Der
Abgeordnete
Sadok
Chourou
lässt
seiner
Fantasie
freien
Lauf.
Unter
Berufung
auf
einen
Text
aus
der
Zeit
des
Propheten
Mohammed
stellte
der
Parlamentarier
der
-
seit
den
Wahlen
vom
23.
Oktober
11
mit
relativer
Mehrheit
ausgestatteten,
und
in
einer
Koalition
regierenden
-
tunesischen
Partei
En-Nahdha
sich
die
Behandlung
von
Demonstranten
vor,
„die
Straßen
oder
Fabriken“
blockieren.
Von
Kreuzigen
war
da
die
Rede,
von
anderen
Hinrichtungsarten,
und
auch
vom
Amputieren.
Chourou
ist
ein
Mitglied
der
„alten
Garde“
der
tunesischen
Islamisten,
und
wird
von
den
jüngeren
Anhängern
mitunter
missträuisch
beäugt.
Solche
Ausfälle
definieren
sicherlich
nicht
die,
in
der
Welt
der
Realpolitik
angesiedelte,
Strategie
der
Regierungspartei
En-Nahdha
„im
wirklichen
Leben“.
Aber
diese
steht
oft
extrem
unvermittelt
neben
einer
ideologischen
Fantasiewelt,
die
sich
aus
vormodernen
Erinnerungen
und
über
ein
Jahrtausend
alten
Textquellen
schöpft.
Ähnlich
verhielt
es
sich
mit
den
historischen
Vorstellungen
eines
Hamad
Jebali,
der
am
15.
November
2011
in
einer
Rede
von
einem
„sechsten
Kalifat“
schwärmte
-
das
er
natürlich
nicht
errichten
wird
und
auch
nicht
ernsthaft
in
der
realen
Welt
anstrebt
-,
bevor
er
in
die
Rolle
eines
bürgerlichen
tunesischen
Premierministers
schlüpfte.
Die
ideologische
Scheinwelt,
aus
denen
solche
Politiker
einen
Teil
ihrer
Gedanken
bezogen,
wird
nun
mit
politischer
und
sozialer
Wirklichkeit
konfrontiert,
vergleichbar
einer
Mumie,
die
plötzlich
der
Luft
und
dem
Licht
des
Tages
ausgesetzt
ist.
Das
bedeutet,
die
Sache
mag
unangenehm
bis
fürchterlich
aussehen,
ist
aber
auch
einem
schnellen
Zerfall
ausgesetzt.
Anders
läuft
es
nur,
wenn
die
Ideologie
sich
auf
die
Machtinstrumente
des
Ausnahmezustands
stützen
kann,
wie
im
Iran
„dank“
Krieg
mit
dem
Iraq
(eingedeutscht
Irak)
1980 und
Quasi-Bürgerkrieg
mit
den
Volksmujjahedin
1981. Davon
ist
Tunesien
jedoch
weit
entfernt.
Welche
Zerfallsprodukte
dieser
Prozess
hervorbringen
wird,
und
welche
Brüche
sich
zwischen
den
der
Tagespolitik
verpflichtet
bleibenden
Fraktionen
und
den
nach
ideologischer
Reinheit
strebenden
Kräften
sich
auftun
werden,
bleibt
abzuwarten.
Der
Prozess
wird
auf
jeden
Fall
die
politische
Entwicklung
der
arabischsprachigen
Gesellschaften
in
den
nächsten
Jahren
mit
prägen.
Daneben
sind
aber
auch
die
sozialen
Verteilungsfragen
und
-kämpfe,
welche
sich
zum
Teil
mit
den
zu
erwartenden
politischen
Auflösungs-
und
Umgruppierungsprozessen
überschneiden
werden,
von
wesentlicher
Bedeutung.
Diese
soziale
Komponente
spielt
eine
ganz
entscheidende
Rolle,
wenn
es
darum
geht,
die
Frage
zu
beantworten,
welche
Kräfte
mittel-
oder
längerfristig
als
„Alternativen
zum
Bestehenden“
Auftrieb
nehmen
könnten.
Und
die
Frage
danach,
ob
„sektiererische“
-
also
konfessionalisierte
-
Konflikte,
wie
im
besetzten
Irak
vor
allem
in
den
schlimmsten
Phase
zwischen
2005
und
2007
oder
auch
im
Libanon
vor
dem
Waffenstillstand
1990,
und/oder
islamistische
Mobilisierungen
eher
das
Bild
beherrschen.
Oder
aber
eher
„zivil“
auftretende
soziale
und/oder
politische
Mobilisierungen,
unter
Einschluss
von
Gewerkschaften,
Frauenorganisationen,
Menschenrechtsverbänden
und
Intellektuellen.
In
einigen
Ländern
ist
die
Richtungsentscheidung
zwischen
diesen
beiden
grundsätzlich
denkbaren
Entwicklungen
noch
unentschieden.
In
anderen
Ländern
dagegen
deutet
die
vorhandene
Sozialstruktur
darauf
hin,
in
welche
Richtung
die
Dinge
mit
einiger
Wahrscheinlichkeit
gehen
dürften.
Negative
Ausnahme
Libyen:
Klassenkämpfe
eher
schwierig
In
Libyen
beispielsweise
existiert
keine
organisierte
Arbeiterbewegung,
nicht
einmal
in
Ansätzen.
Das
hatte
einerseits
mit
der
politischen
Natur
des
alten
Regimes
zu
tun.
Unter
Gaddafi
wurde
die
Bevölkerung
einerseits
durch
ein
-
jedenfalls
im
Vergleich
zu
den
Nachbarländern
und
zum
Rest
des
afrikanischen
Kontinents
-
nicht
unbeachtliches
materielles
Lebensniveau
weitgehend
stillgehalten,
so
lange
dies
funktionierte.
Gleichzeitig
verbot
das
Regime
gesellschaftliche
Organisationsformen
jeder
Art:
Es
wies
ja
selbst
nicht
einmal
eine
Staats-
oder
Einheitspartei
auf,
sondern
seine
Hierarchien
waren
weitgehend
informelle,
clanförmig,
und
basierten
auf
Verwandtschaftsbeziehungen
im
engeren
und
weiteren
Sinne.
Auf
den
unteren
und
mittleren
Ebenen
des
Staates
reaktivierte
dieses
Regime
in
den
letzten
Jahrzehnten
immer
wieder
vormoderne,
tribale
Sozialstrukturen,
die
sich
zwar
im
Prinzip
überlebt
hatten
-
die
Mehrheit
der
Libyerinnen
und
Libyer
lebte
in
Städten,
und
technisch
in
der
Moderne
-,
doch
als
politische
Organisationsform
immer
neu
wiederbelebt
wurden.
Denn
hinter
der
angeblichen
„Staatslosigkeit“
in
Libyen,
dem
vordergründigen
Fehlen
formaler
politischer
Hierarchien,
verbarg
sich
auf
örtlicher
Ebene
eine
Ersetzung
solcher
Strukturen
durch
tribale
Repräsentationsformen.
Abhängige
Arbeit,
auch
industrielle,
gab
es
auch
in
Libyen.
Doch
sie
wurde
durch
ein
Millionheer
von
Migranten,
überwiegend
aus
dem
subsaharischen
Afrika,
verrichtet.
Diese
waren
schon
unter
dem
Gaddafi-Regime
weitgehend
rechtlos,
wenngleich
ihr
materielles
Lebensniveau
oft
deutlich
besser
war
als
in
ihren
Herkunftsländern.
Diese
Arbeitskräfte
konnten
sich
nicht
im
Ansatz
organisieren,
stattdessen
träumten
sie
eher
von
der
Weiterwanderung
nach
Europa
oder
aber
von
einer
Rückkehr,
mit
dem
nach
einigen
Jahren
Arbeit
Ersparten,
in
ihre
Ursprungsländer.
Durch
pogromartige
Ausschreitungen
während
des
Bürgerkriegs
im
Jahr
2011,
die
durch
eine
„Söldnerhysterie“
-
vor
dem
Hintergrund
der
Präsenz
einiger
tatsächlicher
Söldner,
etwa
der
tschadischen
Präsidentengarde,
in
Gaddafis
Armee
wollten
manche
in
jedem
Schwarzen
einen
angeblichen
Söldner
erblicken
-
noch
befördert
wurden,
hat
ihre
Situation
sich
noch
drastisch
verschlechtert.
Von
ihnen
sind
daher
in
naher
Zukunft
wohl
nur
geringe
Widerstandskapazitäten
zu
erwarten,
zu
prekär,
zu
angsterfüllt
ist
ihre
Lage.
Eine
klassenförmige
Organisierung
jener,
die
die
gesellschaftlich
am
geringsten
geschätzten
Tätigkeiten
verrichten,
ist
deswegen
in
Libyen
vorläufig
absolut
nicht
in
Sicht.
Dies
hat
aber
Rückwirkungen
darauf,
wie
sich
eine
Gesellschaft
strukturiert.
Rivalitäten
zwischen
über
ihre
„Stammes“herkunft
definierten
Gruppen,
Regionen
und
Städten
prägen
die
innergesellschaftlichen
Widersprüchen.
Das
Rückgrat
der
Rebellion,
die
das
alte
Regime
(im
Zusammenspiel
mit
einer
ausländischen
Militärintervention)
stürzte,
besteht
aus
miteinander
rivalisierenden,
bewaffneten
Haufen.
Als
Träger
einer
mit
sozialem
Anspruch
gegen
das
„ungerechte
Bestehende“
auftretenden
Alternative
erscheinen
radikale
Islamisten.
Vor
diesem
Hintergrund
ist
für
Libyen
auf
absehbare
Zeit
wohl
eher
mit
religiös
aufgeladenen
Konflikten,
mit
von
auen
her
irrational
erscheinenden
Spannungen,
immer
wieder
mindest
sporadisch
aufflammenden
bewaffneten
Auseinandersetzungen,
denn
mit
Klassenkämpfen
oder
Kontroversen
um
politisch-ideologische
Werte
zu
rechnen.
-
Und
in
den
letzten
Tagen
prägen
Berichte
von
Amnesty
international
und
HRW
über
die
wieder
auftretende
Folter
in
Libyen
das
Bild.
Golfstaaten:
Migrantisches
Proletariat
&
Kämpfe
Dabei
ist
Libyen
allerdings
eher
die
negative
Ausnahme
denn
die
Regel.
Auch
in
den
arabischen
Golfländern
existiert
ein
Millionenheer
von
Lohnabhängigen,
ja
im
mehr
oder
minder
buchstäblichen
Sinne
Arbeitssklaven,
die
den
jeweiligen
Staatsangehörigen
die
als
„schmutzig“
oder
„auf
niedriger
Stufe
stehend“
betrachteten
Tätigkeiten
abnehmen.
Zumindest
in
einigen
Fällen
aber
konnten
eigenständige
Mobilisierungen
auch
dieses
multinational
zusammengesetzten
Industrie-
und
Dienstleistungsproletariats
stattfinden
oder
sogar
die
Rolle
eines
Initialzünders
spielen.
In
Bahrain
fand
unmittelbar
vor
der
Massenbewegung
der
sozial
benachteiligten
und
politisch
unterdrückten,
aus
Schiiten
bestehenden
Bevölkerungsmehrheit
im
Februar
2011
ein
Streik
von
1.300
Arbeitern
des
Bausektors
für
höhere
Löhne
statt.
Es
handelte
sich
bei
ihnen
meistens
um
Einwanderer
aus
Südasien.
Ihre
erfolgreiche
Mobilisierung
wirkte
als
Beispiel
gebend
für
andere
Einwohner
des
Landes.
Die
Revolte
der
siebzigprozentigen
schiitischen
Mehrheit,
die
auch
durch
progressive
Sunniten
und
ihre
Parteien
unterstützt
wurde,
endete
zwar
am
14.
März
11
vorläufig
mit
einer
brutalen
Repressionswelle
und
dem
Einmarsch
saudischer
Truppen.
Dennoch
flammte
sie
in
den
letzten
Monaten
immer
wieder
auf,
den
ganzen
Januar
dieses
Jahres
hindurch
etwa
kam
es
mehrfach
zu
Unruhen.
In
anderen
Fällen
konnten
solche
Kämpfe
des
auf
der
niedrigsten
Stufe
in
der
sozialen
Hackordnung
der
Golfgesellschaften
stehenden,
eingewanderten
Proletariats
zwar
nicht
direkt
als
Schrittmacher
für
breitere
Protestbewegungen
dienen,
sich
aber
dennoch
neben
ihnen
entwickeln.
Im
Sultanat
’Oman
etwa
bestehen
vier
Fünftel
der
Arbeitskräfte
im
privaten
Wirtschaftssektor
aus
Einwanderern.
Seit
Anfang
dieses
Jahres
fanden
zwei
mal
hintereinander
Streiks
und
Demonstrationen
dieser,
oft
südasiatischen,
Arbeiter
statt.
Die
breite
Protestbewegung,
die
in
’Oman
im
vergangenen
Jahr
auch
mit
zahlreichen
Arbeitskämpfen
(von
der
Telekommunikation
bis
zur
Ölindustrie)
einher
ging,
war
zuvor
abgeebbt,
nachdem
die
abhängig
Beschäftigten
dabei
massive
materielle
Zugeständnisse
herausholen
konnten.
Es
blieben
zunächst
die
Kämpfe
von
Arbeitslosen,
die
aber
ihrerseits
mit
der
Bekanntgabe
der
Schaffung
von
55.000
Jobs
-
das
ganze
Land
hat
knapp
drei
Millionen
Einwohner/innen
-
etwas
beruhigt
werden
konnten,
und
Jugendlichen.
Nun
kamen
die
Einwanderer
hinzu.
Vielerorts
sind
es
besonders
diskriminierte
Minderheiten,
die
sich
nun
nach
der
ersten
Welle
von
antidiktatorischen
Kämpfen
in
der
arabischsprachigen
Welt
(Tunesien,
Ägypten,
Jemen)
in
einer
Reihe
von
Ländern
zu
Wort
melden.
In
Kuwait
kam
es
einerseits
zu
einer
ebenfalls
relativ
breiten
politischen
Protestbewegung,
die
es
erreichte,
eine
Auflösung
des
Parlaments
und
dessen
(demnächst
anstehende,
und
seit
kurzem
von
militanten
Proteste
begleitete)
Neuwahl
zu
erzwingen.
Andererseits
waren
von
Anfang
an
-
im
Februar
2011
kam
es
zu
den
ersten
Demonstrationen
-
migrantische
Arbeitskräfte
in
die
Rebellion
eingetreten.
In
den
letzten
Wochen
und
Monaten
sind
es
aber
zudem
auch
„Staatenlose“,
also
die
Nachkommen
von
Beduinenstämmen,
denen
nach
der
Gründung
des
heutigen
Staates
Kuwait
(1963)
nicht
die
Staatsangehörigkeit
zuerkannt
wurde,
weil
sie
nicht
anhand
von
Dokumenten
nachweisen
konnten,
zuvor
auf
dessen
Territorium
gelebt
zu
haben.
Seit
Wochen
kommt
es
in
kurzen
Abständen
zu
heftigen
Protestdemonstrationen
dieser
Gruppe.
In
vielen
nordafrikanischen
Ländern,
darunter
Tunesien
und
Libyen,
melden
sich
die
Berber
als
-
neben
den
Arabern
-
zahlreichste
Bevölkerungsgruppe
mit
eigenen
politischen
Forderungen
zu
Wort.
Vorläufige
Aussicht
Aus
dieser Kombination von politischen Kämpfen, sozialen
Mobilisierungen und dem Anmelden von Minderheitsforderungen
erwächst die Hoffnung. Die Durchsetzung von demokratischen
Mindestbedingungen wird zweifellos Jahre in Anspruch nehmen.
Aber nun, wo der Geist aus der Flasche ist, lässt er sich nicht
einfach dorthin zurück verbannen. Sicherlich wird es auch
beunruhigende Entwicklungen geben können. In Syrien
beispielsweise ist ein konfessionalisierter Bürgerkrieg nicht
auszuschließen,
auf den jedenfalls das Regime - das seine Kader zum Gutteil aus
der, historisch lange Zeit benachteiligten, religiösen
Minderheit der Alawiten rekrutiert - zielstrebig hinarbeitet.
Der frühere syrische Vizepräsident Abdelhalim al-Khaddam
beschuldigt etwa von seinem Pariser Exil aus das Regime, Waffen
in eine Kernzone der alawitischen Siedlungsgebiete im Westen des
Landes zu konzentrieren, um im Notfall eine Spaltung des
syrischen Staatsgebiets anzustreben. Auch viele Beobachter/innen
befürchten, je länger die brutale Repression andauern und den
Hass anwachsen lassen, desto stärker drohe ein Umkippen in einen
Bürgerkrieg. Ihn gegebenenfalls religiös aufzuladen, darauf
arbeitet das Regime durch seine heuchlerische Berufung auf eine
Rolle als „Beschützer von Christen und Alawiten“ bewusst hin.
Rückschläge und Negativentwicklungen drohen also durchaus in
einigen Ländern. Die Gesamtentwicklung stellen sie nicht in der
Weise in Frage, dass man behaupten könnte, die
arabischsprachigen Staaten wären besser bei den alten
diktatorischen Führungen geblieben. Dass die Gesellschaften
konfessionell gespalten und von zahllosen Spannungen durchzogen
sind - dass diese Scheiße
auf das Dach kam, daran hatten sie schließlich
Jahrzehnte lang gearbeitet.
Editorische Hinweise
Den Artikel
erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
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