Zum Tode von Christian Semler

von Karl-Heinz Schubert

02-2013

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Christian Semler auf der SDS-BDK November 1968
Ein gutes Jahre vor Gründung der KPD-AO

Auszug aus Semlers Rede auf der Konferenz
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In der Nacht auf den 13. Februar 2013 starb Christian Semler 74jährig an einem Krebsleiden. Persönlich lernte ich Christian Semler im WS 1969/70 kennen. Da nahm ich als Mitglied einer Roten Zelle an einer die Gründung der KPD-Aufbauorganisation vorbereitenden Schulung teil. Der Genosse Semler war ein zugewandter, das materialistisch-dialektische Denken beherrschender und äußerst belesener Schulungsleiter. Seine Einführung in Lenins Partei- und Imperialismustheorie haben bei mir wichtige theoretische Fundamente in Sachen wissenschaftlicher Sozialismus gelegt.

Dass Christian Semler in dem Lebensabschnitt, der seinem Eintreten für den Kommunismus und seinem Engagement für eine proletarisch-revolutionäre Politik folgte, ein ideologischer Gefolgsmann oliv-grüner Politik wurde, habe ich als schmerzlich empfunden. Seine theoretischen Leistung als maoistischer Marxist werden dadurch freilich nicht geschmälert, was der folgende Textauszug zeigen soll. Er entstammt dem 2. Band „Zur Bilanz und Perspektive der KPD“ vom März 1980, erschienen mitten im Auflösungsprozess der maoistischen KPD.

Über das Theorie / Praxis-Problem und unser Verhältnis zum wissenschaftlichen Sozialismus 

Das Verhältnis des wissenschaftlichen Sozialismus zur Praxis ist heute prekär gefährdet. In die Krise geraten ist das theoretische Moment der Objektivität des revolutionären Prozesses, ohne die der Sozialismus als Wissenschaft tatsächlich fragwürdig ist. Obwohl Hunger, Elend, Ausbeutung, Unterdrückung und Sinnentleerung des Lebens in der heutigen Welt immer drückender werden, die Vernichtung alles Lebens heute eine tägliche Bedrohung ist, existiert der Imperialismus nicht nur weiter. Er hat sogar zuwege gebracht, die Ansätze antiimperialistischer Aktionseinheit zwischen den Völkern der Dritten Welt und fortschrittlichen Bewegungen in den Metropolen wieder weitgehend zu zerstören. Angesichts der Ergebnisse des „realen Sozialismus" wird dem wissenschaftlichen Sozialismus oft nur noch zugestanden, eine brauchbare Theorie und Praxis für die Industrialisierung unterentwickelter Länder abzugeben. Marxismus und Leninismus sehen sich — was die Theorie-Praxis-Verhältnisse betrifft — einem doppelten Angriff gegenüber. Dem Angriff einer praxisentleerten Strukturtheorie, die die Verknüpfung d.h. die notwendige Verknüpfung von Theorie und umwälzender Praxis als unwissenschaftlich zurückweist. Dem Angriff des utopischen Sozialismus, der — bewußt oder unbewußt — die ebenfalls notwendige Verknüpfung des Kampfs um den Sozialismus mit der Entwicklung der Produktivkräfte zerreißt, den Widerspruch zwischen zunehmend gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung nicht als potentiell sprengend ansieht und deshalb auf vormarxistische Positionen zurückgeht. Unsere Partei ist deshalb mit so großer Wucht und so geringer Widerstandskraft von diesem Doppelangriff betroffen worden, weil einem verkürzten Begriff der gesellschaftlichen Praxis immer ein Unverständnis darüber gegenüber stand, was unter theoretischer Arbeit im marxistischen Sinn zu verstehen sei.... 

...Heute wird oft die Auffassung vertreten, unsere theoretische Schwäche sei Ausdruck der mangelnden Entfaltung der Demokratie gewesen. Dieses Argument hat insofern seine Berechtigung, als die Theoretisierungen unserer Klassenkampfpraxis, die den Genossen möglich gewesen wären, nicht ins Werk gesetzt wurden. Gerade auf dem Gebiet der Klassenanalyse bleibt richtig, daß sich ein fruchtbarer Zusammenhang zwischen Untersuchung, Klassenkampf und Organisation herstellen läßt, wenngleich nicht in der unvermittelten Weise wie von uns 1970 projektiert. Ein solcher Ansatz hätte ständige kollektive Beratung, Anregungen, Experimente zur Voraussetzung gehabt. Unsere Genossen wurden aber geradezu umgekehrt dazu erzogen, sich der Wirklichkeit gegenüber nicht untersuchend und experimentell zu verhalten, über ihre Praxis nicht zu reflektieren. Wäre dies der Fall gewesen, so hätten wir schon in der ersten Hälfte der 70er Jahre die Partei so reorganisiert, daß die Genossen überhaupt relevante praktische Erfahrungen machen konnten. So wie wir das Zellenprinzip praktizierten, lagen jahrelang für eine Vielzahl von Genossen ihre praktischen Erfahrungen im Klassenkampf gerade außerhalb ihrer Zellenstruktur, weshalb die Zelle auch nicht ein Ort der Verallgemeinerung, der kritischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit werden konnte.

Das Haupthindernis für produktive wissenschaftliche Arbeitwar aber nicht mangelnde Demokratie, sondern die bereits beschriebene Absolutsetzung der Partei gegenüber der Wirklichkeit, die Vorstellung eines geschlossenen theoretischen Feldes, das nur wir in der Lage sein würden zu beackern, der Anspruch auf vollständige und allseitige Durchdringung eines Themas vor seiner öffentlichen Diskussion, der zur Häufung von immer mehr ,,unerledigten Fragen"bei der Parteizentrale, zur Dialektik von Selbstverpflichtung und anschließendem Katzenjammer, schließlich zum Zusammenbruch der Zentrale als eines theoretischen Kollektivs führte. 

Aus dieser Misere den Schluß zu ziehen, eine kommunistische Organisation könne in keiner Weise der Ort theoretischer Verallgemeinerung kollektiver Erfahrung sein oder — noch weitergehend — heute sei es generell unmöglich, Theorie und Politik zu verbinden, hieße doch, unseren Fehlern nachträglich die Weihe des Unvermeidlichen zu geben. Fest steht, daß heute nicht gesicherte Erkenntnis offenen Fragen gegenübersteht wie die weißen Flecke den vermessenen Gebieten in früheren Karten, sondern daß jegliche Praxis verbunden ist mit unaufgeklärten theoretischen Problemen. Wie aber sollen die Möglichkeiten und die Grenzen revolutionärer Politik in einer gegebenen historischen Situation aufgedeckt und die Tragfähigkeit marxistischer Theorie anders geprüft werden denn in der Praxis? Wie soll beispielsweise eine genauere Analyse und Prognose der unterschiedlichen klassenmäßigen und weltanschaulichen Positionen bei den Grünen anders hergestellt werden als durch Teilnahme an dieser Bewegung? Die innere Dynamik einer Bewegung und ihre verborgenen Möglichkeiten erschließen sich nicht der bloßen Beobachtung. Den Dialog fortschrittlicher Kräfte der Linken, den wir anstreben, werden wir nur als organisiert kämpfende revolutionäre Kraft, die ihre Erfahrungen, ihre Theorien „einbringt“, bekommen.

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