Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben
Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben

von Anne Seeck

02/12

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Warum in dieser Rubrik. Der Schwäche der Linken stehen neue Formen des Protestes entgegen. Sei es Stuttgart 21, was den Grünen zum Wahlsieg verhalf. Sei es die Piratenpartei, die schlagartig in Berlin ins Abgeordnetenhaus einzog. Sei es die Occupy- Bewegung. Diese Bewegungen können mit Ideologien herzlich wenig anfangen. Im Gegenteil, sie propagieren eine neue Offenheit, womit Linke natürlich Probleme haben. M.E. hängt diese Offenheit mit der Lebenslage der am Protest Beteiligten zusammen. Sie können sich nicht mehr in einer "Klassenlage" verorten und kommen ziemlich orientierungslos daher mit ihren Bastelbiographien. Sie stecken in einem Dilemma.

Vom "Aufbruch" zum "Funktionieren müssen"

Um zu begreifen, warum so etwas wie Occupy im Jahre 2011 entstand und die Piratenpartei einen kometenhaften Aufstieg erlebte, empfehle ich die beiden Bücher „Echtleben“ von Katja Kullmann und die „Kunst der Selbstausbeutung“ von Jakob Schrenk. Man sollte verstehen lernen, wie die junge Generation der 90er Jahre tickt, jene, die heute zwischen 30 und 45 sind. Damals (und noch heute) lautete die Parole: Jede/r ist seines Glückes Schmied. Nach dem Zusammenbruch des Ostblockes kam diese Generation (mehrheitlich) ohne linke Ideologie daher. Sie wollte weder marxistische, noch anarchistische Ghettos. Sie zitierten nicht ständig die alten Gurus, ob Marx, Lenin, Bakunin oder Kropotkin. Sie waren auf der Höhe der Zeit und passten sich „wunderbar“ dem neoliberalen Zeitgeist der 90er Jahre an.

Katja Kullmann bezeichnet sie als die „neuen Erwachsenen“, die vor zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren angetreten sind, ein paar Dinge neu zu gestalten und ein weltoffenes, emanzipiertes Leben zu führen. Ihr Ideal war Selbstverwirklichung, manche tauften das auch „Unternehmergeist“. Aber heute sind sie älter geworden.

„Inzwischen sind die Verheißungen des ‚vielfältigen Lebens’ für viele allerdings in ein barsches Funktionieren müssen gemündet ...Was einst als Lebenskunst gedacht war, ist zur Überlebenskunst verkommen. Die eigene Biographie: ein knallhartes Geschäft. Der eigene Standort: anhaltend unbestimmt.“ (Kullmann, S.10) Gut ein Jahrzehnt der verschärften Flexibilisierung liegt hinter ihnen. „Konstante Selbsterfindung, -optimierung und –überarbeitung ist kein freiwillige Vergnügen für Wagemutige mehr, sondern jetzt Staatsbürger(innen)pflicht- und das Attribut kreativ bedeutet oft nichts anderes als ‚marktgängig’ und ‚verwertbar’“. (Kullmann, S.11) Die Eltern verstehen die Lebensrealität der Nachfahren nicht mehr: „Kind, du musst doch einmal zur Ruhe kommen, irgendwann. Wenigstens ein bisschen.“

Ja, die heute 30 bis 45jährigen sind älter geworden. Es war nicht meine Generation. Lange habe ich mit einiger Verständnislosigkeit auf jene Generation geschaut, was wohl auch eine Alterserscheinung ist. Allein die Techno- Musik...

Über diese Art Generation habe ich geschrieben:

Zentrifizierung
Wo kommen nur die vielen glatten Menschen her?
Bevölkern die Restaurants und Cafes
Kreativ und global
Sie wissen, was man sagen muß
Sie wissen, was man tun muß
Sie wissen, was man lassen muß
Und dabei kommen sie sich wahnsinnig interessant vor -
uniform wie sie sind
Wer kurbelt endlich die Produktion von FDJ-Blusen an
Sie werden dringend gebraucht
Alle anders- alle gleich

Was ist der Unterschied zwischen 1968 und dem 1. Mai in Kreuzberg?
Damals: Junge demonstrierten und Alte schimpften.
Heute: Junge konsumieren und Alte sammeln Flaschen.

Ich empfand sie als uniforme graue Masse, die jegliche linke politische Tätigkeit sabotiert oder besser ignoriert. Je marginalisierter und entfremdeter man sich in dieser Gesellschaft fühlt, desto mehr nimmt man die Mehrheit als gleichgeschaltete Masse wahr. Bei Robert Kurz fand ich in einem Buch von 1999 meine Bestätigung.

Robert Kurz über die postmodernen Youngster

Die postmodernen Youngster würden der Vorstellung von Thatcher ziemlich nahe kommen: „es gibt keine Gesellschaft, sondern nur Individuen“. Die Lebensästheten können sich im Einzelfall durchaus engagiert, gesellschaftskritisch verhalten, aber nur weil sie das zufällig in ihre Selbstinszenierung eingebaut haben. Da die Selbstinszenierung immer zweifelhaft und die Selbstdarsteller ewig an der eigenen Biographie basteln, bleibt alles im Zustand der Unsicherheit und Wechselhaftigkeit. Robert Kurz nennt sie kapitalistische Persönlichkeitsattrappen mit einem warenförmigen Styling. Dieser Typ hätte sich weiterentwickelt und sei in der Postmoderne relativ vermasst. Gesellschaftskritik würde in Sinn- und Persönlichkeitsdesign umgewandelt.

„Um den Duft der „Kreativbranchen“ von Werbung, Medien, Design, Kultur- und Software- Industrie etc. schnuppern zu dürfen, nehmen die postmodernen Youngsters auch Dumpinglöhne in Kauf. Dabei sein ist alles...Was dann allerdings inhaltlich herauskommt bei der zwanghaften, ‚selbstkontrollierten’ Kreativitätshuberei zum Billigtarif, ist in der Tat auch bloß billig. Wer sich dafür begeistern kann, Abführmittel oder Joghurts ‚originell’ zu bewerben, ‚Spieleläden’ und ‚Wohnzimmergalerien’ aufzumachen, Internet-Suchprogramme oder möglichst absonderliche Klamotten zu erfinden, hat seine ‚Kreativität’ schon auf jene Marktorientierung reduziert, die heute angesichts des Überangebots von billigen Witzen jeder Art eben auch nur noch Minimalerlöse erzielen kann.

Das ganze Kreativitätstheater ist nichts als die Art und Weise, wie sich der kapitalistische Mittelstand wichtigtuerisch von der Geschichte verabschiedet...Inzwischen haben wir es mit einer ganzen Generation von jungen Billiglohnjobbern aus gutem Hause zu tun. Obwohl in den postindustriellen Grauzonen von Bewußtseinsindustrie und Erlebnistourismus, Medienmarketing und Kultursponsering, Edeldesign und Imagekampagnen real immer weniger zu holen ist, nimmt das Überangebot weiter zu. Diese Figuren, die umso mehr zum Verwechseln aussehen, je individualisierter sie

sind, pendeln in der Regel zwischen einem Dasein als Werbetexter (Kreativjob) und Aushilfskellnerinnen (McJob), ohne jedoch die geringste Vorstellung einer widerständigen Gegenbewegung und Gegenkultur zu entwickeln. ...Nicht der Traum von einer anderen Gesellschaft wird geträumt, sondern der Traum vom eigenen Geschäft, vom raffinierten Coup und vom Platz an der Sonne des Marktes...Es gehört schon einiges dazu, sich für nichts zu schade zu sein und gleichzeitig das Bewußtsein zu pflegen, im Prinzip ‚etwas ganz Besonderes’ darzustellen.

Auf die soziale Deklassierung nicht mit Haß gegen das herrschende System zu reagieren, sondern mit einer halluzinatorischen Uminterpretation der eigenen realen Lage, das ist offenbar die letzte überhaupt noch denkbare Anpassungsleistung der Mittelstands-Sprößlinge und der verhinderten Aufsteiger, die alle Tore in ein halbwegs anständiges Leben (Anm. was das auch heißen mag) verriegelt vorfinden.“ (aus Die Welt als Wille und Design von Robert Kurz 1999)

Elternfinanziert

Das die Leute trotzdem so gut drauf sind, hat einen Grund, meint Robert Kurz. Er sieht einen Zusammenhang zwischen den Finanzmärkten und der prekären Kreativitätshuberei sowie fehlender Gesellschaftskritik. Den Grund für den fröhlichen Positivismus der postmodernen Youngsters sieht Robert Kurz im Sponsoring der Eltern und der Aussicht als neue Erben, denn die wahre Ökonomie findet auf den entkoppelten Finanzmärkten statt.

Das Schäbige sei, dass sie sich schon im Voraus korrumpieren lassen. Das sichere soziale Auffangnetz führt zur Lust am kulturindustriellen Mitmachen einerseits und zur Unlust an radikaler Gesellschaftskritik andererseits.

Katja Kullmann schreibt, dass ein großes Tabu herrsche, über die elterlichen Finanzspritzen zu sprechen. Und die interessante Frage sei, was geschieht, wenn in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren rund 2 Billionen Euro ihre Besitzer wechseln. Es sei eine erschreckend wenig selbsterwirtschaftete Substanz vorhanden. Es werden quasi die Rücklagen der Vorgängergeneration verbraucht. Der Wohlstand der Gegenwart sei elternfinanziert und speise sich aus der Vergangenheit. „Die beste Voraussetzung, zu Vermögen zu kommen, ist es, Eltern zu haben, die vermögend sind.“, so der Elitenforscher Michael Hartmann.

Berlin wird zwanzig Jahre nach der Wende von der akademisch angebildeten westdeutschen Mittelschicht dominiert. Sie machen den „kulturellen Gehalt“ aus, auf den die Stadt“väter“ so stolz sind. Katja Kullmann schreibt: „Tatsächlich wäre es, gut zwanzig Jahre nach der Wende, interessant, einmal zu ermitteln, wie viele der aufsehenerregenden Galerien, Shops und Special-Interest-Magazine in Berlin auch heute noch von rheinischen Rechtsanwalts-Papas, westfälischen Fleischer-Dynastien oder fränkischen Oberstudienräte- Haushalten am Laufen gehalten werden.“ (Kullmann, S.87)

Aber eben, so einfach ist es auch nicht.

Jene Generation ist in die Jahre gekommen. Während Linke immer zu wissen glauben, was gut für die Menschheit sei, läuft jene Generation (mehrheitlich) ziemlich orientierungslos herum. Da sind wir wieder bei Occupy und den Piraten. Und bei Katja Kullmann. Sie schreibt: „Wie viele andere bin auch ich in den vergangenen zehn Jahren mal von der einen in die ganz, ganz andere Ecke geschleudert, dann wieder zurück, nach oben, unten und seitwärts. Oft gab es Momente, in denen ich nicht mehr wusste, wer ich- im sozialen Sinne- eigentlich bin. Die Begriffe ‚links’ und ‚rechts’, ‚Reichtum’ und ‚Armut’, ‚freiheitlich’ und ‚konservativ’ sind mir unterwegs öfters entglitten, und immer, wenn ich sie wieder in die Finger bekam, haben sie etwas anders bedeutet als vorher.“ (Kullmann, S. 14) Sie, die neuen Erwachsenen, seien die Pioniere und Laborkanichen der aggressiven neuen Freiheit gewesen, die ihren Namen nicht verdiene. Jetzt befinden sie sich in einer „ziemlichen Jasager-Umgebung“, in der es ums Funktionieren ginge. Sie führen das Wort Freiheit im Munde, erzählen aber überwiegend über Unfreiwilligkeiten. Pragmatismus sei das Zauberwort. „Nichts ist anstrengender, als ganz man selbst zu sein.“ Zehntausendfaches Individualversagen finde statt, dass jede/r artig mit sich selbst ausmache. Die zunehmende Zahl der Hartz IV- Aufstocker ist ein Beispiel für working poor. Wer nicht den roten Faden hinter sich herziehe, werde verrückt oder sehr einsam.

Hartz IV- Aufstocker

"Seit drei Tagen bist du selbstständig, mein Sohn, sagt die Mutter herb, bist du schon Millionär geworden?" (Marieluise Fleißer)

"Neoliberaler als ich konnte man sein Leben kaum führen- obgleich ich mit dem Neoliberalismus doch nie etwas zu tun habe wollte." (Kullmann, S.160)

"Statt zur Bank fuhr ich zur Arge." Die Sachbearbeiterin "war der Staat, ich ein Fall. Umständlich hole ich aus, um meine Lage zu schildern, schnell unterbrach sie mich, höflich, aber bestimmt. Ich solle doch einfach mal meine Unterlagen herzeigen. Etwas in mir hatte gehofft, dass die Frau bei meinem Eintritt ins Behördenzimmer laut loslachen würde: 'Was wollen sie denn hier? Haha, das ist ja lustig, dass jemand wie Sie zu jemandem wie mir kommt!....

Mein Erstkontakt mit den Urbewohnern der Unterschicht...

Genau in dem Moment, in dem ich 'unten' angekommen war, empfand ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit als unendlich reich....

Ich hatte Angst und Angst, dass man mir die Angst anmerkt....

Noch nie hatte irgendwer, außer während meiner Minderjährigkeit meine Familie, eine solche Verfügungsgewalt über mein Leben...

Freiheit ist auf Hartz IV definitiv over...

Man sieht den Menschen an, ob sie noch etwas wollen. Oder ob sie eben nichts mehr wollen...Die, die nichts (mehr) wollen, sind einfach ein bisschen anders...man soll sie nicht hineinprügeln, nur weil uns die Idee von 'Arbeit' Spaß macht...Man muß es nur akzeptieren, dass es eine Vielfalt gibt...Es kann jedem passieren: dass ihm das Wollen entgleitet...

Ausgegliedert und in weiten Teilen des Lebens so gut wie entmündigt zu sein, macht dich wirklich klein...

Was Menschen meiner Sorte tun, wenn sie auf Hartz IV sind, ist an ihrem Wollen zu arbeiten. Das ist der Rund- Um- die- Uhr- Job, den du antrittst, in dem Moment, da du die Wiedereingliederungsvereinbarung unterschreibst, dein Wollen in Schuss zu halten."(Kullmann, S. 160ff.)

Anmerkung: Die Frage ist, wer klein ist, jene die das ernst nehmen und das Wollen in Schuss halten, oder jene, die nicht mehr wollen. Der Staat versucht jedenfalls Letztere klein zu halten. Viele bauen aber ihre Parallelwelt auf, mit Tricks, Schwarzarbeit, politischer Aktivität, Frühverrentung etc., um dem Hamsterrad der Arbeitswelt zu entgehen.

Empfehlenswert auch das Buch "In der Schlange: Mein Jahr auf Hartz IV", mit einem ähnlichen (distanzierten) Blick auf das Jobcenter, seine Mitarbeiter und seine Kunden.

Das Glück...

Das Ich in Katjas Kullmanns Buch ist erfunden. Die Ich- Darstellerin sucht als Lösung eine entfremdete Arbeit im Call- Center. Katja Kullmann beschreibt die Arbeitswelt jener, die drinnen und draußen (z.B. als Leiharbeiter) sind. Sie hat dann aber Glück, dass sie ein gutes "Angebot" aus einem Verlag bekommt. Sie hat dann nochmals Glück, dass sie nicht gekündigt wird. Eine Unternehmensberatung durchforstet den Verlag, viele müssen gehen.

Gentrifizierung

Für ihren Job muß die Protagonistin umziehen. "Der Stadtteil, in dem ich nun wohne, ist ein fiebriger Herd der Gentrifizierung oder Yuppiesierung, und ich selbst bin unweigerlich ein Teil dieses Prozesses....Wer heute ganz bewusst nicht bürgerlich leben mag...-wer sich ganz im Gegenteil, der Vielfalt des Sozialen gern aussetzen mag...-der wird automatisch zum Täter...Für die Kommunen lohnt es sich, in ihr Image als Kreativ-Orte zu investieren- Standortpolitik nennt man das." (Kullmann, S.240ff.)

Das Fazit: Sicherheit...

Viele können das Wort Authentizität nicht mehr hören. Authentizität sei längst ein marktwirtschaftliches Instrument. Der Druck, authentisch zu sein, steige, dann komme wieder das Wort spießig ins Spiel. Wer sich selbst als Spießer bezeichne, drücke ein hohes Maß an Selbst-Bewusstsein und einen Mangel an Selbstvertrauen aus. Der Spießer sei inzwischen entkriminalisiert, schrieb die Süddeutsche Zeitung. Sicherheit galt lange als spießig, man sehnte sich nach Autonomie.

"Ich übe einen Jobs aus, der meinen berufsethischen Grundsätzen in Vielem widerspricht, ich drehe funktional an genau den Schrauben, die mich einst als Freie in die Knie zwangen, und ich wohne meine Nachbarn in den sicheren Yuppiesierungs-Tod. Dennoch wünsche ich mir, dass es für eine Weile einfach mal so bleibt, wie es jetzt gerade ist. Bis ich wieder bestimme, wie es weitergeht." (Kullmann, S.244)

Wie hieß der Spruch der Eltern „Kind, du musst doch einmal zur Ruhe kommen, irgendwann. Wenigstens ein bisschen.“

Politik

Das Buch ist ein politisches, in dem es das Dilemma jener Generation aufzeigt. Politische Aktivität kommt fast nicht vor. Einmal macht die Ich- Darstellerin einen "peinlichen" Flashmob gegen Etatkürzungen bei einem größeren Kultur-Sozial-Projekt mit. Zwei Freunde wollen das Grundeinkommen. Das Buch ist vor Occupy und den Piraten geschrieben. Die Offenheit könnte eine Chance für Liberäre sein...

Ist nach dem Scheitern des Sozialismus der Anarchismus die linke Utopie der Zukunft?

Diese Stimmungslage (mal oben, mal unten, mal links, mal rechts....), wie Katja Kuhlmann sie beschreibt, und die Parteienverdrossenheit führen zu solch offenen, unideologischen, orientierungslosen Gebilden wie den Piraten und Occupy. Sie stehen noch am Anfang. Inhalte und Ziele sind unklar. Die Menschen haben von Ideologien und Dogmen die Schnauze voll, vom neoliberalen Marktfundamentalismus genauso wie vom realsozialistischen Staatsfundamentalismus.

Libertäre Ideen könnten wieder auf dem Vormarsch sein. Aber....

Solange sich „Anarchisten“ (oder sollte ich sie lieber als Historiker bezeichnen) im Spanischen Bürgerkrieg vergraben und sich bei Bakunin aufwärmen, wird es diesen libertären Aufschwung nicht geben. Der minimale Rest der „organisierten“ anarchistischen Szene in Berlin vegetiert sektenartig vor sich hin. Dabei sind anarchistische Ideen eigentlich gerade auch bei jungen Leuten verbreitet. Einzig die FAU ist in aktuellen sozialen Kämpfen präsent, aber im Vergleich zu den Hochzeiten wahnsinnig geschrumpft. (FAUD- Höchststand 150.000 Mitglieder, 1932 ca. 4.300 Mitglieder, 1933 aufgelöst).

Auch Anarchisten können dogmatisch sein. Es ist schon absurd, wenn sich Leute als „Anarchisten“ bezeichnen, die nur Bücher lesen, in denen das Wort Anarchismus steht.

Dabei ist es aber notwendig, dass sich auch Libertäre (gemeinsam mit anderen) organisieren. Zur Zeit besteht eher die Gefahr der Vereinsamung z.B. in einer staatsfixierten und/oder dogmatischen Linken.

Selbst in der FAZ wird gefragt: Ist nach dem Scheitern des Sozialismus der Anarchismus die linke Utopie der Zukunft? Der Anarchismus könne zeigen, dass Erscheinungen wie der Berufspolitiker und die Parteidisziplin veraltet und oft peinlich seien. Er verpflichtet auf basisdemokratische Ideale und Transparenz.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/linke-utopien-wer-hat-angst-vor-anarchismus-11627790.html#Drucken

Libertäre Gedanken können sowohl in diese neuen Protestformen als auch in die Linke getragen werden. Die Ablehnung von Parteien in der Gentrifizierungsbewegung ist ein Beispiel, aber umstritten, wenn zu dogmatisch.

Um Occupy und die Piraten verstehen zu können, empfehle ich auch das Buch „Die Kunst der Selbstausbeutung“ von Jakob Schrenk. Das Buch hatte ich als Grundlage für folgenden Text genommen. Ich konfrontiere den fiktiven Freak Günter aus Neukölln mit dieser neuen Welt, die er, wie auch sein Vater (und ich...) nicht mehr verstehen.

Günter und die Parallelgesellschaft

Günter wohnt in Neukölln. Er wird durchgefüttert von den Leistungsträgern. Nachts hat er deshalb Visionen von den Arbeitstieren, pardon Arbeitskraftunternehmern. Den Künstlern der Selbstausbeutung. Mach was du willst, aber sei profitabel. Multitasking. Immer erreichbar. Immer mehr leisten. Mehr Druck. Mehr Stress. Der Job hat immer größere Macht über dich. Du bist der Chef. Das Glück der totalen Erschöpfung. Ein Rausch. Der Kontrolleur sitzt im Kopf. Der Klassenkampf tobt im Kopf.

Günter wacht schweißgebadet auf. Der Alptraum ist Realität. Viele träumen davon. Günter gehörte früher zur Gegenkultur. Er war ein Rebell und hatte eine Abneigung gegen Autoritäten. Er wollte autonom und flexibel sein, und keine Hierarchien. Prima sagten die Manager, dann seid ihr noch effizienter. Die Gegenkultur wurde von den Managern aufgesogen. Sei kein Langweiler, riskier was. Das öde Leben wird spannend- auf Arbeit. Es gibt keine Grenze. Der Arbeitstag hat 24 Stunden. Die Arbeitskraft optimiert und vermarktet sich permanent.

Günter träumte von einem Recht auf Faulheit. Der Traum ist ausgeträumt. Der Produktionsausstoß der Leistungsträger ist hysterisch. Er ist von Verrückten umgeben. Aber nein, er verwechselt was, er ist der Verrückte, weil er sich der hysterischen Arbeit entzieht. Im Halbschlaf summt es: “Günter, du hast eine negative Energie.” Optimismus ist nur ein Mangel an Information. Den Spruch von Heiner Müller hat Günter verinnerlicht. Positives Denken liegt ihm fern. Er versteht die Welt nicht mehr. Günter versucht weiterzuschlafen.

Die Leistungsträger- immer gut drauf. Schlechte Laune können sie sich nicht leisten. Selbst die Emotionen sollen gewinnbringend sein. Die Smile Industrie sorgt für ein Klima der Begeisterung. Mitten im Klima der Angst, den Job zu verlieren. Mitten im Klima, in dem die Anforderungen steigen. Was ist echt, was gespielt? Der ganze Mensch wird gebraucht. Wichtigstes Instrument ist der Ellenbogen. Schwache kann man sich nicht leisten.

Erschrocken fährt Günter hoch. Ist er schwach? Was hat er nicht früher alles getan. Er ist um die Welt gereist. Indien, Australien, Afghanistan. Die erstarrten Spießer mit ihrem Reihenhaus haben ihn angekotzt. Er wollte mobil sein.

Jetzt müßte er jede Ortsanwesenheit dem Jobcenter melden, aber er hat auch kein Geld mehr zum Verreisen. Er war immer Aussteiger, jetzt sind die Normalbürger die Mobilen. Die Leistungsträger sind global unterwegs. Sie werden zu Nomaden und Günter sitzt fest. Sie müssen im Kopf und Beinen flexibel sein, Günter hat das Gefühl der Erstarrung. Hat er alles falsch gemacht? Er soll sich auch bundesweit bewerben, aber er will in Berlin bleiben.

Sein spießiger Bruder ist Pendler, 200 Kilometer fährt er jeden Tag zur Arbeit. Sein Bruder mit Reihenhaus und Familie. Seine langweilige Mitschülerin jettet um die Welt, Arbeit und Leben ein Abenteuer.

Ist die Welt verrückt geworden? Sein Leben eine Tristesse, er hat kein Geld, um was zu erleben.

Jetzt ist Günter hellwach. Er steht auf und geht ins Bad. Der Spiegel verheißt ihm nichts Gutes. Er sieht schlecht aus. Seine langen zottligen Haare hat er vor einem Jahr abgeschnitten. Jetzt trägt er graue Stoppeln. Sein Gesicht ist fahl, er hockt zu viel in der Bude. Er schaut nach unten. Sein Bauch wird immer dicker. Er säuft zu viel. Früher war er sportlich. Dick ist Unterschicht. Er müßte wieder laufen, dazu fehlt ihm jedoch die Energie.

Joggen ist Zeitgeist. Auch das Fitnesstudio. Heute wird am Computer gearbeitet und der Sport immer wichtiger. Die Leistungsträger trainieren für ihre Firma. Der Körper gehört dem Arbeitgeber, er ist die Visitenkarte.

Schon Günters Aussehen schreckt Arbeitgeber ab. Seine Schwester sieht top aus. Sie achtet auf ihr Aussehen, das sei wichtig für die Arbeit, sagt sie. Die Nase hat sie sich operieren lassen. Seine Nase ist o.k. Aber die Zähne. Immer sieht er die lächelnden weißen Zähne in der Werbepause, dann muß er rausgehen. Überhaupt der Gesundheitsfanatismus. Günter dachte, bei seiner Lebensweise wird er nicht alt. Viele seiner Freunde sind tot. Er ist jetzt 58. Freunde hat er kaum noch. Eine Freundin auch nicht. Er fühlt sich nicht mehr attraktiv. Es zählt die Jugend. Günter beneidet manchmal die Männer, die sich junge Frauen nehmen. Aber will er das wirklich?

Einmal hatte er eine Freundin, die war zehn Jahre jünger. Die hat spät ein Kind bekommen, aber nicht von ihm. Sie hat es geschafft und wohnt im Prenzlauer Berg. Am liebsten hätte sie ihr Kind mit Vier zum Chinesisch-Unterricht geschickt. Aber Englisch machte es auch. Englisch für Säuglinge hat sie allerdings verpasst. Schon im Kinderzimmer wird getrimmt.

Frühkindliche Förderung kannte Günter nicht. Das Abitur schaffte er trotzdem, denn er ist nicht blöd. Günter hat 30 Semester studiert, einen Abschluß hat er nicht. Das Leben war zu chaotisch. Einen passenden Lebenslauf kann er nicht vorweisen. Er hat es nicht geschafft. Früher wollte er das nicht. Heute kommen ihm die Zweifel. Es ist zu spät. Er machte immer, was ihn interessiert. Der Markt interessierte ihn allerdings nicht. Workaholic war er nie und das ist sein Problem. Die Süchtigen sitzen nicht auf der Straße, sondern in den Zentralen. Workaholic bedeutet ein erfülltes Leben und nicht Krankheit. Die totale Euphorie. Workaholics sind Helden. Die Helden der Selbstzerstörung. Der Mensch als Maschine. Der Wahn ist die Normalität. Die Arbeitswelt der Dealer.

Dealer braucht Günter auch. Früher schluckte er LSD. Heute raucht er immer noch Haschisch. Damit ist er out. Die Leistungsträger nehmen heute Leistungsdrogen wie Koks und Ecstasy. Wach bleiben, immer fit sein, das ist die Devise. Sei dynamisch. Nicht einschlafen oder der Realität entfliehen. Die Realität ist super. Nur- immer häufiger kommt es zum Burn out und Depressionen. Das erschöpfte Selbst.

Auch Günter ist oft depressiv. Aber nicht aus Erschöpfung, sondern aus Hoffnungslosigkeit. Er bekämpft die Depression mit Alkohol. Er ist das Symbol, vor dem die Leistungsträger Angst haben. Der Abstieg. Die Perspektivlosigkeit. Die unsichere Zukunft. Das Gegenmittel heißt, mehr arbeiten. Sie sind Leistungsträger auf Bewährung und müssen eine besonders gute Führung zeigen. Günter jagt ihnen Angst ein. Günters gibt es viele, zu viele. Deshalb knicken die Gewerkschaften ein, deshalb knicken die Jungen ein, die auf den Arbeitsmarkt drängen.

Günter drängt schon lange nicht mehr auf den Arbeitsmarkt. Günter macht Musik, aber das zählt nicht. Davon kann er nicht leben. Er malt auch, aber auch davon kann er nicht leben. Du bist nur erfolgreich, wenn du dich auch vermarkten kannst. Und das kann Günter nicht. Günter hat seine Zweifel. Er hat weder Musik noch Kunst studiert, das waren immer seine Hobbys.

Er ist nicht aufgewachsen in einem Milieu, in dem das gefördert wurde. Sein Vater war Spießer und Bürokrat. Lebenslang eine Arbeit, eine Frau, ein Haus, eine Automarke. Ein stahlhartes Gehäuse. Dagegen hat sich Günter auflehnt. Der Vater ist nie entgleist, Günter schon. Jetzt sitzt er im Dreck.

Für den Vater war klar, wer keine Arbeit hat, ist selber schuld. Der Vater versteht nicht die neue Arbeitswelt, die eine ewige Tretmühle ist. Wer nicht mithält, fliegt raus. Die Routine wurde durch ein Laufband ersetzt. Zeitarbeit, Praktikas, working poor- das ist für den Vater eine fremde Welt. Die digitale Bohéme sowieso.

Ein Punk mit rotem Irokesenkamm, der das Frisuren-Marketing nennt. Der über selbstbestimmte Arbeit erzählt und dabei in jedem Moment produktiv ist. Der meint, mit jeder Festanstellung beginne ein schleichender Verblödungsprozess und nicht mit den grauen Büromenschen tauschen will. Der für viel Freiheit und wenig Sicherheit wirbt. Ein Ein-Mann-Unternehmen, das voll ausgelastet ist. Der den Markt der Besoldung vorzieht und trotzdem nicht die FDP als Auftraggeber möchte. Das macht nicht nur den Vater, sondern auch Günter orientierungslos.

Die Subkultur als Vorreiter des Neoliberalismus? Auch Günter versteht die Welt nicht mehr. Nicht mehr den neuen Geist des Kapitalismus, der die Künstlerkritik der 68er für die eigenen Interessen aufgesogen hat. Günter fragt sich, ob er nur gekämpft hat, um den Kapitalismus zu modernisieren? Jetzt hat er eine Frau als Kanzlerin und einen Schwulen als Bürgermeister. War es das, was sie wollten. Politik macht Günter schon lange nicht mehr, er hat aufgegeben.

Er ist Hartz IV-Bezieher und so fühlt er sich auch. Im Gegensatz zu den Leistungsträgern hat er Zeit. Da er was im Kopf und seine Hobbys hat, kann er seine Zeit nutzen. Nur nicht verwertbar machen. Dabei ist er doch eigentlich der Prototyp des Künstlers, der sich gegen die spießige Welt auflehnte. Er war immer autonom und kreativ. Ein Künstler hat nie Feierabend. Er wäre der ideale neue Arbeitnehmer. Aber er ist der Verlierer, der ein prekäres und gefährdetes Leben führt.

Günter glaubt, er sei interessant, nur merkt das in dieser Welt keiner mehr. Er fällt nicht auf und wird deshalb nicht beachtet. Günter sieht sich nicht als Produkt und das ist sein Problem. Er müßte an diesem Produkt feilen, es optimieren, sich präsentieren. Günter will und kann das nicht. Er will so bleiben, wie er ist. Und bleibt deshalb draußen. Günter hat kaum Geld, keine Arbeit, keinen guten Bildungsabschluß. Und kaum noch Kontakte. Wie auch, Günter ist ökonomisch nicht verwertbar. Er ist kein potentieller Auftraggeber. Er verfügt über kein Netzwerk. Er ist immer isolierter. Er wird nicht gebraucht. Er ist nicht nützlich.

In seiner Stammkneipe läßt er öfter anschreiben, beim Networking bleibt er außen vor. Von ihm ist nichts zu erwarten, er ist ganz unten. Er passt nicht mehr in diese Welt der Aliens. Neukölln ist sein Rückzugsgebiet. Der Bürgermeister redet von einer Parallelgesellschaft in Neukölln. Die der islamischen Unterschicht. Günter meint eine andere. Die der Arbeitswütigen, die mit ihrer lästigen und sinnlosen Hyperproduktivität diese Welt zugrunde richten. Das Leben und das Klima zerstören. Die Endstation Neukölln ist sein Ausweg in einem Meer des Stillstands. Günter will nur seine Ruhe haben, wie viele andere hier auch- in dieser paradoxen Welt.

Zum Schluß noch eine fiktive Kurzgeschichte anlässlich des Tortenwurfs auf Guttenberg.

Eine fiktive Geschichte zum Ableben von Holger Sinnlos

Ein Polizist erschoss gestern abend in Berlin- Neukölln den geistig verwirrten Holger Sinnlos. Er hatte bei der Polizei angerufen, er würde sich und seine Mutter umbringen. 20 Polizisten rückten daher zum Haus in der Okerstraße an. Als sie klingelten, stürzte Holger Sinnlos mit einem Messer auf einen Polizisten. Ein Kollege schoß auf Sinnlos, der sofort tot war. Seine Mutter war nicht in der Wohnung.

Sein Nachbar berichtete, dass sich Holger Sinnlos bei ihm einen Anzug geliehen hatte. Sinnlos hatte eine fixe Idee. Er wollte nach Frankfurt ins Bankenviertel und Josef Ackermann eine Torte ins Gesicht schmeißen. Ihn inspirierte der Tortenwurf auf Guttenberg. Zur Vorbereitung besuchte er ein Humortraining an der Volkshochschule Mitte. Doch er kam nicht weit. Er hatte versäumt, sich nach dem Besuch seiner demenzkranken Mutter im Ruhrpott wieder anzumelden. Sinnlos wurde sanktioniert, so dass ihm das Geld für die Fahrt nach Frankfurt fehlte.

Holger Sinnlos hatte ein Ziel, er wollte berühmt werden. Sein Vorbild hieß Henrico Frank. Der hatte Kurt Beck auf einem Weihnachtsmarkt wegen der Hartz IV- Reform beschimpft. Kurt Beck wollte ihm Arbeit vermitteln. So als Tellerwäscher. Aber Henrico hatte Glück. Ein Musiksender bot ihm einen Job an. Davon träumte der Punk Sinnlos.

In seiner Wohnung hingen Zettel, die besagten, dass sich seine Musikanlage und eine Bohrmaschine im Pfandhaus befanden. Der Nachbar erzählte, dass Holger Sinnlos auf den Gerichtsvollzieher wartete. In der Küche befanden sich noch vergammelte Reste aus der Lebensmittelausgabe, die er regelmäßig besuchte. Neben seinem Bett rollten die Flaschen. Er war in psychiatrischer Behandlung.

In Neukölln wartet ein Gemeinschaftsgrab auf ihn. Nichts was die Kosten deckt.

WEITERMACHEN:

Und für Guttenberg eine Torte: http://www.youtube.com/watch?v=zFSNuLckiaI

Wie blöd Arbeitslose sein können, wird hier am Aufschrei zu Henrico Frank gezeigt: "Schrecken aller Arbeitslosen" http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,455796,00.html

So haben es die Herrschenden gern...

Der Rapper Tapete ist nicht so blöd: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/2.220/rapper-tapete-lebt-von-hartz-iv-voll-fett-vater-staat-1.1275366

Ein ähnliches Schicksal (Todesschuß durch Polizei) ereilte Andrea H.: http://www.trend.infopartisan.net/trd7811/t957811.html

Literatur:

Katja Kullmann, Echtleben, Eichborn Frankfurt am Main 2011
Jakob Schrenk, Die Kunst der Selbstausbeutung, Wie wir vor lauter Arbeit unser Leben verpassen, Dumont Verlag 2007
Thomas Mahler, In der Schlange: Mein Jahr auf Hartz IV, Goldmann 2011

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir von der Autorin. Er nach Einrichtung der Rubrik "Ziviler Ungehorsam und Transformation" (nach dem 19.2.) dort erscheinen.