1. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Behauptung ist das
Vokabular der Entfremdung im reifen Marxschen Werk vorhanden,
ja massiv vorhanden, und zwar nicht nur als Randerscheinung,
sondern im Gegenteil in zentraler Position. Zu Hunderten
kommen insbesondere die charakteristischsten Begriffe wie
entäußert, Entäußerung, entfremdet, Entfremdung vor. Bezüglich
der spezifischen Bedeutung eines jeden der Begriffe, die
dieses Vokabular der Entfremdung bilden, glaube ich mit
Vorsicht, denn es handelt sich um eine äußerst komplizierte
Frage, folgende allgemeine Hypothese aufstellen zu können.
DieBestandteileder Wortfamilieäußer, die durch diese
Grundbedeutung gekennzeichnet sind, werden von Marx meistens
dann verwendet, wenn entweder die einfache Veräußerung eines
Gutes durch den Verkaufsakt bezeichnet wird, oder um den
tieferen Prozeß des Veräußertwerdens darzustellen als
Prozeß, der dieDinge trennt, ja einander entgegensetzt
bzw. die Verhältnisse und Formen, soweit diese die Stellung
von Sachen einnehmen. Hier haben wir es mit einem ersten
Aspekt der reifen Entfremdungsauffassung zu tun: Mit dem
Vokabular der Entäußerung befinden wir uns im
wesentlichen auf dem Boden der Versachlichung,
Verselbständigung und Verknöcherung der Formen im Verhältnis
zu ihrem Wesen, im Bereich des Fetischismus. Diesbezüglich ist
es charakteristisch, daß in „Zur Kritik...", wo es vorerst nur
um die Waren- und Geldzirkulation geht, allein das Vokabular
der Ver- und Entäußerung(81) zu finden ist. Die
Elemente der Wortfamilie fremd, die ebenfalls durch
diese Grundbedeutung oder durch das Wort „fremd" selbst im
nahen Kontext gekennzeichnet sind (z. B. in dem stehenden
Ausdruck: „fremde Arbeit"), führen eine andere Dimension der
Entfremdung ein: die der Beziehungen zwischen Menschen,
gesellschaftlichen Individuen, die die Klassenverhältnisse
in sich begreifen. Mit dem Vokabular der Entfremdung
befinden wir uns auf dem Boden der Entäußerung, der
Entleerung, der Unterwerfung der Menschen durch die zu einer
fremden Macht gewordenen Produkte ihrer Tätigkeit, die die
Form der Herrschaft einer Ausbeuterklasse annehmen. Man
begreift sofort die sowohl semanti-sche als auch theoretische
Beziehung zwischen fremd und Entfremdung, die
den Entfremdungsprozeß, insofern als dieser die Menschen
betrifft, in typischen Sätzen wie diesem charakterisiert:
„...die objektivierte Arbeit, die sich im Wert
verselbständigt, (erschien) nach allen Seiten als Produkt
fremder Arbeit, das entfremdete Produkt der Arbeit
selbst...",(82) oder sogar in Formeln, die Definitionswert
annehmen wie diese Passage aus dem vierten Band des
„Kapitals", wo das Kapital definiert ist „als der Arbeit
entfremdete, beherrschende und im Kapitalisten
individualisierte Mächte".(83)
Zwar ist die Aufgliederung des Entfremdungsvokabulars bei
Marx nicht sehr rigoros und auch nicht immer so deutlich.
Zweitrangige Gegebenheiten müssen mit in Betracht gezogen
werden, und sei es auch nur der mehr oder weniger bewußte
Wunsch, hier oder da eine sich zu oft wiederholende
Terminologie abzuwandeln. Aber für denjenigen, der die Texte
kennt, besteht jedenfalls über die allgemeine Tendenz kein
Zweifel: Im reifen Marxschen-Werk ist die Entfremdung einmal
versachlichende Entäußerung sowie gleichzeitig
personifizierende Entäußerung der Entfremdung. Besser
noch: Während bei Hegel der vorherrschende Begriff gerade
„Entäußerung"(84) ist, wird bei Marx demgegenüber
„Entfremdung" offensichtlich zum Hauptbegriff, sowohl durch
seine Häufigkeit als auch durch seine Bedeutung - und zwar in
dem Maße, daß, wenn eine Ausnahme bei der jeweiligen
Verwendung der beiden Begriffe, die man erläutern zu können
glaubte, zu verzeichnen ist, dann meistens zugunsten von
„Entfremdung" - z. B. im folgenden Fall, wo es um die
verschleiernde Dreieinigkeit von Grund und Boden—Rente,
Kapital—Zins und Arbeit-Arbeitslohn geht: Die Vulgärökonomie
fühlt sich „gerade in der entfremdeten Erscheinungsform der
ökonomischen Verhältnisse... bei sich selbst..."(85); an
dieser Stelle würde man eher „entäußerte" erwarten, aber
selbst hier scheint die Idee, die zwei Seiten vorher über die
Personifizierung der entfremdeten Produkte der Arbeit
formuliert wurde, sich durchzusetzen. Ist diese Verschiebung
des Hegelschen Vokabulars zu Marx hin nicht auf ihre Weise
Ausdruck für den Übergang einer idealistischen Auffassung der
Entfremdung als Verselbständigung von Momenten in der
Idee zu einer materialistischen Auffassung der Entfremdung als
geschichtlicher Antagonismus zwischen Personen und durch diese
zwischen Klassen? Wie dem auch sei, es wird deutlich,
wie weit der Glaube, der einzige Ersatz für die entfremdete
Arbeit der „ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844"
sei im „Kapital" der Warenfetischismus, von der Wirklichkeit
entfernt ist. In Wahrheit sind die Versachlichung der
Beziehungen zwischen Personen und die Personifizierung der
Beziehungen zwischen den Sachen gänzlich untrennbar, und der
Fetischismus ist nur ein Aspekt des vielfältigen
Entfremdungsprozesses. Aus diesem Grunde kann trotz der
Vielfalt des festgestellten deutschen Vokabulars, das jeder
exakten französischen Übersetzung trotzt, insgesamt im reifen
Marxismus von einer Entfremdungskategorie gesprochen
werden, insofern als dieser Singular nicht restriktiv und
abstrakt verstanden wird. In ihrem innersten Kern ist die
Entfremdung die vorübergehende historische Bewegung, durch die
die vergegenständlichten Produkte der gesellschaftlichen
Tätigkeit des Menschen nur gegen den Preis einer Trennung
(Ent-äußerung, Ent-f remdung, Ent-lee-rung usw.) von den
Individuen, obwohl diese deren Ursprung sind, eine allseitige
Entwicklung erfahren; einer Trennung, die diesen
gesellschaftlichen Produkten, Bedingungen, Verhältnissen usw.
nicht nur den Charakter unkenntlicher Dinge verleiht, sondern
darüber hinaus auch den von beherrschenden, unterdrückenden
Mächten. Die theoretische Ausarbeitung dieser
Entfremdungskategorie auf einer erprobten historischen
Grundlage ist eines der Hauptverdienste des reifen Marx.
2. Zwischen der Entfremdungsauffassung, wie wir sie in den
„ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844" finden, und
derjenigen, die im „Kapital" gebraucht wird, gibt es zugleich
Kontinuität und einen Bruch. Die Kontinuität ist
offensichtlich, und es ist wohl kaum notwendig, dazu weitere
Ausführungen zu machen. Sie wird sogar in Punkten deutlich, wo
die Auffassung von 1844 zweifellos mehrdeutig, wenn nicht
sogar verwirrend war. So bezieht Marx 1844 oft die Analyse des
einen oder anderen Entfremdungsaspekts auf den Menschen,
also sowohl auf den Kapitalisten als auch auf den
Arbeiter. Er bemerkt sogar, „daß alles, was bei dem Arbeiter
als Tätigkeit der Entäußerung, der Entfremdung, bei dem
Nichtarbeiter als Zustand der Entäußerung, der Entfremdung
erscheint".(86) Hier liegt ein nicht zu leugnender
Tatbestand vor, und die dem Warenfetischismus innewohnenden
Illusionen z. B. haben die Tendenz, alle Klassen zu täuschen.
Aber hier wird das Risiko deutlich, von einem solchen
Standpunkt aus zu einem anthropologischen Idealismus oder
selbst einem ethischen Sozialismus „über den Klassen"
abzugleiten. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1892 zu
seinem Buch aus dem Jahre 1844 „Die Lage der arbeitenden
Klasse in England" gibt Engels dazu folgenden selbstkritischen
Hinweis: „So wird großes Gewicht gelegt - namentlich am Schluß
- auf die Behauptung, daß der Kommunismus nicht eine bloße
Parteidoktrin der Arbeiterklasse ist, sondern eine Theorie,
deren Endziel ist die Befreiung der gesamten Gesellschaft, mit
Einschluß der Kapitalisten, aus den gegenwärtigen einengenden
Verhältnissen. Dies ist in abstraktem Sinn richtig, aber in
der Praxis meist schlimmer als nutzlos... Heutzutage gibt es
auch Leute genug, die den Arbeitern von der Unparteilichkeit
ihres höheren Standpunkts einen über allen Klassengegensätzen
und Klassenkämpfen erhabenen Sozialismus predigen. Aber sie
sind entweder Neulinge, die noch massenhaft zu lernen haben,
oder aber die schlimmsten Feinde der Arbeiter, Wölfe im
Schafspelz."(87)
Diesen Gedanken hatte Marx bereits gemeinsam mit Engels im
„Manifest" zum Ausdruck gebracht, dies hindert ihn aber nicht
daran, im sechsten „unveröffentlichten" Kapitel des „Kapitals"
weiterhin die Analyse von 1844 zu entwickeln: „Es ist der
Entfremdungs-prozeß seiner eigenen Arbeit. Insofern steht hier
der Arbeiter von vornherein höher als der Kapitalist, als der
letztere in jenem Ent-fremdungsprozeß wurzelt und in ihm seine
absolute Befriedigung findet, während der Arbeiter als sein
Opfer von vornherein dagegen in einem rebellischen Verhältnis
steht und ihn als Knechtungsprozeß empfindet." Und etwas
weiter spricht er von der Selbstverwertung des Kapitals, „die
den Kapitalisten von einer ändern Seite ganz eben-sosehr unter
der Knechtschaft des Kapitalverhältnisses erscheinen läßt,
wenn auch von anderer Seite her, auf dem entgegengesetzten
Pol, als den Arbeiter".(88)
Aber selbst wenn im inneren Bestreben, der Thematik und der
Terminologie Kontinuität besteht, so besteht eher
Diskontinuität im tiefen theoretischen Gehalt der beiden
Entfremdungsauffassungen. Zur Zeit der
„Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844" bedeutete
die Entfremdung: Weigerung, sich in die Schranken der
politischen Ökonomie zurückzuziehen; zur Zeit des „Kapitals"
beruht diese vollständig auf der ökonomischen Analyse; im
ersten Fall wurde sie als Erläuterung des Klassenantagonismus
und der Dialektik der Geschichte dargestellt, im zweiten legen
der Klassenantagonismus sowie die Dialektik der Geschichte
gänzlich Rechenschaft über sie ab; im ersten Fall war sie
ihrem Ursprung nach ein Prozeß der Gattungstätigkeit der
Individuen, die in den gesellschaftlichen Verhältnissen zum
Ausdruck kommt; im zweiten Fall ist sie ihrem Ursprung nach
ein Prozeß der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich im
Leben der Individuen fortsetzen; kurzum, 1844 wurde die
individuelle, psychologische Form der Entfremdung für die
Hauptform ihrer sämtlichen historisch-gesellschaftlichen
Formen gehalten; zur Zeit des „Kapitals" lassen sich durch die
historisch-gesellschaftlichen Formen die individuellen
psychologischen Formen erklären, wenn die Analyse auf dieses
Gebiet weitergeführt wird. Mit anderen Worten, zwischen diesen
beiden Marxschen Reflexionsetappen hat sich eine weitere
grundlegende Umkehrung vollzogen, nämlich die, die in
der „Sechsten These über Feuerbach" verlangt wird, von einem
menschlichen, noch von der Individualität abhängig
dargestellten Wesen („Gattungstätigkeit"), also einem
abstrakten Wesen im anthropologischen Sinn („der Mensch") zu
einem „menschlichen Wesen", dessen ganze Wirklichkeit durch
die gesellschaftlichen Verhältnisse dargestellt wird, deren
Untersuchung also ausschließlich durch die historische
Wissenschaft geleistet wird. Von diesem zweiten Standpunkt aus
betrachtet, heißt von Entfremdung sprechen nicht, zu sagen
„der Mensch" habe „sein" „Wesen" verloren - so wie manche
sagen würden, er habe „seine" „Seele" verloren -, sondern daß
die Menschen ihre direkten Beziehungen zu den objektiven
Bedingungen ihrer Tätigkeit und ihrer individuellen
Entwicklung verloren haben, und daher auch ihre
Entfremdung rührt in ihrer individuellen Existenz. Zahlreiche
Behauptungen und Analysen von 1844 haben folglich in dieser
neuen Perspektive weiterhin eine Bedeutung, aber eine
veränderte Bedeutung, die man aber nur (unter der
Gefahr, wiederum in spekulative Täuschungen zu verfallen)
richtig begreifen kann mit dem Umweg über die
ökonomische und, noch umfassender, historische Wissenschaft:
die anthropologische Bedeutung des reifen Marxismus hat
gegenüber 1844 nicht abgenommen, im Gegenteil, aber sie ist
gänzlich auf dem historischen Materialismus begründet. Deshalb
bleibt jegliche Unterschätzung des zwischen 1844 und der Zeit
des „Kapitals" erfolgten Bruches, jegliche Tendenz, sich den
durch diesen Bruch begründeten Umweg zu „ersparen",
hinter dem Marxismus zurück. Dies ist typisch für die Methode,
die Garaudy Anfang der sechziger Jahre einleitete und
bezeichnenderweise in diesem Punkt einleitete.(89) Wenn
Marx in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844"
brillant ausführt, daß, je mehr Reichtum der Arbeiter
produziert, dieser desto mehr verarmt, dann anzunehmen, daß
„diese ersten Formulierungen des Pauperisierungsgesetzes sich
aus seiner Entfremdungsanalyse ergeben"(90) (wenn Marx
demgegenüber diese Pauperisierung ausdrücklich darstellt als
eine Tatsache, die als Ausgangsbasis dienen muß [91]),
anzunehmen, daß das Pauperi-sationsgesetz im „Kapital"
„Ausdruck ist des marxistischen Menschenbildes, seines
Humanismus",(92) dann heißt das, die entscheidende Umkehrung
der „Thesen über Feuerbach" umgekehrt wieder vornehmen,
wiederum die wissenschaftliche Analyse philosophischen
Abstraktionen unterzuordnen, also den Klassenstandpunkt dem
eines abstrakten Menschen, wodurch die bürgerliche Ideologie
massiv eindringt. Eine wertvolle Lehre, die die Marxisten ein
für allemal gezogen haben.
Aber diese Lehre hat nichts gemein mit der Ablehnung der
Entfremdungskategorie, einer Ablehnung, die voraussetzen
würde, daß mit den Texten sehr großzügig verfahren wurde, also
auch dort wieder eine unannehmbare Deformierung des Marxismus;
und in erster Linie eine Deformierung der Art und Weise, über
die Marx und Engels 1845 bis 1846 die Kritik ihres „ehemaligen
philosophischen Gewissens" formulierten, um Engels' eigenen
Ausdruck aus dem Vorwort zu seinem „Ludwig Feuerbach" zu
zitieren.(93) Weiter oben hatte ich bereits auf das harte
Urteil aufmerksam gemacht, das in der „Deutschen Ideologie"
und im „Manifest" über die theoretische und politische
Verschleierung gesprochen wird, die der Verwendung des
spekulativen Entfremdungsbegriffs zugrunde liegt. Diese
Urteile bleiben weiterhin gültig und untersagen es schlicht
und einfach, die „Ökono-misch-philosophischen Manuskripte von
1844" mit den Thesen des reifen Marxismus zu verwechseln. Aber
was besagen diese genau? Nehmen wir die „Deutsche Ideologie"
zur Hand:
„Die Teilung der Arbeit (bietet)... gleich das erste
Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der
naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die
Spaltung zwischen dem besonderen und gemeinsamen Interesse
existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig,
sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen
ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn
unterjocht, statt daß er sie beherrscht. ... Dieses
Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation
unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns,
die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt,
unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente
in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung— Diese,
Entfremdung', um den Philosophen verständlich zu bleiben,
kann natürlich nur unter zwei praktischen
Voraussetzungen aufgehoben werden."(94)
Was sagt dieser Text aus? Daß die Entfremdung ein Begriff
ohne Wahrheit ist, von dem man sich losmachen sollte? Ganz im
Gegenteil; er zeigt auf, daß dieser Begriff „einem der
Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung"
entspricht. Hier wird nicht die praktische, historische
Realität der Entfremdung in Frage gestellt, sondern im
Gegenteil die Verschleierung dieser Wirklichkeit in
einer philosophisch-spekulativen Kategorie der Entfremdung,
die uns auf das Bewußtsein seiner selbst oder sonstiges
idealistisches Geschwätz verweist. So haben wir es an diesem
entscheidenden Punkt der Herausbildung des Marxismus nicht mit
einer allerletzten Ablehnung des rationalen Kerns der
Entfremdung zu tun, sondern mit seiner endgültigen
materialistischen Umkehrung. Und dies ist keine
„Interpretation": Viel weiter hinten in der „Deutschen
Ideologie" ist eine (offensichtlich wenig bemerkte) Passage zu
finden, die dies positiv zum Ausdruck bringt:
Bei ihm, Max Stirner, handelt es sich „um weiter nichts...
[als daru]m, alle wirklichen Verhältnisse, [ebenso wie] die
wirklichen Individuen, [als entfre]mdet (um den
philosophischen [Ausdruck] einstweilen noch beizubehalten)
vorfinden [zu lass]en, in die ganze [abstrakte] Phrase der
Entfremdung zu verfwandeln; sta]tt der Aufgabe also, die
[wirklichen] Individuen in ihrer [wirklichen] Entfremdung und
den empi[rischen Verhältnissen dieser Entfrem[dung
darzus]stellen, tritt hier [ebendasselbe ein, an die Stelle
der Entwicklung aller [rein empirischen Verhältnisse den
[bloßen Gedanke]n der Entfremdung, [des Fremdeln, des Heiligen
zu [setzen]."(95). (Von mir hervorgehoben, L. S.)
Den Übergang von der idealistischen philosophischen Phrase
über die Entfremdung zur konkreten historischen Analyse der
wirklichen Entfremdung und ihrer empirischen Bedingungen zu
schaffen, das ist die Linie, die in der „Deutschen Ideologie"
ohne die geringste Zweideutigkeit verfolgt wird. Und genau
diese Linie ist bereits im „Manifest" vorgezeichnet: Marx und
Engels entlarven dort schonungslos den bürgerlichen Inhalt des
„sozialistischen" Geschwätzes über die Entfremdung, schreiben
aber gleichzeitig: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist die
lebendige Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit zu
vermehren. In der kommunistischen Gesellschaft ist die
aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der
Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern.
In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht also die
Vergangenheit über die Gegenwart, in der kommunistischen die
Gegenwart über die Vergangenheit. In der bürgerlichen
Gesellschaft ist das Kapital selbständig und persönlich,
während das tätige Individuum unselbständig und unpersönlich
ist. Und die Aufhebung dieses Verhältnisses nennt die
Bourgeoisie Aufhebung der Persönlichkeit und der Freiheit! Und
mit Recht. Es handelt sich allerdings um die Aufhebung der
Bourgeois-Persönlichkeit, -Selbständigkeit und -Freiheit."(96)
Hier haben wir es in der Tat mit dem Entwurf aller Analysen
über die kapitalistische Entfremdung zu tun, die dann in den
ökonomischen Schriften der fünfziger und sechziger Jahre
entwickelt werden.
Was bedeutet denn jetzt letztlich dieser Begriff der
Entfremdung, der im Mittelpunkt des reifen Marxismus steht? Es
ist weder ein ökonomischer Begriff, obwohl er im Bereich der
ökonomischen Analyse gültig ist, noch ein
sozial-psychologischer Begriff, obwohl er die
Individualitätsformen direkt betrifft, und ebenfalls kein
Begriff der Geschichtswissenschaft - obwohl er auf einen
grundlegenden historischen Prozeß verweist. Allgemeiner
gesagt, es handelt sich nicht um einen Begriff, der einer oder
mehreren wissenschaftlichen Disziplinen zugehört, was nicht
heißen will, daß er keine wissenschaftliche Haltbarkeit habe.
Aber es handelt sich um einen Begriff, mit dem die tiefe
Einheit der verschiedensten Prozesse erfaßt werden kann,
die sich im Bereich der verschiedensten Wissenschaften vom
Menschen vollziehen. Wir haben es also mit einer
grundlegenden Kategorie des historischen Materialismus zu
tun, d. h. der allgemeinsten theoretischen Grundlage der
Wissenschaften, die diesen oder jenen Aspekt der menschlichen
Tätigkeit und ihre historische Entwicklung zum Gegenstand
haben. Mit anderen Worten, es ist eine philosophische
Kategorie in der grundauf neuen Bedeutung, die der reife
Marxismus der Philosophie verliehen hat. Was bedeutet das?
Zunächst, daß -ohne ein wissenschaftlicher Begriff in
dem Sinne zu sein, wie dies die Zugehörigkeit zum
Begriffsapparat einer bestimmten Wissenschaft bedeutet
(Entfremdung ist vom Inhalt her nicht mit Begriffen wie
Tauschwert, Mehrwert oder Profitrate gleichzusetzen) - dies
ein Begriff mit wissenschaftlichem Gehalt ist, der
ausschließlich auf wissenschaftlichen Gegebenheiten beruht und
auf diese verweist. Aber es ist ein Begriff einer anderen
Stufe der Allgemeinheit, die weiter getrieben ist als
diejenige, auf der diese oder jene bestimmte Wissenschaft
errichtet ist, auf welche die Entfremdung verweist. Diese
extreme Allgemeinheit entspricht einer ebenso extremen
Abstraktion: Die Entfremdung ist ihrem Inhalt nach im Grunde
nichts anderes als die allgemeinste Form der
Menschengeschichte und der Entwicklung der Individuen in der
Epoche der Entwicklung der Warenproduktion und insbesondere
des Kapitalismus. Es handelt sich um eine grundlegende
Gestalt der Dialektik: die Entfaltung des antagonistischen
Widerspruchs durch die Negation der Negation, so wie sie in
der Geschichte offenbar wird; um die antagonistische
Form, die der unaufhörliche, zyklische Prozeß der
subjektiven Vergegenständlichung-Wiederaneignung, die
jeglicher menschlichen Tätigkeit zugrunde liegt, vorübergehend
annimmt. Diese eigentlich philosophische Allgemeinheit in dem
Sinne, daß die Philosophie die theoretische Grundlage
der wissenschaftlichen Weltanschauung von Natur und
Gesellschaft umfaßt, setzt - um verstanden zu werden - die
konkreten wissenschaftlichen Kenntnisse, die ihren wirklichen
Inhalt ausmachen, voraus. Daher der grundlegende Irrtum, die
Entfremdung als einen direkt wissenschaftlichen, z. B.
ökonomischen Begriff einsetzen zu wollen: Diese ganze
Verworrenheit belastet noch die „ökonomischphilosophischen
Manuskripte von 1844".
Aber selbst wenn die philosophische,
historisch-materialistische Kategorie der Entfremdung als
solche im Bereich der einen oder anderen SpezialWissenschaft
nicht brauchbar ist, so ist sie es jedoch in erster Linie auf
dem Gebiet der theoretischen Synthese der Gesamtheit der
Erkenntnisse dieser Wissenschaften. Als philosophische
Kategorie ist sie ungeeignet, um auf konkrete ökonomische,
psychosoziologische sowie historische Probleme eine konkrete
Antwort zu geben, ganz so wie der philosophische Begriff der
Materie ungeeignet ist, konkrete Fragen der Physik oder der
Chemie konkret zu beantworten. Aber sie ist demgegenüber
zutreffend und voll einsatzfähig, wenn es sich um
philosophische Fragen handelt. Fragen der allgemeinen Theorie
des historischen Materialismus, wie z. B. diese: Gibt es eine
objektive Einheit aller Aspekte der kapitalistischen
Gesellschaft, und wenn ja, wie ist diese denkbar? Welcher
globalen historischen Notwendigkeit entspricht der
Kapitalismus? Hat die These, der zufolge der Sozialismus eine
höhere Stufe der Menschengeschichte darstellt,
wissenschaftlichen Gehalt? Und da sie im Zusammenhang mit
derartigen Fragen brauchbar ist, ist die Kategorie der
Entfremdung wie alle philosophischen Kategorien nicht nur von
ontologi-scher, sondern gleichzeitig und damit eng
verbunden von gnoseologischer Bedeutung - für einen
Materialisten ist das eine ohne das andere nicht möglich
-, d. h. sie ermöglicht es, das Wesen ihres Gegenstandes zu
erfassen: die historische Entwicklung der Menschen, und sie
liefert gerade dadurchstrategische Angaben zur Erkenntnis
dieses
Gegenstandes; und umgekehrt: als strategische Angabe
für die Erkenntnis verhilft sie uns zu einem kritischen
Verständnis dessen, was sie uns über das Wesen ihres
Gegenstandes aussagt. Unter dem erkenntnistheoretischen Aspekt
bedeutet die Kategorie der Entfremdung vor allem, daß der
schwerwiegendste Irrtum all derer, die die menschliche
Tätigkeit und ihre historische Entwicklung unter einem
beliebigen Gesichtspunkt studieren, darin beruht, die
Strukturen und Individuen gesondert, wie Dinge ohne innere
Beziehung zu betrachten, und die Analyse in einen
antihumanistischen Strukturalismus und einen
außerwissenschaftlichen Personalismus zerfallen zu lassen,
ohne die Einheit der Prozesse hinter der Isoliertheit
der Momente zu sehen; sie bedeutet, daß hinter sämtlichen
verschiedenartigsten Aspekten der Realität der vorübergehend
notwendige Gegensatz zwischen toter und lebendiger Arbeit
wieder ergriffen werden muß, also auch der Antagonismus der
Klassen, die dessen Grundlage bilden; sie bedeutet, daß die
anspruchsvollste wissenschaftliche Methode der Idee vom
notwendigen Übergang zu einer höheren historischen
Stufe, die von den antagonistischen Grenzen der vorangehenden
Stufe befreit ist, nicht nur einen Sinn beimißt, sondern erst
verleiht. So wird nunmehr klar, in welcher Weise die grundlose
Identifizierung jeglicher Entfremdungskategorie mit den noch
teilweise spekulativen Anschauungen von 1844 und folglich
deren Ablehnung im Namen der Wissenschaft eine
außerordentliche Verarmung sowie eine unstreitige Entstellung
des Marxismus darstellen. Willkürlich die großartige
Auffassung der notwendigen Bewegung von Entfremdung und
Beseitigung der Entfremdung aus dem Marxismus wegzustreichen,
heißt, die Bedeutung des historischen Materialismus für
sämtliche Sozialwissenschaften zu schmälern, den Begriff des
Sinns der Geschichte selbst sowie den Klassenkampf als
historische Rolle des Proletariats schwer verständlich zu
machen, des Proletariats, das nur in dem Maße, wie es in
seiner radikalen Entfremdung die „Aufhebung aller Klassen"(97)
in sich trägt, allseitiger Befreier ist. Das heißt, den
Rückfall in einen spekulativen Humanismus ablehnen, um in
einen soziologischen Positivismus abzugleiten. Der reife
Marxismus ist weder das eine noch das andere.
3. Mit alldem können wir jetzt zum Schluß die eingangs
gestellte Frage beantworten: Wenn die berühmten
Formulierungen, mit denen Marx in seiner Jugend seine
Religionsauffassung zum Ausdruck brachte, weiter mit Recht vom
Standpunkt des reifen Marxismus als gültig betrachtet werden
können, dann nur — und dies ist übrigens ein offensichtlicher
Beweis dafür -, weil der Entfremdungsbegriff, der darin ein
Kernstück ist, keinesfalls spurlos verschwunden ist, sondern
im Gegenteil über seine materialistische Umkehrung hinweg
weiterbestanden hat. Im reifen Marxismus wird die Religion in
direkter Beziehung zu den oben entwickelten
Entfremdungsanalysen verstanden. Wer das in Frage stellt,
sollte die berühmten Passagen des ,,Anti-Dühring" erneut
lesen, in denen Engels die Dühringsche Idee, daß der
Sozialismus das Verbot der Religion impliziere, theoretisch
zunichte macht:
„Nun ist alle Religion nichts andres als die phantastische
Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern
Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine
Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von
überirdischen annehmen."(98) Diese Mächte, fährt Engels fort,
sind zunächst Naturmächte, bald treten neben diesen auch
gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit, die „ebenso fremd"
sind, besonders im Kapitalismus. „Es heißt noch immer: der
Mensch denkt und Gott (das heißt die Fremdherrschaft der
kapitalistischen Produktionsweise) lenkt. Die bloße
Erkenntnis, und ginge sie weiter und tiefer als die der
bürgerlichen Ökonomie, genügt nicht, um gesellschaftliche
Mächte der Herrschaft der Gesellschaft zu unterwerfen. Dazu
gehört vor allem eine gesellschaftliche Tat. Und wenn
diese Tat vollzogen, wenn die Gesellschaft durch
Besitzergreifung und planvolle Handhabung der gesamten
Produktionsmittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der
Knechtung befreit hat, in der sie gegenwärtig gehalten werden
durch diese von ihnen selbst produzierten, aber ihnen als
übergewaltige fremde Macht gegenüberstehenden
Produktionsmittel, wenn der Mensch also nicht mehr bloß denkt,
sondern auch lenkt, dann erst verschwindet die letzte fremde
Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt, und
damit verschwindet auch die religiöse Widerspiegelung selbst,
aus dem einfachen Grunde, weil es dann nichts mehr
widerzuspiegeln gibt."(99)
Es bedarf keines außerordentlichen Scharfsinns, um darin,
zwar sehr konzentriert, das Gesamtthema sowie selbst einen
Teil des Vokabulars der Entfremdung und insbesondere seinen
zentralen Kern zu erkennen: die Metamorphose der Produkte der
Tätigkeit der Men-
sehen in fremde, diese beherrschende Mächte. Und dieses
selbe Thema finden wir auch bei Lenin wieder als Kernstück
eines Textes wie „Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur
Religion". Deshalb können Formulierungen von Marx aus den
Jahren 1843 bis 1844 von Lenin noch als Eckpfeiler der
marxistischen Anschauung in der Frage der Religion betrachtet
werden. Und sie haben selbst heute nichts von ihrer
Fruchtbarkeit verloren; z. B. in bezug auf das, was man die
„Krise der Priester" nennt, die Infragestellung des
Priesterstatus durch die Priester selbst. Ist die Analyse der
Religion in Begriffen der Entfremdung bei einem Problem wie
diesem hier nicht zutiefst einleuchtend? In den
„ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844" finden wir
folgenden Hinweis: „Jede Selbstentfremdung des Menschen von
sich und der Natur erscheint in dem Verhältnis, welches er
sich und der Natur zu ändern, von ihm unterschiednen Menschen
gibt. Daher die religiöse Selbstentfremdung notwendig in dem
Verhältnis des Laien zum Priester erscheint..."(100) Zwanzig
Jahre später haben sich Denk- und Ausdrucksweise geändert,
aber der Gedanke bleibt weiterbestehen und wird von Marx im
vierten Band des „Kapitals" wieder aufgenommen: „Hat sich der
Mensch sein Verhältnis zu seiner eignen Natur, zu der äußren
Natur und zu den andren Menschen in religiöser Form
verselbständigt, so daß er von diesen Vorstellungen beherrscht
wird, so bedarf er der Priester und ihrer
Arbeit. Mit dem Verschwinden der religiösen Form des
Bewußtseins und seiner Verhältnisse hört aber auch diese
Arbeit des Priesters auf, in den gesellschaftlichen
Produktionsprozeß einzugehen. Mit dem Priester hört die
Arbeit des Priesters auf und so mit dem Kapitalisten die
Arbeit, die er qua (als - Anm. in MEW) Kapitalist
verrichtet oder durch einen andren verrichten läßt."(101)
Wenn man diese Analyse der Personifizierung des
Verhältnisses der Entfremdung gleichzeitig als Symptom und als
Verstärkung dieses Verhältnisses geistig gegenwärtig hat,
erscheint dann nicht die aktuelle Weigerung zahlreicher
Priester, Menschen besonderer Art zu sein, wie ein ganz
bezeichnender Hinweis auf den Verfallsprozeß der religiösen
Entfremdung als solcher, d. h. auf die Auflösung ihrer
Grundlagen, mit anderen Worten, für den Reifegrad der
objektiven Bedingungen des Übergangs zum Sozialismus in einem
Lande wie dem unsren?
(Der Text wurde im Dezember 1973 überarbeitet.)
Anmerkungen
81) Vgl. z. B.: MEW 13,8.53 und 908; der von Marx verwandte
Ausdruck ist Entäußerung.
82) Grundrisse, S. 532.
83) MEW 26 (3), S. 268.
84) Zu diesem Punkt vgl.: F. G. W. Hegel, La Phenomenologie de
l'Esprit, Aubier 1941, Band II, S. 316
und die erwähnten Hinweise.
85) MEW 25, S. 825.
86) MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 522.
87) MEW 2, S. 641.
88) A.a.O., S. 142 f.
89) Vgl. seinen Artikel in „Cahiers du communisme" vom Januar
1961, der Forschungen über die Pauperisierung gewidmet ist.
90) Ebenda, S. 14.
91) Vgl.: MEW Ergänzungsband, Erster Teil, S. 511.
92) A.a.O., S. 13.
93) MEW 21. S. 263.
94) MEW 3, S. 33 f.
95) Ebenda, S. 262.
96) MEW 4, S. 476.
97) Vgl.: Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 35; Manifest der
Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 472.
98) MEW 20, S. 294.
99) Ebenda, S. 295.
100) MEW Ergänzungsband, Erster Teil, S. 519.
101) MEW 26 (3), S. 486.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen: Lucien Sève, Marxistische
Analyse der Entfremdung, Ffm 1978, S. 54-66