Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

02/12

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Bewegung, Programm, Partei
E
in paar persönliche Überlegungen zur Situation der „radikalen Linken“ in der BRD
von systemcrash

auf dem weg zu einer „revolutionären einigung“?

die in die jahre gekommene „neue linke“ in deutschland steht vor einer entscheidenen zäsur. die im nachgang der studentenbewegung entstandenen „miniparteien“ haben sich als unfähig erwiesen, über ihr zirkeldasein hinauszugelangen und eine „politische wirksamkeit“ zu erlangen. dies gilt ausnahmslos für alle strömungen der „radikalen linken“, wobei meines erachtens „der trotzkismus“ (den es im singular gar nicht gibt) noch die grösste lebendigkeit aufweist; dies aber natürlich auch nur im rahmen seiner jeweils spezifischen milieus.

der zustand des weltkapitalismus mit seinen zunehmenden krisenerscheinungen erfordert es, dass die „radikale linke“ ihre bescheidenen kräfte vereinigt, um überhaupt als handlungsfähiger faktor wahrgenommen zu werden. dies kann natürlich nicht wahllos geschehen, sondern erfordert eine programmatische annäherung in den wesentlichen fragen, die für die heutige klassenpolitische situation massgeblich sind. alle weitergehenden fragen — insbesondere historischer natur — müssten für dieses ziel einer handlungsfähigen revolutionären linken zurückgestellt werden. für so ein projekt müssten so manche über ihren sektiererischen schatten springen. aber die vordiskussionen auf dem block der ‘neuen antikapitalistischen organisation’ (NAO) haben m e gezeigt, dass reformistischen und gradualistischen konzepten eine klare absage erteilt wurde. von daher sollten die gralshüter ihrer jeweils selbst interpretierten „orthodoxie“ eigentlich keine angst haben, sich in einem solchen projekt zu engagieren. zumal es in der NAO — wenn sie denn mal gegründet werden sollte — ein recht auf bildung von plattformen, tendenzen bis hin zu fraktionen geben wird. wichtig ist aber eine einigung in den grundfragen, um darüber auch eine gemeinsame praxis entwickeln zu können. wenn das gelingt, wird auch zwangsläufig das vertrauen der verschiedenen politischen kräfte untereinander grösser werden, und das wäre dann wieder einer inhaltlichen annäherung (oder gar einigung) dienlich.

alle gruppen, die sich darüber einig sind, dass

A) der revolutionäre „bruch“ mit der bürgerlichen gesellschaft erforderlich ist

B) dieser „bruch“ nur durch die mobilisierung der unterklassen erreicht werden kann (wobei die lohnabhängigen den klassen“kern“ darstellen)

C) dass aktionseinheiten und einheitsfronten erforderlich sind, um ziele im gesamtinteresse der arbeiterbewegung zu erreichen und um die basis gegen die (bürokratische) spitze zu kehren

D) dass gemeinsames regieren mit bürgerlichen parteien den kampf gegen das kapitalistische system untergräbt

E) dass wir formen verbindlicher organisierung benötigen, um diesem politischen kampf substanz und kontinuität zu verleihen

sollten in die debatte um die gründung der NAO einsteigen. für alle übrigen fragen, und mögen sie noch so untergeordnet sein, wird es zeit und raum zur diskussion geben. niemand braucht um seine politische identität zu fürchten, aber JETZT MÜSSEN wir den weg finden, um eine handlungsfähige revolutionäre organisation zu schaffen.

KAPITALISMUS, PATRIARCHAT, RASSISMUS 

die diskussion um das verhältnis dieser drei kategorien untereinander ist noch nicht abgeschlossen. als vorläufigen konsens würde ich folgendes aus den bisherigen debatten herausdestillieren:

JEDE form gesellschaftlicher unterdrückung ist zu bekämpfen. es gibt da keine „haupt-“ oder „nebenwidersprüche“. wir bekämpfen die unterdrückung des weiblichen geschlechts genauso wie rassistische und chauvinistische ausgrenzung. allerdings sagen wir, dass der sturz des kapitalverhältnisses nur über die „lohnarbeiterInnenklasse“ erfolgen kann. da aber mit der überwindung des kapitalverhältnisses rassistische und sexistische unterdrückung nicht automatisch aufgehoben sind (diese sind viel älter als der kapitalismus) müssen angehörige besonders unterdrückter gruppen auch das recht haben, sich unabhängig („autonom“) zu organisieren. diese autonomie steht aber nicht im widerspruch zur grundsätzlichen klassenstrategie des kampfes gegen den kapitalismus.

SPD, LINKE, GEWERKSCHAFTEN 

eine abschliessende (klassenanalytische) einschätzung der „reformistischen apparate“ liegt noch nicht vor. aus meiner sicht sind dies auch themen, die einer erweiterten programmdiskussion angehören, und nicht UNBEDINGT vorab geklärt sein müssten. ich möchte hier aber trotzdem ein paar grundsätzliche überlegungen zu diesem fragenkomplex anführen; diese sind aber nur als „thesen“ zu betrachten.

die SPD hat sich von der klassisch „bürgerlichen arbeiterpartei“ (bürgerliche führung, proletarische basis) zu einer rein bürgerlichen „sozialliberalen“ partei gemausert. spätestens seit hartz 4 hat die SPD auch nicht mehr den anspruch, die interessen der „kleinen leute“ zu vertreten, sondern agiert als offene krisenverwalterin des kapitalistischen systems; in einigen fragen sogar rechts von der union (z b aussenpolitik, kriegseinsätze, bundeswehr).

die LINKE hat den platz, der durch die entwicklung der SPD frei geworden ist, eingenommen. SIE will jetzt die wahre sozialdemokratie sein. dies gelingt ihr aber nur dort, wo sie auch über eine entsprechende soziale verankerung verfügt, nämlich in den östlichen bundesländern. in den westlichen landesverbänden agieren zwar gruppen, die einen vermeintlichen „antikapitalistsichen“ anspruch vertreten, im zweifelsfall ordnen sie aber diesen anspruch dem verbleib in der LINKEN unter (das wird zwar „taktisch“ begründet, ist aber de facto reinster opportunismus). damit bilden diese „linken gruppen“ eine barriere gegen den notwendigen organisatorischen bruch mit dem reformismus der LINKEN.

die DGB GEWERKSCHAFTEN zeichnen sich hauptsächlich dadurch aus, dass sie sich durch nichts auszeichnen. sie entwickeln weder kämpferische strategien, um wenigstens die sozialen standards zu verteidigen (die reallöhne sind in den letzten 10 jahren GESUNKEN), noch versuchen sie, ausserhalb ihrer besitzstandswahrungspolitik für ihre klassische kernklientel (und der gewerkschaftsbürokratie), auch andere schichten (wie arbeitslose und prekäre) zu organisieren und ihre interessen zu vertreten. politisch passen sie sich der gerade herrschenden bürgerlichen regierung an und haben dem nichts entgegenzusetzen ausser salbungsvollen sonntagsreden, die nicht einmal das papier wert sind, auf dem sie geschrieben werden. der niedergang der gewerkschaften ist der eklatanteste ausdruck dafür, dass es eine „arbeiterbewegung“ (im historischen sinne des wortes) NICHT MEHR GIBT.

eine zu gründende NAO wird sich mit diesen fragen besonders sorgfältig zu beschäftigen haben, um daraus die entsprechenden programmatischen und strategischen schlussfolgerungen ziehen zu können.

 

Editorische Hinweise

Groß und Kleinschreibung wie im Original
Erstveröffentlicht wurde der Text bei WAS TUN: PLATTFORM FÜR MARXISTISCHE KONVERGENZ

Außerdem auf dem SIB-Blog. wo er diskutiert werden kann.