Marxistische Analyse der Entfremdung
Zu welchen Schlußfolgerungen gelangen wir?

von Lucien Sève

02-2013

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1. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Behauptung ist das Vokabular der Entfremdung im reifen Marxschen Werk vorhanden, ja massiv vorhanden, und zwar nicht nur als Randerscheinung, sondern im Gegenteil in zentraler Position. Zu Hunderten kommen insbesondere die charakteristischsten Begriffe wie entäußert, Entäußerung, entfremdet, Entfremdung vor. Bezüglich der spezifischen Bedeutung eines jeden der Begriffe, die dieses Vokabular der Entfremdung bilden, glaube ich mit Vorsicht, denn es handelt sich um eine äußerst komplizierte Frage, folgende allgemeine Hypothese aufstellen zu können. DieBestandteileder Wortfamilieäußer, die durch diese Grundbedeutung gekennzeichnet sind, werden von Marx meistens dann verwendet, wenn entweder die einfache Veräußerung eines Gutes durch den Verkaufsakt bezeichnet wird, oder um den tieferen Prozeß des Veräußertwerdens darzustellen als Prozeß, der dieDinge trennt, ja einander entgegensetzt bzw. die Verhältnisse und Formen, soweit diese die Stellung von Sachen einnehmen. Hier haben wir es mit einem ersten Aspekt der reifen Entfremdungsauffassung zu tun: Mit dem Vokabular der Entäußerung befinden wir uns im wesentlichen auf dem Boden der Versachlichung, Verselbständigung und Verknöcherung der Formen im Verhältnis zu ihrem Wesen, im Bereich des Fetischismus. Diesbezüglich ist es charakteristisch, daß in „Zur Kritik...", wo es vorerst nur um die Waren- und Geldzirkulation geht, allein das Vokabular der Ver- und Entäußerung(81) zu finden ist. Die Elemente der Wortfamilie fremd, die ebenfalls durch diese Grundbedeutung oder durch das Wort „fremd" selbst im nahen Kontext gekennzeichnet sind (z. B. in dem stehenden Ausdruck: „fremde Arbeit"), führen eine andere Dimension der Entfremdung ein: die der Beziehungen zwischen Menschen, gesellschaftlichen Individuen, die die Klassenverhältnisse in sich begreifen. Mit dem Vokabular der Entfremdung befinden wir uns auf dem Boden der Entäußerung, der Entleerung, der Unterwerfung der Menschen durch die zu einer fremden Macht gewordenen Produkte ihrer Tätigkeit, die die Form der Herrschaft einer Ausbeuterklasse annehmen. Man begreift sofort die sowohl semanti-sche als auch theoretische Beziehung zwischen fremd und Entfremdung, die den Entfremdungsprozeß, insofern als dieser die Menschen betrifft, in typischen Sätzen wie diesem charakterisiert: „...die objektivierte Arbeit, die sich im Wert verselbständigt, (erschien) nach allen Seiten als Produkt fremder Arbeit, das entfremdete Produkt der Arbeit selbst...",(82) oder sogar in Formeln, die Definitionswert annehmen wie diese Passage aus dem vierten Band des „Kapitals", wo das Kapital definiert ist „als der Arbeit entfremdete, beherrschende und im Kapitalisten individualisierte Mächte".(83)

Zwar ist die Aufgliederung des Entfremdungsvokabulars bei Marx nicht sehr rigoros und auch nicht immer so deutlich. Zweitrangige Gegebenheiten müssen mit in Betracht gezogen werden, und sei es auch nur der mehr oder weniger bewußte Wunsch, hier oder da eine sich zu oft wiederholende Terminologie abzuwandeln. Aber für denjenigen, der die Texte kennt, besteht jedenfalls über die allgemeine Tendenz kein Zweifel: Im reifen Marxschen-Werk ist die Entfremdung einmal versachlichende Entäußerung sowie gleichzeitig personifizierende Entäußerung der Entfremdung. Besser noch: Während bei Hegel der vorherrschende Begriff gerade „Entäußerung"(84) ist, wird bei Marx demgegenüber „Entfremdung" offensichtlich zum Hauptbegriff, sowohl durch seine Häufigkeit als auch durch seine Bedeutung - und zwar in dem Maße, daß, wenn eine Ausnahme bei der jeweiligen Verwendung der beiden Begriffe, die man erläutern zu können glaubte, zu verzeichnen ist, dann meistens zugunsten von „Entfremdung" - z. B. im folgenden Fall, wo es um die verschleiernde Dreieinigkeit von Grund und Boden—Rente, Kapital—Zins und Arbeit-Arbeitslohn geht: Die Vulgärökonomie fühlt sich „gerade in der entfremdeten Erscheinungsform der ökonomischen Verhältnisse... bei sich selbst..."(85); an dieser Stelle würde man eher „entäußerte" erwarten, aber selbst hier scheint die Idee, die zwei Seiten vorher über die Personifizierung der entfremdeten Produkte der Arbeit formuliert wurde, sich durchzusetzen. Ist diese Verschiebung des Hegelschen Vokabulars zu Marx hin nicht auf ihre Weise Ausdruck für den Übergang einer idealistischen Auffassung der Entfremdung als Verselbständigung von Momenten in der Idee zu einer materialistischen Auffassung der Entfremdung als geschichtlicher Antagonismus zwischen Personen und durch diese zwischen Klassen? Wie dem auch sei, es wird deutlich, wie weit der Glaube, der einzige Ersatz für die entfremdete Arbeit der „ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844" sei im „Kapital" der Warenfetischismus, von der Wirklichkeit entfernt ist. In Wahrheit sind die Versachlichung der Beziehungen zwischen Personen und die Personifizierung der Beziehungen zwischen den Sachen gänzlich untrennbar, und der Fetischismus ist nur ein Aspekt des vielfältigen Entfremdungsprozesses. Aus diesem Grunde kann trotz der Vielfalt des festgestellten deutschen Vokabulars, das jeder exakten französischen Übersetzung trotzt, insgesamt im reifen Marxismus von einer Entfremdungskategorie gesprochen werden, insofern als dieser Singular nicht restriktiv und abstrakt verstanden wird. In ihrem innersten Kern ist die Entfremdung die vorübergehende historische Bewegung, durch die die vergegenständlichten Produkte der gesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen nur gegen den Preis einer Trennung (Ent-äußerung, Ent-f remdung, Ent-lee-rung usw.) von den Individuen, obwohl diese deren Ursprung sind, eine allseitige Entwicklung erfahren; einer Trennung, die diesen gesellschaftlichen Produkten, Bedingungen, Verhältnissen usw. nicht nur den Charakter unkenntlicher Dinge verleiht, sondern darüber hinaus auch den von beherrschenden, unterdrückenden Mächten. Die theoretische Ausarbeitung dieser Entfremdungskategorie auf einer erprobten historischen Grundlage ist eines der Hauptverdienste des reifen Marx.

2. Zwischen der Entfremdungsauffassung, wie wir sie in den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844" finden, und derjenigen, die im „Kapital" gebraucht wird, gibt es zugleich Kontinuität und einen Bruch. Die Kontinuität ist offensichtlich, und es ist wohl kaum notwendig, dazu weitere Ausführungen zu machen. Sie wird sogar in Punkten deutlich, wo die Auffassung von 1844 zweifellos mehrdeutig, wenn nicht sogar verwirrend war. So bezieht Marx 1844 oft die Analyse des einen oder anderen Entfremdungsaspekts auf den Menschen, also sowohl auf den Kapitalisten als auch auf den Arbeiter. Er bemerkt sogar, „daß alles, was bei dem Arbeiter als Tätigkeit der Entäußerung, der Entfremdung, bei dem Nichtarbeiter als Zustand der Entäußerung, der Entfremdung erscheint".(86) Hier liegt ein nicht zu leugnender Tatbestand vor, und die dem Warenfetischismus innewohnenden Illusionen z. B. haben die Tendenz, alle Klassen zu täuschen. Aber hier wird das Risiko deutlich, von einem solchen Standpunkt aus zu einem anthropologischen Idealismus oder selbst einem ethischen Sozialismus „über den Klassen" abzugleiten. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1892 zu seinem Buch aus dem Jahre 1844 „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" gibt Engels dazu folgenden selbstkritischen Hinweis: „So wird großes Gewicht gelegt - namentlich am Schluß - auf die Behauptung, daß der Kommunismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse ist, sondern eine Theorie, deren Endziel ist die Befreiung der gesamten Gesellschaft, mit Einschluß der Kapitalisten, aus den gegenwärtigen einengenden Verhältnissen. Dies ist in abstraktem Sinn richtig, aber in der Praxis meist schlimmer als nutzlos... Heutzutage gibt es auch Leute genug, die den Arbeitern von der Unparteilichkeit ihres höheren Standpunkts einen über allen Klassengegensätzen und Klassenkämpfen erhabenen Sozialismus predigen. Aber sie sind entweder Neulinge, die noch massenhaft zu lernen haben, oder aber die schlimmsten Feinde der Arbeiter, Wölfe im Schafspelz."(87)

Diesen Gedanken hatte Marx bereits gemeinsam mit Engels im „Manifest" zum Ausdruck gebracht, dies hindert ihn aber nicht daran, im sechsten „unveröffentlichten" Kapitel des „Kapitals" weiterhin die Analyse von 1844 zu entwickeln: „Es ist der Entfremdungs-prozeß seiner eigenen Arbeit. Insofern steht hier der Arbeiter von vornherein höher als der Kapitalist, als der letztere in jenem Ent-fremdungsprozeß wurzelt und in ihm seine absolute Befriedigung findet, während der Arbeiter als sein Opfer von vornherein dagegen in einem rebellischen Verhältnis steht und ihn als Knechtungsprozeß empfindet." Und etwas weiter spricht er von der Selbstverwertung des Kapitals, „die den Kapitalisten von einer ändern Seite ganz eben-sosehr unter der Knechtschaft des Kapitalverhältnisses erscheinen läßt, wenn auch von anderer Seite her, auf dem entgegengesetzten Pol, als den Arbeiter".(88)

Aber selbst wenn im inneren Bestreben, der Thematik und der Terminologie Kontinuität besteht, so besteht eher Diskontinuität im tiefen theoretischen Gehalt der beiden Entfremdungsauffassungen. Zur Zeit der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844" bedeutete die Entfremdung: Weigerung, sich in die Schranken der politischen Ökonomie zurückzuziehen; zur Zeit des „Kapitals" beruht diese vollständig auf der ökonomischen Analyse; im ersten Fall wurde sie als Erläuterung des Klassenantagonismus und der Dialektik der Geschichte dargestellt, im zweiten legen der Klassenantagonismus sowie die Dialektik der Geschichte gänzlich Rechenschaft über sie ab; im ersten Fall war sie ihrem Ursprung nach ein Prozeß der Gattungstätigkeit der Individuen, die in den gesellschaftlichen Verhältnissen zum Ausdruck kommt; im zweiten Fall ist sie ihrem Ursprung nach ein Prozeß der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich im Leben der Individuen fortsetzen; kurzum, 1844 wurde die individuelle, psychologische Form der Entfremdung für die Hauptform ihrer sämtlichen historisch-gesellschaftlichen Formen gehalten; zur Zeit des „Kapitals" lassen sich durch die historisch-gesellschaftlichen Formen die individuellen psychologischen Formen erklären, wenn die Analyse auf dieses Gebiet weitergeführt wird. Mit anderen Worten, zwischen diesen beiden Marxschen Reflexionsetappen hat sich eine weitere grundlegende Umkehrung vollzogen, nämlich die, die in der „Sechsten These über Feuerbach" verlangt wird, von einem menschlichen, noch von der Individualität abhängig dargestellten Wesen („Gattungstätigkeit"), also einem abstrakten Wesen im anthropologischen Sinn („der Mensch") zu einem „menschlichen Wesen", dessen ganze Wirklichkeit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse dargestellt wird, deren Untersuchung also ausschließlich durch die historische Wissenschaft geleistet wird. Von diesem zweiten Standpunkt aus betrachtet, heißt von Entfremdung sprechen nicht, zu sagen „der Mensch" habe „sein" „Wesen" verloren - so wie manche sagen würden, er habe „seine" „Seele" verloren -, sondern daß die Menschen ihre direkten Beziehungen zu den objektiven Bedingungen ihrer Tätigkeit und ihrer individuellen Entwicklung verloren haben, und daher auch ihre Entfremdung rührt in ihrer individuellen Existenz. Zahlreiche Behauptungen und Analysen von 1844 haben folglich in dieser neuen Perspektive weiterhin eine Bedeutung, aber eine veränderte Bedeutung, die man aber nur (unter der Gefahr, wiederum in spekulative Täuschungen zu verfallen) richtig begreifen kann mit dem Umweg über die ökonomische und, noch umfassender, historische Wissenschaft: die anthropologische Bedeutung des reifen Marxismus hat gegenüber 1844 nicht abgenommen, im Gegenteil, aber sie ist gänzlich auf dem historischen Materialismus begründet. Deshalb bleibt jegliche Unterschätzung des zwischen 1844 und der Zeit des „Kapitals" erfolgten Bruches, jegliche Tendenz, sich den durch diesen Bruch begründeten Umweg zu „ersparen", hinter dem Marxismus zurück. Dies ist typisch für die Methode, die Garaudy Anfang der sechziger Jahre einleitete und bezeichnenderweise in diesem Punkt einleitete.(89) Wenn Marx in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844" brillant ausführt, daß, je mehr Reichtum der Arbeiter produziert, dieser desto mehr verarmt, dann anzunehmen, daß „diese ersten Formulierungen des Pauperisierungsgesetzes sich aus seiner Entfremdungsanalyse ergeben"(90) (wenn Marx demgegenüber diese Pauperisierung ausdrücklich darstellt als eine Tatsache, die als Ausgangsbasis dienen muß [91]), anzunehmen, daß das Pauperi-sationsgesetz im „Kapital" „Ausdruck ist des marxistischen Menschenbildes, seines Humanismus",(92) dann heißt das, die entscheidende Umkehrung der „Thesen über Feuerbach" umgekehrt wieder vornehmen, wiederum die wissenschaftliche Analyse philosophischen Abstraktionen unterzuordnen, also den Klassenstandpunkt dem eines abstrakten Menschen, wodurch die bürgerliche Ideologie massiv eindringt. Eine wertvolle Lehre, die die Marxisten ein für allemal gezogen haben.

Aber diese Lehre hat nichts gemein mit der Ablehnung der Entfremdungskategorie, einer Ablehnung, die voraussetzen würde, daß mit den Texten sehr großzügig verfahren wurde, also auch dort wieder eine unannehmbare Deformierung des Marxismus; und in erster Linie eine Deformierung der Art und Weise, über die Marx und Engels 1845 bis 1846 die Kritik ihres „ehemaligen philosophischen Gewissens" formulierten, um Engels' eigenen Ausdruck aus dem Vorwort zu seinem „Ludwig Feuerbach" zu zitieren.(93) Weiter oben hatte ich bereits auf das harte Urteil aufmerksam gemacht, das in der „Deutschen Ideologie" und im „Manifest" über die theoretische und politische Verschleierung gesprochen wird, die der Verwendung des spekulativen Entfremdungsbegriffs zugrunde liegt. Diese Urteile bleiben weiterhin gültig und untersagen es schlicht und einfach, die „Ökono-misch-philosophischen Manuskripte von 1844" mit den Thesen des reifen Marxismus zu verwechseln. Aber was besagen diese genau? Nehmen wir die „Deutsche Ideologie" zur Hand:

„Die Teilung der Arbeit (bietet)... gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besonderen und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. ... Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung— Diese, Entfremdung', um den Philosophen verständlich zu bleiben, kann natürlich nur unter zwei praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden."(94)

Was sagt dieser Text aus? Daß die Entfremdung ein Begriff ohne Wahrheit ist, von dem man sich losmachen sollte? Ganz im Gegenteil; er zeigt auf, daß dieser Begriff „einem der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung" entspricht. Hier wird nicht die praktische, historische Realität der Entfremdung in Frage gestellt, sondern im Gegenteil die Verschleierung dieser Wirklichkeit in einer philosophisch-spekulativen Kategorie der Entfremdung, die uns auf das Bewußtsein seiner selbst oder sonstiges idealistisches Geschwätz verweist. So haben wir es an diesem entscheidenden Punkt der Herausbildung des Marxismus nicht mit einer allerletzten Ablehnung des rationalen Kerns der Entfremdung zu tun, sondern mit seiner endgültigen materialistischen Umkehrung. Und dies ist keine „Interpretation": Viel weiter hinten in der „Deutschen Ideologie" ist eine (offensichtlich wenig bemerkte) Passage zu finden, die dies positiv zum Ausdruck bringt:

Bei ihm, Max Stirner, handelt es sich „um weiter nichts... [als daru]m, alle wirklichen Verhältnisse, [ebenso wie] die wirklichen Individuen, [als entfre]mdet (um den philosophischen [Ausdruck] einstweilen noch beizubehalten) vorfinden [zu lass]en, in die ganze [abstrakte] Phrase der Entfremdung zu verfwandeln; sta]tt der Aufgabe also, die [wirklichen] Individuen in ihrer [wirklichen] Entfremdung und den empi[rischen Verhältnissen dieser Entfrem[dung darzus]stellen, tritt hier [ebendasselbe ein, an die Stelle der Entwicklung aller [rein empirischen Verhältnisse den [bloßen Gedanke]n der Entfremdung, [des Fremdeln, des Heiligen zu [setzen]."(95). (Von mir hervorgehoben, L. S.)

Den Übergang von der idealistischen philosophischen Phrase über die Entfremdung zur konkreten historischen Analyse der wirklichen Entfremdung und ihrer empirischen Bedingungen zu schaffen, das ist die Linie, die in der „Deutschen Ideologie" ohne die geringste Zweideutigkeit verfolgt wird. Und genau diese Linie ist bereits im „Manifest" vorgezeichnet: Marx und Engels entlarven dort schonungslos den bürgerlichen Inhalt des „sozialistischen" Geschwätzes über die Entfremdung, schreiben aber gleichzeitig: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit zu vermehren. In der kommunistischen Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern.

In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht also die Vergangenheit über die Gegenwart, in der kommunistischen die Gegenwart über die Vergangenheit. In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Kapital selbständig und persönlich, während das tätige Individuum unselbständig und unpersönlich ist. Und die Aufhebung dieses Verhältnisses nennt die Bourgeoisie Aufhebung der Persönlichkeit und der Freiheit! Und mit Recht. Es handelt sich allerdings um die Aufhebung der Bourgeois-Persönlichkeit, -Selbständigkeit und -Freiheit."(96)

Hier haben wir es in der Tat mit dem Entwurf aller Analysen über die kapitalistische Entfremdung zu tun, die dann in den ökonomischen Schriften der fünfziger und sechziger Jahre entwickelt werden.

Was bedeutet denn jetzt letztlich dieser Begriff der Entfremdung, der im Mittelpunkt des reifen Marxismus steht? Es ist weder ein ökonomischer Begriff, obwohl er im Bereich der ökonomischen Analyse gültig ist, noch ein sozial-psychologischer Begriff, obwohl er die Individualitätsformen direkt betrifft, und ebenfalls kein Begriff der Geschichtswissenschaft - obwohl er auf einen grundlegenden historischen Prozeß verweist. Allgemeiner gesagt, es handelt sich nicht um einen Begriff, der einer oder mehreren wissenschaftlichen Disziplinen zugehört, was nicht heißen will, daß er keine wissenschaftliche Haltbarkeit habe. Aber es handelt sich um einen Begriff, mit dem die tiefe Einheit der verschiedensten Prozesse erfaßt werden kann, die sich im Bereich der verschiedensten Wissenschaften vom Menschen vollziehen. Wir haben es also mit einer grundlegenden Kategorie des historischen Materialismus zu tun, d. h. der allgemeinsten theoretischen Grundlage der Wissenschaften, die diesen oder jenen Aspekt der menschlichen Tätigkeit und ihre historische Entwicklung zum Gegenstand haben. Mit anderen Worten, es ist eine philosophische Kategorie in der grundauf neuen Bedeutung, die der reife Marxismus der Philosophie verliehen hat. Was bedeutet das? Zunächst, daß -ohne ein wissenschaftlicher Begriff in dem Sinne zu sein, wie dies die Zugehörigkeit zum Begriffsapparat einer bestimmten Wissenschaft bedeutet (Entfremdung ist vom Inhalt her nicht mit Begriffen wie Tauschwert, Mehrwert oder Profitrate gleichzusetzen) - dies ein Begriff mit wissenschaftlichem Gehalt ist, der ausschließlich auf wissenschaftlichen Gegebenheiten beruht und auf diese verweist. Aber es ist ein Begriff einer anderen Stufe der Allgemeinheit, die weiter getrieben ist als diejenige, auf der diese oder jene bestimmte Wissenschaft errichtet ist, auf welche die Entfremdung verweist. Diese extreme Allgemeinheit entspricht einer ebenso extremen Abstraktion: Die Entfremdung ist ihrem Inhalt nach im Grunde nichts anderes als die allgemeinste Form der Menschengeschichte und der Entwicklung der Individuen in der Epoche der Entwicklung der Warenproduktion und insbesondere des Kapitalismus. Es handelt sich um eine grundlegende Gestalt der Dialektik: die Entfaltung des antagonistischen Widerspruchs durch die Negation der Negation, so wie sie in der Geschichte offenbar wird; um die antagonistische Form, die der unaufhörliche, zyklische Prozeß der subjektiven Vergegenständlichung-Wiederaneignung, die jeglicher menschlichen Tätigkeit zugrunde liegt, vorübergehend annimmt. Diese eigentlich philosophische Allgemeinheit in dem Sinne, daß die Philosophie die theoretische Grundlage der wissenschaftlichen Weltanschauung von Natur und Gesellschaft umfaßt, setzt - um verstanden zu werden - die konkreten wissenschaftlichen Kenntnisse, die ihren wirklichen Inhalt ausmachen, voraus. Daher der grundlegende Irrtum, die Entfremdung als einen direkt wissenschaftlichen, z. B. ökonomischen Begriff einsetzen zu wollen: Diese ganze Verworrenheit belastet noch die „ökonomischphilosophischen Manuskripte von 1844".

Aber selbst wenn die philosophische, historisch-materialistische Kategorie der Entfremdung als solche im Bereich der einen oder anderen SpezialWissenschaft nicht brauchbar ist, so ist sie es jedoch in erster Linie auf dem Gebiet der theoretischen Synthese der Gesamtheit der Erkenntnisse dieser Wissenschaften. Als philosophische Kategorie ist sie ungeeignet, um auf konkrete ökonomische, psychosoziologische sowie historische Probleme eine konkrete Antwort zu geben, ganz so wie der philosophische Begriff der Materie ungeeignet ist, konkrete Fragen der Physik oder der Chemie konkret zu beantworten. Aber sie ist demgegenüber zutreffend und voll einsatzfähig, wenn es sich um philosophische Fragen handelt. Fragen der allgemeinen Theorie des historischen Materialismus, wie z. B. diese: Gibt es eine objektive Einheit aller Aspekte der kapitalistischen Gesellschaft, und wenn ja, wie ist diese denkbar? Welcher globalen historischen Notwendigkeit entspricht der Kapitalismus? Hat die These, der zufolge der Sozialismus eine höhere Stufe der Menschengeschichte darstellt, wissenschaftlichen Gehalt? Und da sie im Zusammenhang mit derartigen Fragen brauchbar ist, ist die Kategorie der Entfremdung wie alle philosophischen Kategorien nicht nur von ontologi-scher, sondern gleichzeitig und damit eng verbunden von gnoseologischer Bedeutung - für einen Materialisten ist das eine ohne das andere nicht möglich -, d. h. sie ermöglicht es, das Wesen ihres Gegenstandes zu erfassen: die historische Entwicklung der Menschen, und sie liefert gerade dadurchstrategische Angaben zur Erkenntnis dieses

Gegenstandes; und umgekehrt: als strategische Angabe für die Erkenntnis verhilft sie uns zu einem kritischen Verständnis dessen, was sie uns über das Wesen ihres Gegenstandes aussagt. Unter dem erkenntnistheoretischen Aspekt bedeutet die Kategorie der Entfremdung vor allem, daß der schwerwiegendste Irrtum all derer, die die menschliche Tätigkeit und ihre historische Entwicklung unter einem beliebigen Gesichtspunkt studieren, darin beruht, die Strukturen und Individuen gesondert, wie Dinge ohne innere Beziehung zu betrachten, und die Analyse in einen antihumanistischen Strukturalismus und einen außerwissenschaftlichen Personalismus zerfallen zu lassen, ohne die Einheit der Prozesse hinter der Isoliertheit der Momente zu sehen; sie bedeutet, daß hinter sämtlichen verschiedenartigsten Aspekten der Realität der vorübergehend notwendige Gegensatz zwischen toter und lebendiger Arbeit wieder ergriffen werden muß, also auch der Antagonismus der Klassen, die dessen Grundlage bilden; sie bedeutet, daß die anspruchsvollste wissenschaftliche Methode der Idee vom notwendigen Übergang zu einer höheren historischen Stufe, die von den antagonistischen Grenzen der vorangehenden Stufe befreit ist, nicht nur einen Sinn beimißt, sondern erst verleiht. So wird nunmehr klar, in welcher Weise die grundlose Identifizierung jeglicher Entfremdungskategorie mit den noch teilweise spekulativen Anschauungen von 1844 und folglich deren Ablehnung im Namen der Wissenschaft eine außerordentliche Verarmung sowie eine unstreitige Entstellung des Marxismus darstellen. Willkürlich die großartige Auffassung der notwendigen Bewegung von Entfremdung und Beseitigung der Entfremdung aus dem Marxismus wegzustreichen, heißt, die Bedeutung des historischen Materialismus für sämtliche Sozialwissenschaften zu schmälern, den Begriff des Sinns der Geschichte selbst sowie den Klassenkampf als historische Rolle des Proletariats schwer verständlich zu machen, des Proletariats, das nur in dem Maße, wie es in seiner radikalen Entfremdung die „Aufhebung aller Klassen"(97) in sich trägt, allseitiger Befreier ist. Das heißt, den Rückfall in einen spekulativen Humanismus ablehnen, um in einen soziologischen Positivismus abzugleiten. Der reife Marxismus ist weder das eine noch das andere.

3. Mit alldem können wir jetzt zum Schluß die eingangs gestellte Frage beantworten: Wenn die berühmten Formulierungen, mit denen Marx in seiner Jugend seine Religionsauffassung zum Ausdruck brachte, weiter mit Recht vom Standpunkt des reifen Marxismus als gültig betrachtet werden können, dann nur — und dies ist übrigens ein offensichtlicher Beweis dafür -, weil der Entfremdungsbegriff, der darin ein Kernstück ist, keinesfalls spurlos verschwunden ist, sondern im Gegenteil über seine materialistische Umkehrung hinweg weiterbestanden hat. Im reifen Marxismus wird die Religion in direkter Beziehung zu den oben entwickelten Entfremdungsanalysen verstanden. Wer das in Frage stellt, sollte die berühmten Passagen des ,,Anti-Dühring" erneut lesen, in denen Engels die Dühringsche Idee, daß der Sozialismus das Verbot der Religion impliziere, theoretisch zunichte macht:

„Nun ist alle Religion nichts andres als die phantastische Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen."(98) Diese Mächte, fährt Engels fort, sind zunächst Naturmächte, bald treten neben diesen auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit, die „ebenso fremd" sind, besonders im Kapitalismus. „Es heißt noch immer: der Mensch denkt und Gott (das heißt die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt. Die bloße Erkenntnis, und ginge sie weiter und tiefer als die der bürgerlichen Ökonomie, genügt nicht, um gesellschaftliche Mächte der Herrschaft der Gesellschaft zu unterwerfen. Dazu gehört vor allem eine gesellschaftliche Tat. Und wenn diese Tat vollzogen, wenn die Gesellschaft durch Besitzergreifung und planvolle Handhabung der gesamten Produktionsmittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der Knechtung befreit hat, in der sie gegenwärtig gehalten werden durch diese von ihnen selbst produzierten, aber ihnen als übergewaltige fremde Macht gegenüberstehenden Produktionsmittel, wenn der Mensch also nicht mehr bloß denkt, sondern auch lenkt, dann erst verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt, und damit verschwindet auch die religiöse Widerspiegelung selbst, aus dem einfachen Grunde, weil es dann nichts mehr widerzuspiegeln gibt."(99)

Es bedarf keines außerordentlichen Scharfsinns, um darin, zwar sehr konzentriert, das Gesamtthema sowie selbst einen Teil des Vokabulars der Entfremdung und insbesondere seinen zentralen Kern zu erkennen: die Metamorphose der Produkte der Tätigkeit der Men-

sehen in fremde, diese beherrschende Mächte. Und dieses selbe Thema finden wir auch bei Lenin wieder als Kernstück eines Textes wie „Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion". Deshalb können Formulierungen von Marx aus den Jahren 1843 bis 1844 von Lenin noch als Eckpfeiler der marxistischen Anschauung in der Frage der Religion betrachtet werden. Und sie haben selbst heute nichts von ihrer Fruchtbarkeit verloren; z. B. in bezug auf das, was man die „Krise der Priester" nennt, die Infragestellung des Priesterstatus durch die Priester selbst. Ist die Analyse der Religion in Begriffen der Entfremdung bei einem Problem wie diesem hier nicht zutiefst einleuchtend? In den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844" finden wir folgenden Hinweis: „Jede Selbstentfremdung des Menschen von sich und der Natur erscheint in dem Verhältnis, welches er sich und der Natur zu ändern, von ihm unterschiednen Menschen gibt. Daher die religiöse Selbstentfremdung notwendig in dem Verhältnis des Laien zum Priester erscheint..."(100) Zwanzig Jahre später haben sich Denk- und Ausdrucksweise geändert, aber der Gedanke bleibt weiterbestehen und wird von Marx im vierten Band des „Kapitals" wieder aufgenommen: „Hat sich der Mensch sein Verhältnis zu seiner eignen Natur, zu der äußren Natur und zu den andren Menschen in religiöser Form verselbständigt, so daß er von diesen Vorstellungen beherrscht wird, so bedarf er der Priester und ihrer Arbeit. Mit dem Verschwinden der religiösen Form des Bewußtseins und seiner Verhältnisse hört aber auch diese Arbeit des Priesters auf, in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß einzugehen. Mit dem Priester hört die Arbeit des Priesters auf und so mit dem Kapitalisten die Arbeit, die er qua (als - Anm. in MEW) Kapitalist verrichtet oder durch einen andren verrichten läßt."(101)

Wenn man diese Analyse der Personifizierung des Verhältnisses der Entfremdung gleichzeitig als Symptom und als Verstärkung dieses Verhältnisses geistig gegenwärtig hat, erscheint dann nicht die aktuelle Weigerung zahlreicher Priester, Menschen besonderer Art zu sein, wie ein ganz bezeichnender Hinweis auf den Verfallsprozeß der religiösen Entfremdung als solcher, d. h. auf die Auflösung ihrer Grundlagen, mit anderen Worten, für den Reifegrad der objektiven Bedingungen des Übergangs zum Sozialismus in einem Lande wie dem unsren?

(Der Text wurde im Dezember 1973 überarbeitet.)

Anmerkungen

81) Vgl. z. B.: MEW 13,8.53 und 908; der von Marx verwandte Ausdruck ist Entäußerung.
82) Grundrisse, S. 532.
83) MEW 26 (3), S. 268.
84) Zu diesem Punkt vgl.: F. G. W. Hegel, La Phenomenologie de l'Esprit, Aubier 1941, Band II, S. 316 und die erwähnten Hinweise.
85) MEW 25, S. 825.
86) MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 522.
87) MEW 2, S. 641.
88) A.a.O., S. 142 f.
89) Vgl. seinen Artikel in „Cahiers du communisme" vom Januar 1961, der Forschungen über die Pauperisierung gewidmet ist.
90) Ebenda, S. 14.
91) Vgl.: MEW Ergänzungsband, Erster Teil, S. 511.
92) A.a.O., S. 13.
93) MEW 21. S. 263.
94) MEW 3, S. 33 f.
95) Ebenda, S. 262.
96) MEW 4, S. 476.
97) Vgl.: Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 35; Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 472.
98) MEW 20, S. 294.
99) Ebenda, S. 295.
100) MEW Ergänzungsband, Erster Teil, S. 519.
101) MEW 26 (3), S. 486.

Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen: Lucien Sève, Marxistische Analyse der Entfremdung, Ffm 1978, S. 54-66