenblicklich wirk­sames Agitationsmittel. Es ist aber klar, daß auch seine Anschauungen sich unter dem Einfluß derselben zersetzend-parasitären imperialistischen Strö­mungen formierten, die in der „Elite" der Intelligenz die Lebensphilosophie hervorbrachten. Nihilistische Überzeugungslosigkeit und Wunderglauben als zusammenhängende Polaritäten bestimmen auch die Eigenart der Hitler-schen Propaganda. Freilich überwiegt bei ihm persönlich der zynische Nihilismus. Hitler hielt ja, wie wir aus den Gesprächen mit Rauschning wissen, sogar die Rassentheorie für einen Schwindel, den er aber für seine räuberisch-imperialistischen Ziele skrupellos ausnützte(39). Die allgemeine Atmosphäre seiner Agitation ist eine populär-vulgäre Ausgabe der grundlegenden Tendenzen der Lebensphilosophie: er lehnt in der Agitation jede ver­standesmäßige Überzeugung ab, es handelt sich für ihn nur darum, einen Rausch zu erzeugen und aufrechtzuerhalten(40); Agitation ist für ihn nur eine „Beeinträchtigung der Willensfreiheit der Menschen"(41). So sehr die Hitlersche Agitationstechnik sich am amerikanischen Reklamewesen heran­gebildet hat, so sehr ist sie inhaltlich aus demselben Boden gewachsen, aus dem die Lebensphilosophie entstand.

Direkter ist der Einfluß der Lebensphilosophie bei Rosenberg zu sehen. Freilich überwiegt auch bei diesem ganz offenkundig der überzeugungslosc Zynismus, nur mit der Nuance, daß Rosenberg als Zögling der russischen Weißgardisten, als Schüler Mereshkowskijs und anderer dekadenter Reak­tionäre schon bildungsmäßig für eine Rezeption der deutschen Lebens­philosophie prädisponiert war. So ist sein Buch „Der Mythus des 20. Jahr­hunderts" eine grob agitatorische Vulgarisation der letzten Periode der Lebensphilosophie. (Die Anlehnungen an Spengler und Klages werden von ihm, ungeachtet aller kritischen Vorbehalte, sogar ausdrücklich zugegeben.) Auch bei ihm finden wir eine mythische geschichtslose Geschichte, ein Leugnen der Weltgeschichte, um die absolute Vorherrschaft der Deutschen in der Welt (und in Deutschland: der Nazis) „nachzuweisen". Auch bei ihm finden wir den brutal militant gewendeten Gegensatz von Leben und Tod, von Intuition und Vernunft; auch bei ihm gehört der vehement demago­gische Angriff auf Geist und Wissenschaft zu den zentralen Punkten der Begründung des neuen Mythos. Der Gegensatz von Leben und Tod er­scheint hier als der der Germanen und der Juden; des schaffenden und des raffenden Kapitals usw. Die mit Dilthey erstarkende aristokratische Er­kenntnistheorie wird zur mythischen Unfehlbarkeit des „Führers". Die Kulturkreistheorie Spenglers, dieser soziologische Solipsismus, erscheint als die Lehre von der ewigen Wesenheit voneinander schroff geschiedener Rassen, die miteinander nur in der Form der gegenseitigen Vernichtung verkehren können. Die Typenlehre der Lebensphilosophie erscheint als die Forderung der Schaffung von Typen: als die Herrschaft des Banditentums der SA und SS.

In alledem ist philosophisch, selbst wenn man als Maßstab das philo­sophische Niveau der letzten Phasen der Lebensphilosophie nimmt, nichts Neues mehr. Die Lebensphilosophie eines Rosenberg ist nur mehr ein Herr­schaftsinstrument für die Verbrechen des neuen imperialistischen Welt­kriegs und seiner Vorbereitung. Es ist aber nicht ohne Bedeutung, daß die Lebensphilosophie gerade diesen Abschluß erhielt, daß die „national­sozialistische Weltanschauung" auf ihrer Grundlage entstanden ist. Denn damit erscheint diese Sackgasse der Barbarei als notwendiger Kulminationspunkt der Selbstauflösung der Ideologie des deutschen Imperialismus in der Lebensphilosophie, deren erste philosophische Vorläufer wir im Irrationa­lismus des Reagierens des deutschen Feudalabsolutismus auf die Französi­sche Revolution feststellen konnten. Und diese Kulmination ist keineswegs etwas Zufälliges. Sie ist das verdiente Schicksal der immanenten Tendenzen der Lebensphilosophie selbst. Hegel, der die Lebensphilosophie noch in einer nur wenig entwickelten Form, als Lehre vom „unmittelbaren Wissen" erlebt hat, sagt über diese prophetisch: „Daraus, daß das unmittelbare Wissen das Kriterium der Wahrheit sein soll, folgt. . ., daß aller Aberglaube und Götzendienst für Wahrheit erklärt wird und daß der unrechtlichste und unsittlichste Inhalt des Willens gerechtfertigt ist. . . Die natürlichen Be­gierden und Neigungen .. . legen von selbst ihre Interessen ins Bewußt­sein, die unmoralischen Zwecke finden sich ganz unmittelbar in dem­selben."(42)

Anmerkungen

[Die Nummerierung wurde aus dem Fußnotenmodus in den fortlaufenden Endnotenmodus transformiert.]

1) Klages: Vom kosmogonischen Eros, 2. Aufl., München 1926, S. 63.
2) Ebd., S. 65.
3) Klages: Der Mensch und das Leben, Jena 1937, S. 32.
4) Ebd., S. 33.
5) Ebd., S. 51.
6) Ebd., S. 35.
7) Klages: Der Mensch und das Leben, a. a. O., S. 214.
8) Ebd., S. 215f.
9) Klages: Der Mensch und das Leben, a. a. O., S. 79.
10) Klages: Vom Wesen des Bewußtseins, Leipzig 1921, S. 4.
11) Ebd., S. 137 fr.
12) Klages: Kosmogonischer Eros, a. a. O., S. 79.
13) Ebd., S. 137fr.
14) Ebd., S. 140.
15)
 Klages: Vom Wesen des Bewußtseins, a. a. O., S. 52.
16) Jünger: Der Arbeiter, 2. Aufl., Hamburg 1932, S. 39.
17) Ebd., S. 40.
18) Ebd., S. 204
19) Ebd., S. 66
20) Ebd., S. 79
21) Ebd., S. 292.
22) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934, S. 127.
23) Baeumler: Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, S. 125.
24) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, a. a. O., S. 63.
25) Ebd., S. 62.
26) Boehm: Anticartesianismus. Deutsche Philosophie im Widerstand, Leipzig 1938, S. 34f
27) Baeumler: Der Mythos vom Orient und Occident, Einleitung zur Bachofen-Ausgabe, München 1926, S. XCf.
28) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, a. a. O., S. 91.
29) Ebd., S.95f.
30) Krieck: Völkisch politische Anthropologie, Bd. I: Die Wirklichkeit. Leipzig 1956, S. 27.
31) Ebd., S. 74.
32)  Ebd., S.43
33) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, a. a. O., S. 127.
34) Krieck: Anthropologie, a. a. O., S. 59.
35) Ebd. S.90f.
36) Ebd. S. 60.
37) Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, a. a. O., S. 35.
38) Krieck: Anthropologie, a. a. O., S. 35.
39)
Rauschning: The Voice of Destruction, New York 1940, S. 152.
40) Hitler: Mein Kampf, Volksausgabe, München 1934, Bd. I, S. 183.
41) Ebd., Bd. II, S. 531.
42)
Hegel: Enzyklopädie, § 72.
 

Editorische Hinweise

Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin DDR, 3. Auflage 1984, S.417-431, OCR-scan red. trend