Das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum stellte sich vor
Ein Positionspapier und eine Fachtagung am 18.Februar 2013 in Berlin

von Anne Seeck

02-2013

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Bundesweit hat sich das „Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum“ gegründet. Es will eine Erhöhung des Hartz IV- Regelsatzes durchsetzen. Seit dem 1. Januar 2013 beträgt dieser für einen Alleinstehenden bzw. Haushaltsvorstand 382 Euro. Das Bündnis ist mit einem Positionspapier an die Öffentlichkeit gegangen: http://www.menschenwuerdiges-existenzminimum.org/category/postionspapier

Die Forderung: Ein „Existenzminimum“

Allein schon das Wort „Existenzminimum“ löst bei einigen ErwerbslosenvertreterInnen Unbehagen aus, insbesondere bei der Fraktion der GrundeinkommensbefürworterInnen.

Das Bündnis sieht eine Dimension des Mangels in einer „Bedarfslücke“ von 150-170 Euro. Dabei käme ein Regelsatz von 532-552 Euro heraus. In ihren Forderungen ist dieser Regelsatz allerdings nicht zu finden. Sie sind wahre Rechenkünstler, wie das Positionspapier zeigt.

Statt der bisher üblichen Anteile für die tägliche Ernährung zwischen 2,82 Euro (Kleinkinder) und 4,77 Euro (Erwachsene) im Jahre 2013 errechnen sie zwischen 3,03 Euro und 8,06 Euro. 8 Euro, pardon 8 Euro und 6 cent, für Ernährung am Tag, das ist wahrlich eine Forderung, für die es sich zu kämpfen lohnt. Ich stelle mir schon die Demonstrationsplakate vor, mit dieser Forderung „8,06 Euro für Ernährung am Tag.“. Immerhin reicht das für einen Besuch beim Chinesen, mit Trinkgeld. 6 cent verbleiben dann noch für ein halbes Brötchen? Was will man mehr. Wir wollen alles!

Spannend wird es auch im Bereich Freizeit, Unterhaltung und Kultur. Dafür werden im Jahre 2013 insgesamt monatlich 42,19 Euro gewährt. Das Bündnis sieht eine „Bedarfslücke“ von 37,44 Euro. Das wären dann 79,63 Euro im Monat. Ja prima. Das reicht dann für einen ermäßigten Sprachkurs an der Volkshochschule, ein Buch und einen Kinobesuch. Aber ist das überhaupt im Grundbedarf? Sie bemängeln, dass Schnittblumen, Zimmerpflanzen, Haustiere sowie Campingartikel nicht mehr im Grundbedarf sind. Ja die Unterschicht hat keine Kultur und braucht keine Kultur. Schon gar nicht darf der Computer kaputt gehen und Unterhaltungselektronik, mit der nerven die Leute in der U-Bahn sowie nur. Und die Kneipenbesuche? Naja, Alkohol und Tabak sind sowieso gestrichen. Schon in der DDR wollte der Staat die Bedürfnisse der Menschen planen. Ergebnis war zum Beispiel eine scheußliche Jugendmode. Bürokraten planen also meine Kulturbedürfnisse in der Kulturhauptstadt Berlin. Es lohnt sich für 80 Euro, ach so 79,63 Euro, für Freizeit, Unterhaltung, Kultur auf die Straße zu gehen. Ja, unsere Experten berechnen unsere Bedürfnisse, Sarrazin hat es ihnen vorgemacht. Aber sie sind die wahren Experten, damit haben sie ihre Kompetenz unter Beweis gestellt. Denn auch wir „Bedürftigen“, wir Bittsteller wollen endlich konsumieren.

Ja die Macht der Bedürfnisse, ein Buch von Marianne Gronemeyer, sehr empfehlenswert.

Der Konsumismus ist totalitär. Niemand darf ihm entkommen. Verrückterweise nicht einmal die Habenichtse der Welt, die hoffnungslos abgehängt sind von der Möglichkeit, als Konsumenten ihr Auskommen zu finden, die niemals als zahlungskräftige Käufer das Geschäft beleben werden. Auch sie sollen sich am Standard messen, sollen in die Konkurrenz um die Weltofferten hineingezwungen werden, Lebensmühe darauf verwenden, sich Millimeter um Millimeter ächzend vorzuarbeiten in die schöne neue Konsumentenwelt, in der der Gelderwerb absoluten Vorrang genießt vor dem Broterwerb. Alle müssen bedürftig werden. Warum das? Nun, nur wer bedürftig ist, ist beherrschbar(...) Wer bedürftig ist, wer Bedürfnisse geltend macht, hält sich an das, was man wollen darf. Und wollen dürfen wir nur noch, was die Konzerne an Gütern und Dienstleistungen im Angebot haben, wie verderblich und schädlich die Produkte auch immer sein mögen. Wer bedürftig ist, kann sich nicht in Gemeinschaft mit andern auf je eigene Weise und mit je eigenen Präferenzen am Leben erhalten. Er kann zu seinem Lebensunterhalt nichts tun, er muss alles, was er braucht, kriegen.“ http://postwachstumsoekonomie.org/Gronemeyer-Macht_der_Bedurfnisse.pdf

Die Forderungen: Warenkorb und Kommission

Im Positionspapier fordern sie eine andere Berechnung der Regelsätze, mit dem Warenkorbmodell statt der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Mit dem Warenkorb wurde früher so toll die Sozialhilfe berechnet, die ja auch ein luxuriöses Leben ermöglichte...Eine wahrhaft revolutionäre Forderung. Zudem fordern sie die Einsetzung einer unabhängigen Kommission. „Diese soll aus WissenschaftlerInnen, VertreterInnen von Wohlfahrts- und Sozialverbänden, den Sozialpartnern, Kommunen und nicht zuletzt Betroffenen selbst bestehen.“ Also aus ihnen selbst.

Aufgabe der Kommission ist die Erarbeitung von Vorschlägen für den Gesetzgeber sowohl hinsichtlich der Parameter der EVS-Auswertung als auch der Überprüfung der EVS-Ergebnisse im Sinne eines „Bedarfs-TÜVs“. Eine bedarfsorientierte Überprüfung nach der Warenkorbmethode kann zudem die Ermittlung der Regelsätze von einer „technokratischen“ Hinterzimmer- und Expertenentscheidung zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte öffnen.“

Ich stelle mir schon vor, wie ein gesamtes Land die Regelsätze von Hartz IV- BezieherInnen berechnet. Das wird tolle Diskussionen geben...Eine breite gesellschaftliche Debatte.

Und die Betroffenen werden glücklich sein, dass alle an sie denken.

Zielgruppe der Mobilisierung?

Aber Spaß beiseite. Natürlich ist die Armutssituation vieler Hartz IV- BezieherInnen erschreckend. Und natürlich wäre eine Regelsatzerhöhung wichtig. Das kann allerdings nur ein erster Schritt sein. Davon findet sich im Positionspapier allerdings so gut wie nichts, wie es weitergehen kann. Sie schreiben „Den gesellschaftlichen Spaltungsprozess aufhalten“ und wollen eine breite gesellschaftliche Debatte zur Frage „Wie viel braucht ein Mensch zum Leben und wie soll das aussehen?“ anstoßen. Aber ist das eigentlich die entscheidende Frage. Ist den Hartz IV- Betroffenen wirklich mit 150 Euro mehr geholfen, wenn das gesellschaftliche Umfeld so bleibt. Einige Punkte werden in dem Abschnitt „Anforderungen an eine menschenwürdige Existenzsicherung“ angesprochen. Danach sprechen sie zwar die Tücken von Statistik an, werden dann aber selbst zu Statistikern. Das Positionspapier ist ein Papier, dass man zwar Experten und NGO`s in die Hand drücken kann, wenn man sich traut, aber kein Mobilisierungspapier an den Jobcentern. Hartz IV- BezieherInnen waren wohl auch nicht die Zielgruppe. Und da beginnt schon das Problem. Die Experten tun etwas für die „Bedürftigen“, die anscheinend nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu wehren. Und für die „Bedürftigen“ dürfen nur „auserlesene VertreterInnen“ das Wort ergreifen.

Die BündnispartnerInnen

Bekannt geworden ist auch eine Kritik am Bündnis, die sich auf einige BündnispartnerInnen bezieht, wie Teile der Armutsindustrie (z.B. Diakonie) oder dem „Sozialpartner“ DGB. http://www.trend.infopartisan.net/trd1212/t541212.html

Dem Bündnis gehören an: AWO, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, ALSO Oldenburg, attac, Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände, BUND, Diakonie, DGB, Erwerbslosenforum Deutschland, EFAS, Nationale Armutskonferenz, Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, Sozialverband, VdK, Pro Asyl, Volkssolidarität, Naturfreunde Deutschlands, Verband alleinerziehende Mütter und Väter, Tacheles e.V.

Eine beeindruckende Liste, die sich bestimmt noch erweitern läßt.

Das Bündnis ging am Montag, d. 18. Februar 2013 mit einer Fachtagung an die Öffentlichkeit.
http://www.menschenwuerdiges-existenzminimum.org/aktion/termin/20130122418.html

Auf der TeilnehmerInnenliste der Fachtagung standen dann noch Menschen, z.B. von Hochschulen, einer Fachambulanz, der Bundesagentur für Arbeit, einer Museumsstiftung, einem Nachbarschaftszentrum, einem Seniorenbeirat, einer BVV, einem Gesundheitsamt etc. Es waren Hartz IV- Betroffene da, allerdings zumeist ExpertInnen, die nicht nur von den Verbänden kamen, sondern auch aus der Erwerbslosenbewegung selbst. Allerdings waren viele ErwerbslosenvertreterInnen nicht anwesend.

KritikerInnen aus der Erwerbslosenbewegung

Tacheles, ALSO, Erwerbslosenforum, KOS sind beileibe nicht repräsentativ für die Erwerbslosenbewegung.
So hatte das ABSP im Vorfeld sich gegen diese Fachtagung positioniert, siehe
http://www.die-soziale-bewegung.de/ Treffen 8.12.12, S. 5, 7.
Die BAG Prekre Lebenslagen hatte in einer temperamentvollen Diskussion im Juni 2012 diese Art von Schulterschluss abgelehnt und die inhaltlichen Vorstellungen verworfen, siehe
http://www.bag-plesa.de/veranstaltungen/2012-06_bielefeld/.

Der Runde Tisch gegen Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung hatte bereits im Dezember 2011 deutlich gemacht, dass er eine politische Fokussierung auf die Regelsatzfrage ablehnt. Das ist im Flugblatt "Wieso weder "zufriedene Hühner" noch ein höherer Regelsatz für Bio-Lebensmittel das Gelbe vom Ei sind!" unter "Hartz IV ist mehr als der Regelsatz" zu lesen, siehe http://www.pariser-kommune.de/
Die Erwerbsloseninitiative Gegenwind kritisiert obiges Bndnis.
http://www.ali-gegenwind.de. Hierunter haben sich etliche Erwerbsloseninitiativen versammelt, z.B. aus Kassel, Kln, Lneburg usw.

Expertokratie

Und was machen Experten? Sie gehen mit einem Papier und einer Fachtagung an die Öffentlichkeit.

Es ist gut, dass es diese ExpertInnen im Hartz IV- Bereich gibt. Nicht jede/r hat Lust darauf, sich in dröge Gesetzestexte einzuarbeiten. Jede/r nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Aber was dann bei solch einer Expertokratie herauskommt, wird mit dem Papier und der Fachtagung deutlich.

Der Ablauf der Fachtagung

Von 11 Uhr bis 12.20 Uhr gab es nach der Begrüßung sechs frontale Fachkurzvorträge im Saal. Danach blieben den TeilnehmerInnen 25 Minuten für die Diskussion und natürlich kommen dann nur geübte Redner ans Mikrophon. Wer vor einer Menschenmenge nicht sprechen will, schweigt. Das kostenlose Mittagsessen war dann erholsam und man hoffte auf die Workshops. In dem Workshop, den ich besuchte, ging es dann weiter mit Powerpoint- Frontalvorträgen. Der zweite Referent mußte seinen Frontalvortrag abbrechen, er hatte noch viel Material im Gepäck. Da TeilnehmerInnen nach über einer Stunde rebellierten, blieben dann wenigstens noch 15 Minuten für die Diskussion vor der Pause. Das Bedürfnis von TeilnehmerInnen war, zu diskutieren, was sie nun tun können. Es besteht aufgrund des Leidensdruckes Handlungsbedarf. Einen Workshop, der sich nur damit beschäftigen könnte, gab es nicht. Aber die Frontalvorträge vom Vormittag wurden in den Workshops von 13.30 bis 15 Uhr vertieft. Die Experten wollten ihr Wissen anbringen. Aber es sollte ja nach der Pause weitergehen. Der Blick auf das Programm reichte dann wohl schon vielen, sie verließen das Haus. Angekündigt war von 15.15-16.45 Uhr eine PolitikerInnen- Befragung. So wie z.B. VertreterInnen von Diakonie und Caritas im Saal saßen, die mit ihren Ein-Euro- Jobs von Hartz IV profitiert hatten, sollten die Hartz IV- Betroffenen mit Politikern diskutieren, die ihnen die Scheiße eingebrockt hatten. Ein Appell an die Parteien. Die Politiker bekamen dann jeweils 5 Minuten Zeit, um auf sechs Fragen zu antworten. Dass sie dagegen nicht rebellierten, ist Teil ihres Geschäfts. Schließlich sind wir im Wahlkampf. Nach jedem Politiker hatte man dann die Gelegenheit, Fragen zu stellen. Beim ersten Politiker von der CDU gab es wenigstens noch eine kreative Lösung. Die Experten im Saal lachten ihn wegen Unkenntnis aus. Er hat sich kräftig blamiert. Aber dann wurde es immer öder. Als der Mann von der SPD die Menschen aufforderte, in die SPD einzutreten, um etwas zu verändern, und die Frau von den Grünen eine revolutionäre Rede schwang, was sie jetzt alles tun wollen, war der Höhepunkt erreicht. Die Experten mit ihrer Fachtagung hatten dafür gesorgt, dass Leute mit Frust nach Hause gingen, zumindestens jene, die unter dem Hartz IV- Regime zu leiden haben und ungeduldig sind. Angelegt war das schon in dieser Form von Fachtagung.

Die Frage des Politikstils und Beispiele anderer Protestbewegungen

Statt zunächst mit einem Selbstverständigungsprozeß der Experten und Betroffenen zu beginnen, d.h. viele Diskussionen, knallt man den Interessierten ein Papier, Frontalvorträge und PolitikerInnen vor die Nase. Nicht die Selbstorganisation von unten, nämlich Druck von unten aufzubauen, ist das Anliegen, sondern ein Appell von ExpertInnen (und dazu zähle ich auch VertreterInnen der ALSO und Tacheles) an die Politik. Das ist ein anderes Politikverständnis. Und für viele Betroffene wenig attraktiv, die nicht mal mehr zu Wahlen gehen und keine Hoffnung in Parteien setzen.

Beispielgebend wären für die Erwerbslosenbewegung die Gentrifizierungsbewegung, die sich nicht von der Politik vereinnahmen läßt, aber mit ihrem Druck von unten, ihren Mieterkämpfen, Stadtteilgruppen, Aktionsformen (wie der Blockade gegen Zwangsräumungen: http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de/) dafr gesorgt hat, dass sich die Politik des Themas annehmen mu.

Hier ein Kommentar in der bürgerlichen Presse: http://www.berliner-zeitung.de/

Nicht durch Appelle, sondern durch Druck von unten. Oder die Flüchtlingsproteste. Sie haben mit ihren Aktionsformen (Hungermarsch, Besetzungen etc.) erreicht, dass z.B. die Residenzpflicht in einigen Bundesländern aufgehoben wurde.

(Besetzung einer Schule: http://www.berliner-zeitung.de

Wie langweilig muten dagegen Appelle an die Politik an, wenn gleichzeitig kein Druck von Hartz IV- Betroffenen vorhanden ist. Mit einer Expertokratie wird man auch nicht erreichen, die Betroffenen zu mobilisieren. Diese Form von Politik durch das Bündnis ist entmündigend. Natürlich will ich jenen, die sich dort engagieren, nicht absprechen, dass sie sich nicht bemühen, die Situation der Betroffenen zu verbessern. Es ist gut, dass es noch diese engagierten Leute gibt. Natürlich ist ein breites Bündnis wichtig, nur mit vielen BündnispartnerInnen und vielen Menschen, kann man eine Veränderung erreichen. Aber es geht um den Politikstil und die Ziele.

Die Vorträge am Vormittag

Birgit Mahnkopf berichtete zunächst, dass es bis in die 90er Jahre „ein komplexes System von gesicherten Rechten“ gab. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts setzte dann eine Amerikanisierung der sozialen Verhältnisse ein und das Sozialsystem wurde bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschrumpft. Der Faktor Arbeit sollte billiger gemacht werden. Der Regelsatz bei Hartz IV wurde bewußt niedrig gehalten, um einen Anreiz zur Niedriglohnarbeit zu erhöhen. Allerdings können immer mehr Menschen von ihrer Arbeit nicht leben. Die Demokratie wurde ihres sozialen Charakters beraubt. Es ginge nicht um mehr Almosen, sondern um Bürgerrechte.

Kleiner Kommentar: Allerdings gab es von linker Seite auch früher eine Kritik am Sozialstaat. Linke Sozialstaatskritik betont vor allem die Befriedungsfunktion des Sozialstaates. Schon Bismarck hat das erkannt. Die Sozialdemokratie wurde gezähmt und aus den Gewerkschaften wurden Sozialpartner. In Zeiten der Systemkonkurrenz wurde der sogenannte "Wohlfahrtsstaat" ausgebaut, so z.B. 1961 mit dem Bundessozialhilfegesetz. Aber Linke hatten schon immer eine Kritik am "Fürsorgestaat", denn er war immer repressiv und disziplinierend. Es gab immer Arbeitszwang. Vorbild war die männliche Erwerbsbiographie, die Reproduktionsarbeit der Frauen und die gesellschaftliche Arbeitsteilung blieben unbeachtet. Alle Lebensbereiche der Beschäftigten wurden und werden kontrolliert (durch Schule, Gesetze etc.), Erwerbslose entmündigt und diszipliniert. Hier eine Kritik von Christian Frings: http://www.akweb.de/ak_s/ak556/16.htm

Und trotzdem müssen wir für soziale Rechte kämpfen, denn weltweit gesehen leben wir noch in einem „Paradies“... So niedrig diese Grundsicherung auch ist, es gibt sie noch...

Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg sprach dann über den täglichen Mangel und seine Auswirkungen. Er fragte: Wie konnte nach dem Bundesverfassungsurteil die Regierung mit dem Regelsatz durchkommen?

Ich habe mich damals schon gewundert, wie viel Hoffnung Hartz IV- Betroffene in dieses Urteil legten. Hoffnung in Justiz und Politik? Hier ein Text und Interview in der DA und im ak von mir http://www.direkteaktion.org/198/ , http://www.direkteaktion.org/204/erwerbslosenbewegung-interview  / http://www.akweb.de/ak_s/ak559/33.htm

Und dann fragte er in seinem Vortrag weiter. Wie konnte die Opposition das durchgehen lassen?

Im Publikum kam dann die Frage, welche Opposition er denn meine. In Bezug auf Hartz IV gab es keine Opposition. Und auch die Linkspartei hat in Berlin brav bei der Umsetzung von Hartz IV geholfen.

Natürlich hat die ALSO und Tacheles mit ihrer langjährigen Arbeit viel Wissen angehäuft und das ist gut so. Nur sollten sie in diesem Bündnis, die Interessen von Erwerbslosen stärken und einen anderen Politikstil anmahnen, der auf die Mobilisierung von Betroffenen, Druck von unten, setzt, und nicht wieder mit der Hoffnung in die Parteien das Ganze lähmen.

Da wäre einerseits von anderen Protestbewegungen viel zu lernen, aber andererseits auch eine kritische Selbstreflexion der Erwerbslosenbewegung notwendig.

Harald Rein hat dafür einiges getan: http://www.trend.infopartisan.net/teilhabe/rein_erwerbslos.html

Michaela Hoffmann von der Cartias mahnte dann in ihrem Beitrag „Die Grundsicherung im Demokratietest“, sich stärker in den demokratischen Prozeß einzumischen. Es sollten alle ermuntert werden, sich einzumischen.

Aber warum mischen sich viele Erwerbslose nicht ein. Sie sind resigniert und fatalistisch. Weil sie keine Hoffnung in die Politik haben, weil sie keine Lobby haben. Wenn dieses Bündnis eine Lobby schaffen will, dann ist doch wichtig, wie sie an die Politik herantritt. Mit einem Appell? Und dann?

Bernhard Jirku hielt dann einen Vortrag zu prekärer Beschäftigung. Natürlich alles wichtig, aber dem Fachpublikum bestimmt bekannt. Und wieso lädt man dann die SPD und Grünen ein, die mit ihren Regelungen z.B. zu Minijobs dafür gesorgt haben, dass die Zunahme von Hungerlöhnen so erschreckend ist. „Hartz IV ist kein Arbeitslosensystem, sondern ein Prekaritätssystem!“, so Jirku.

Abschließend redeten dann noch VertreterInnen der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft und Dr.Rudolf Martens vom Paritätischen.

Die Situation der Betroffenen

Alles gut gemeint, aber die Betroffenen, die in den Jobcentern und Lebensmittelausgaben Schlange stehen, die psychisch erkranken und begutachtet werden, die sanktioniert werden, die sich keine Brillen leisten können, die kein Geld für Mobilität haben, die ihren Kindern keine Klassenfahrt ermöglichen können, die wegen Schwarzfahrens im Knast sitzen, die hoch verschuldet sind etc., sie alle sind ungeduldig und so bekommt man sie nicht mobilisiert.

Die soziale Frage, die Spaltung der Gesellschaft, die Angst vor sozialem Abstieg führt in ganz Europa, und insbesondere auch in Osteuropa, zu Nationalismus, Rechtsextremismus, Rechtspopulismus. Das Klima der Angst führt dazu, dass nach unten getreten wird, dass arme Menschen diffamiert werden. Es ist einfach zu viel Leidensdruck, den Menschen auszuhalten haben. Und was macht das Bündnis, eine „Fachtagung“ mit Politikern.

Die Diskussion

In der Diskussion sagte dann jemand aus Ostdeutschland, dass dort die Nazis stark geworden seien. Ein anderer sagte, dass das Thema zu kompliziert sei (bzw. die Experten machen es kompliziert) und sich schwer für eine Mobilisierung eignen würde. Man müße den größeren Zusammenhang (z.B. die Verteilungsfrage) im Blick haben und auch Menschen in gesicherten Verhältnissen gewinnen. Es wurde gefragt: Wie kriegen wir Menschen unter der Belastungsgrenze mit? Wie mobilisieren wir?

Leider blieben die Fragen auf der Tagung unbeantwortet. Dazu gab es keinen Workshop, eine Vorstellung der Ergebnisse aller Workshops gab es auch nicht.

Ein Workshop „Hunger am Arbeitsmarkt“

Deshalb nur der Vortrag von Bernhard Jirku, in dessen Workshop „Hunger am Arbeitsmarkt“ ich war.
Hier im Internet: http://www.drs.de

Die Politikerrunde

Zuerst präsentierte sich Karl Schiewerling, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der CDU. Auf seiner Website prangt: Unsere Erfolgsbilanz. Dem Land geht es gut.

http://www.schiewerling.de/

Sie seien durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil aufgefordert worden, die „Bedarfsätze konsequent abzuleiten“, „Das haben wir getan.“ „Die Regelsätze wurden transparent dargestellt.“ Er sei fest davon überzeugt, dass die Regelsätze korrekt seien. Von den Regelsätzen zu leben, sei keine Freude. „Es ist und bleibt eine Grundsicherung. So ist das damals entwickelt worden.“

In der Diskussion berichteten dann Betroffene, dass z.B. für Strom oder Gesundheit zu wenig im Regelsatz vorgesehen wäre. Zum Schluß wurde er dann ausgelacht, weil er zu Sonderbedarfen und der Referenzgruppe falsche Angaben machte. Die Experten saßen im Publikum.

Danach kam Josip Juratovic von der SPD, er ist ordentliches Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Auf seiner Website wirbt er für mehr Einsatz für eine gute Integration. Darum kümmern sich auch Sarrazin und Buschkowsky in seiner Partei...http://www.josip-juratovic.de/

Die SPD hätte den Regelsatz zu verantworten, Aber „es gab paar Verbesserungen“. Die Spaltung in der Gesellschaft sei immer größer geworden. Im Armuts- und Reichtumsbericht sei einiges gestrichen worden. Bei den Ärmsten sei viel gespart geworden etc.

Die erste Diskutantin: „Da kann ich zustimmen. Wie kriegt man Kontakt hin?“

Der nächste: „Es wären Möglichkeiten dagewesen, Verbesserungen vorzunehmen, sie waren nicht gewollt.“ Die SPD hielte an Hartz IV und Sanktionen fest. (Naja die „Parteidisziplin“)

Der SPDler: „Was Sanktionen betrifft, bin ich zu wenig drin. Wahrscheinlich ist es individuell zu bewerten.“

Die nächste war dann Katja Kipping von der Linkspartei, sozialpolitische Sprecherin. http://www.katja-kipping.de/

Maßnahmen seien mehr Geld, ein Antrag für den Armuts- und Reichtumsbericht, eine Normenkontrollklage, eine gesellschaftliche Debatte, welche Löhne nach oben hin sittenwidrig seien, Mindestlohn, eine „couragierte“ Besteuerung von Reichtum, Finanzierung öffentlicher Güter. „Wie wollen wir arbeiten.“ „Man muß sich wehren, um seine Rechte zu bekommen.“

Der nächste war Pascal Kober von der FDP, Obmann im Ausschuss für Arbeit und Soziales. http://www.pascal-kober.de/

Laut Armuts- und Reichtumsbericht sei die Spaltung rückläufig, trotzdem aber eine enorme Spreizung. Es ginge darum, viele Menschen in Arbeit zu bringen...

Eine Diskutantin meinte „Das Parteienmodell hat versagt. Es kostet Zeit.“ Allerdings setzte sie dann die Hoffnung in die nächste grüne Politikerin.

Die letzte Politikerin war dann Brigitte Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen. http://www.pothmer.de/

Sie hielt dann eine „wahrhaft revolutionäre Rede“, die mich am meisten auf die Palme brachte. Als ob die Grünen nicht für die Einführung von Hartz IV gesorgt hätten.

Die Grünen wollen Vermögensabgaben. Ha,ha, da müßten sie ja an ihr Wählerklientel. Der private Reichtum hätte sich verdoppelt. Jetzt wollten sie die Verdopplung der Erbschaftssteuer...Gute Arbeit. „Wir brauchen einen flächendeckenden Mindestlohn.“ Einen sozialen Arbeitsmarkt.

In der Diskussion kam dann: „Da will ich an die Politik appellieren. Für viele ist es keine vorübergehende Situation, viele müssen lange vom Existenzminimum leben.“

Zum Schluß wurden die drei übrig gebliebenen PolitikerInnen von SPD, Grünen und Linken noch nach Maßnahmen gefragt.

Der SPD- Mensch: „Gehen Sie in Parteien.“ Nur noch wenige würden sich politisch beteiligen.

Katja Kipping: „Konfrontieren Sie die CDU und FDP mit den Folgen ihrer Politik.“ „Wir müssen die Wehrhaftigkeit der Betroffenen stärken.“

Inmitten des Wahlkampfes? Es geht um mehr...

Abschließend wurde den TeilnehmerInnen dann erklärt, diese Fachtagung sei der „Beginn von Aufklärung“. Man müsse „aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ausbrechen. Es sei ein Anfang. Michael Bättig von der ALSO Oldenburg wurde ganz zum Schluß noch kämpferisch, nur leider verhallte das in einer gefrusteten Atmosphäre des Aufbruchs. Von einer kämpferischen Stimmung auf der Fachtagung war ansonsten nichts zu spüren. Die Experten und Politiker haben sie tot geredet. Von Wehrhaftigkeit der Betroffenen keine Spur.

Der Wahlkampf vor den Bundestagswahlen hat begonnen. Und die Erwerbslosen müssen dafür wieder herhalten. Ich hoffe, sie lernen dazu, und lassen sich nicht wieder instrumentalisieren, wie es zum Beispiel bei den Erwerbslosenprotesten 1998 (Kohl muß weg!) und den Hartz IV- Protesten (WASG) war...

Es geht um ein anderes Politikverständnis. Dieses hier ist paternalistisch und nicht emanzipatorisch. Es setzt nicht auf Selbstorganisation von unten, die nach oben Druck aufbaut, sondern es ist ein Gemauschel mit der oberen Ebene. Es ist kein „Klassenkampf“, sondern Sozialpartnerschaft. Für die Betroffenen sind es Almosen, die sie weiterhin in Unmündigkeit halten sollen.

Und es geht nicht nur um Geld. Eine breite gesellschaftliche Diskussion um den Regelsatz? Sind wir alle Mathematiker? Das ist wieder einmal Detailkritik. Und hilft vielleicht, die ärgste Not zu lindern, wenn mit dieser Art Politik überhaupt etwas erreicht wird. Energie, die für Rechenkünste verbraucht wird, fehlt wieder einmal woanders.

Und es geht um die Methoden, um die Beteiligung, Partizipation. Es geht um die Mobilisierung der Betroffenen. Expertenfrontalvorträge, Expertenpapiere, Politikergeschwätz, wer soll sich dafür interessieren? Die Verbände, der DGB etc. haben die Ressourcen, auch andere Formen der Partizipation wie Open Space, Zukunftswerkstätten etc. durchzuführen. Sie hätten die Ressourcen, vor die Jobcenter oder Lebensmittelausgaben zu ziehen, dort mit den Menschen zu sprechen, sie zu aktivieren etc. Es könnten in den Stadtteilen Gruppen entstehen, die sich mit der Armutsthematik auseinandersetzen (wie die Stadtteilgruppen zu Mieten). Wenn der politische Wille da wäre. Aber sie sind ja ein Teil des Problems, Teil der Armutsindustrie und des Korporatismus . Sie haben Apparate, die den Ist-Zustand verwalten, aber kein Interesse haben, grundsätzlich etwas zu ändern.

Die Erwerbslosenbewegung ist fast tot. Sie hat zur Verrechtlichung und Individualisierung der Betroffenen beigetragen. Diese wehren sich zumeist individuell, mit Tricks, Klagen, Schwarzarbeit, Parallelwelten, Netzwerken, Unterstützung durch Angehörige. Sie schlagen sich durch, so gut sie können. Mittlerweile sind viele in Maßnahmen und prekärer Beschäftigung. Sie sind konfrontiert mit dem täglichen Überleben. Die meisten haben resigniert, auch weil sie keine Lobby haben.

Wenn es darum geht, mit dem Bündnis eine Lobby zu schaffen, dann ist das ein (schlechter)Anfang. Es geht aber um mehr, um eine andere Gesellschaft.

Hier ein Buchtipp: http://www.unrast-verlag.de/vorankuendigungen/was-tun-mit-kommunismus-399-detail

Das Bündnis: www.menschenwürdiges-existenzminium.org

Hier ein Artikel von Michael Bättig: http://www.sozonline.de/2013/02/neubestimmung-des-soziokulturellen-existenzminimums/

Wir können viel von anderen Protestbewegungen lernen!!!

Neue Veranstaltungsreihe: Krise und Proteste 

"Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen." (Multimillionär Warren Edward Buffett, 2006)   

Freitag, d. 19.4.2013 um 19 Uhr: Krise und Stadt
mit Wolf Wetzel und Thilo Broschell
 

Freitag, d.17.5.2013 um 19 Uhr: Krisenproteste
mit Max Henninger und N.N. (Zwangsräumungen in Spanien)
 

Freitag, d. 28.6. 2013 um 19 Uhr: Neue Protestformen braucht das Land!?
mit Wolfgang Ratzel und Anne Seeck
 

Die Veranstaltungen finden im Mehringhof, Gneisenaustr.2a (Berlin- Kreuzberg) statt.
Veranstalter: Teilhabe e.V.,
www.teilhabe-berlin.de
Unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Und hier Proteste zum Jobcenter Neukölln: Ein Beispiel, wie es anders geht
http://zusammendagegen.blogsport.de/

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir von der Autorin.