Chokri
Belaïd (der Vorname wird „Schokri“ ausgesprochen) war
ein wortgewaltiger Anwalt. Gestern abend noch stellte
er dies in einer Sendung beim Sender „Nessma TV“ unter
Beweis, wo er gegen die islamistische Regierungspartei
En-Nahdha, ihre Politik, ihre Bilanz und ihre
Praktiken wetterte.
Am heutigen
Mittwoch früh wurde er vor seiner Haustür in Tunis ermordet.
Der Rechtsanwalt und Chef der „Vereinigten Partei der
demokratischen Patrioten“ (diese Patriotes-démocrates
sind eine ex-maoistische Strömung, die in mehrere
Organisationen zersplittert waren und sich seit 2011 wieder
sammelten) wurde mit zwei Schüssen niedergestreckt, die ihn in
den Kopf und ins Herz trafen. Er starb auf dem Weg ins
Krankenhaus. Chokri Belaïd war eine der Führungsfiguren der
linken Bündnisorganisation Front populaire
(ungefähr „Volksfront“, besser „Front der Unterklassen“),
welche derzeit in den Umfragen bei fast 10 % der
Stimmabsichten liegt. Letztere besteht aus elf Organisationen
– unter ihnen die ex-maoistischen Patriotes démocrates,
die ebenfalls ex-maoistische „Arbeiterpartei“ POT (früher
PCOT), die trotzkistische LGO, aber auch die soziale
Organisation „Vereinigung der Arbeitslosen mit
Hochschulabschluss“ und eine Frauenrechtsvereinigung.
Erst am 02. Februar 13 war Chokri
Belaïd nach einem politischen Streitgespräch durch Salafisten,
also Anhänger einer extremen Unterströmung des islamistischen
Spektrums, körperlich angegriffen und verletzt worden. Die
Salafisten, die über einige tausend Aktivisten verfügen und in
den letzten anderthalb Jahren wiederholt auch
Gewerkschaftslokale des Dachverbands UGTT attackierten, werden
durch zumindest einen Teil der – heterogenen und innerlich
zersplitterten – Regierungspartei En-Nahdha (Wiedergeburt)
unterstützt oder ermutigt.
Es handelt sich
um den zweiten expliziten politischen Mord in Tunesien seit
den Umbrüchen vom Januar 2011, und den ersten an einer
landesweiten Führungspersönlichkeit. Am 18. Oktober 12 starb
in der südtunesischen Stadt Tataouine der örtliche Chef des
Ablegers der Mitte-Rechts-Partei Nidaa Tounès
(„Appell Tunesiens“), Lotfi Nakdh. Dessen Partei, die im Juni
2012 offiziell gegründet wurde, ist in den letzten Monaten in
Wahlumfragen sehr stark im Aufwind, da sie als
Hauptalternative zu den regierenden Islamisten wahrgenommen
wird. Sie besteht in Teilen aus früheren Parteigängern und
Profiteuren der alten Diktatur, hat aber auch Demokraten aus
dem politischen Zentrum – auf der Suche nach einem Schutzwall
gegen die Regierungsislamisten – aufgenommen und besitzt auch
einen Gewerkschaftsflügel. Er wiederum starb bei einer Attacke
der „Ligen zum Schutz der Revolution“ (LPR), die überwiegend
aus Teilen der sozialen Basis von En-Nahdha bestehen, auf sein
Parteibüro. Die Versionen driften dabei auseinander, je nach
Darstellung starb er an einem infolge des Aufruhrs erlittenen
Herzinfarkt, oder aber direkt an Schlägen.
Der Bruder des heute früh
ermordeten Chokri Belaïd beschuldigte sofort die
Regierungspartei En-Nahdha, die Verantwortung für den Mord zu
tragen. Der aus ihrer Reihen kommende regierende
Premierminister Hamadi Jebali beeilte sich, von einem „Akt des
Terrorismus, der gegen alle Tunesier gerichtet ist“ zu
sprechen und ihn zu verurteilen. Staatspräsident Moncef
Marzouki (er gehört einem der beiden Juniorpartner von
En-Nahdha in der Regierungskoalition an, dem
bürgerlich-nationalistischen „Kongress für die Republik“/CPR)
brach daraufhin seine Reise zur Tagung der „Konferenz
islamischer Staaten“ in Kairo ab und kehrte in Windeseile nach
Tunis zurück.
Dort demonstrierten am späten
Vormittag heute bereits über 1.000 Menschen spontan vor dem
Innenministerium (das eigentlich in einer Art Bannmeile,
welche gut geschützt wird, liegt). Demonstranten fanden auch
in Bizerte, Béja, in Kasserine (in Westtunesien in Richtung
algerische Grenze) und in Sidi Bouzid im Landesinneren statt.
Um die Mittagszeit brannten ferner
Büroräume der Regierungspartei En-Nahdha in Mezzouna, in der
Nähe von Sidi Bouzid (letztere ist jene Stadt, wo die erste
Stufe der Revolution am 17. Dezember 2010 ihren Ausgang nahm).
Und in Gafsa, der Stadt des Phosphat-Bergbaus, wo die massive
soziale Revolte von Januar bis Juli 2008 einen Sargnagel für
das alte Regime schmiedete, wurde das Büro von En-Nahdha durch
Demonstranten attackiert.
Fortsetzung folgt
Editorische Hinweise
Den Text erhielten wir vom
Autor für diese Ausgabe.
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