Einiges zu Ungarn

von "Aug & Ohr Gegeninformationsinitiative"

02/12

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Die neue Entwicklung hin zu einem Führerstaat hat sich seit längerer Zeit angezeigt (auf der Propagandaebene unter anderem seit Jahren unbeanstandet mit der systematischen Verbreitung der Materialien, id est geschichtlichen Erfahrungen des Horthy-Faschismus, des Klerikalfaschismus, der ungarischen Rassenideologien, des Nazifaschismus), und es ist durchaus möglich, daß der einigende Faktor des „Orbánismus“ keine Eintagsfliege bleibt, sondern ein interessantes Modell abgibt für künftige autoritär-rechtsradikal-faschistische Experimente anderswo – deren Aufgabe immer auch darin besteht, die kapitalistische Ordnung zu befestigen. Die Kontakte zur Haider-Strache-Partei sind ungebrochen und sind von mir an einem Beispiel dokumentiert worden (1)

Rebellionserfahrung wird zum Herrschaftswissen

Es gibt keine ehemalige Protestpartei, die so eine Kehrtwende gemacht hat wie die Fidesz – die ursprünglich, zum Teil, aus der - zunächst zaghaft gegen umweltfeindliche Megaprojekte aufbegehrenden - Jugend der wohlbehüteten Nomenklatura hervorgegangen ist.

Die Integrationskraft des kapitalistischen Systems kennen wir ja schon von anderen Phänomenen wie etwa den Grünen – die in einigen Ländern zu einer schmierigen kleinbürgerlichen Fratze des Systems verkommen sind. Aber allein mit den „fetten Posten“ kann man die enorme Rechtsradikalisierung der Fidesz nicht erklären, es kommen zwei weitere Momente hinzu, die für das Verständnis wesentlich sind.

Das eine ist ein ideologischer Faktor: Orbán hat eine antiimperialistische Rhetorik entfaltet, die der Linken eine Reihe von Wortmarken entlehnt und die den Widerstand eines unbeugsamen Volkes gegen die großen Imperialismen simuliert. Das entspricht aber einem realen Bedürfnis.

Ausbeutung des kollektiven Widerstandsgedächtnisses

Diese Rhetorik schlägt jetzt zu. Es mußte eines Tages dazu kommen, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis der Fundus der vielen tatsächlichen früheren und erinnerten Rebellionen und Revolutionen dieses Volkes (oder besser der Völker Ungarns) gegen die jeweiligen imperialistischen Machthaber ausgewertet und ausgeweidet würden.

Daß nun tatsächlich ein Volk (hier nicht ethnisch verstanden), dessen Produktion zum großen Teil zerstört, dessen Produktionsstätten gleichermaßen ans Ausland wie an die bereitstehenden Geier der inländischen „sozialistischen“ Nomenklatura verscherbelt wurden, dessen erarbeitetes Eigentum von der dortigen Vermögensagentur ebenso willkürlich zerrissen und in alle Winde verteilt wurde, wie es in Deutschland nach der Annexion der DDR der Fall war, dessen Alte, dessen Greise wiederum, wie in den Dreißigerjahren, in Armut und Kälte dahinsiechen müssen und dessen größte nationale Minderheit ein Dasein von Verfolgten und Stigmatisierten zu führen hat und in Zwangsarbeitskasernen eingesperrt wird - daß sich so ein Volk doch wieder wie zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter dem Fürsten Rákóczi, wie 1848, wie in der Räterepublik, wie im Volksaufstand 1956, wie in der grassroot-Bewegung der letzten Achzigerjahre, der damals stärksten grassroot-Bewegung Europas, gegen die herrschenden Verhältnisse erheben könnte, aufbauend auf der historischen Erfahrung des widersprüchlichen Zusammenwirkens zwischen nationaler und sozialer Befreiung, die ihr stärkstes Experimentierfeld in den Kämpfen gegen die Habsburger hatte: das sollte eigentlich niemanden verwundern. Welcher Ungar läßt sich ein Sklavendasein gefallen?

Warum wird der rechte Populismus stigmatisiert?

Und nehmen wir an, es würde ein solches „Kuba in Europa“, ein solches Venezuela in Europa entstehen – was nicht der Fall ist - , ein linkes Gegenprojekt in Ungarn gegen das rechte Europa, gegen die Europäische Union, gegen die USA, gegen die unerträgliche Vorherrschaft Deutschlands in der EU und auch schon wieder die massive wirtschaftliche und hiermit politische Bevormundung durch die Österreicher, ein Anflug von Sozialismus in einem Land gegen die kontinentale Konterrevolution – ja würden dann nicht die EU, die USA, die NATO, die Gladios mit allen Geschützen auffahren?

Sie bereiten sich vor. Schon das rechte Ungarn hat jetzt zu schweigen, Würden sie dann nicht tollwütig auf ein linkes Ungarn, auf „die Ungarn“ losgehen, wie zur Zeit die deutschen und österreichischen Medien auf „die Griechen“?

Counter-Kraft Fidesz

Mit seinem nationalen Vortäuschen macht sich die Fidesz zum effizientesten Statthalter des Imperialismus und hat derzeit die Sozialdemokraten in der Statthalterfunktion abgelöst. Der präventiven Counter-Politik von Fidesz sowie den rein rechtsradikalen und rein faschistischen Gruppierungen ist es wichtig, mögliche tatsächliche Kritik , möglichen echten Widerstand (der schon brodelt) abzufangen und die legitime Verbindung von nationalen und sozialen Interessen in den allbekannten ungarischen Chauvinismus umzubiegen – unter einem „antimperialistischen“ Deckmäntelchen, das sie brauchen wie die Luft zum Atmen. Wovon zahlreiche „Äußerungen“ Orbáns in Magyar Nemzet zeugen, dem Zentralorgan der Fidesz – das früher das Zentralorgan der grassroot-Bewegungen war und vorher das Organ der Patriotischen Volksfront.

Wer also die ungarische Geschichte nicht kennt oder nicht kennen will (man weiß ja nicht einmal, warum die Wiener Votivkirche gebaut wurde: als Dank für die Errettung Franz-Josefs vor dem Anschlagsversuch eines sich für die unzähligen Opfer des Freiheitskampfes rächenden ungarischen Revolutionärs, der dafür hingerichtet wurde), wer die Kämpfe des ungarischen Volkes in der Vergangenheit nicht kennt, der wird nicht die Kraft verstehen, mit der die Reaktion agieren und manipulieren kann, die kalte Verve, mit der vergangener Widerstand wiederbeschworen und in ein großes antikommunistisches, repressives Entrechtungs- und Pauperisierungsprojekt eingesetzt werden kann. Die Fidesz-Counter-Funktion im Interesse des Imperialismus und des agressivsten Sektoren des internationalen (Finanz-) Kapitals, gegen die Fidesz einen Schein-Kampf führt, ist nur möglich mit Hilfe der Botschaft der behaupteteten Kontinuität mit den vergangenen realen Kämpfen der unteren Schichten.

Mit ihrem Pseudo-Aufmüpfen locken sie demoralisierte Massen an ihre autoritäre, steinerne Staats-Partei heran, die kein Fünkchen von Antikapitalismus, von konseqenter NATO- und EU-Gegnerschaft erkennen läßt.

Ideologie spielt in Ungarn eine große Rolle. Schon während der Periode Antalls, also der ersten neokapitalistischen Phase Ungarns, wurde die népi-Bewegung der Zwischenkriegszeit - eine schwer mit irgendeiner anderen Bewegung eines anderen Landes zu vergleichende national-plebeische, zum Teil national-romantische Bewegung mit einem linken und einem rechten, antisemitischen Flügel (der Antisemitismus fand aber auch in Einzelbereiche des linken Flügels Eingang, zum Beispiel, aber nicht konstitutiv für sein Denken, in das Werk von Gyula Illyés (2)) - für die ideologische Revitalisierung der kapitalistischen Politik eingesetzt.

Counter-Kraft EU

Ungarn ist tatsächlich durch die EU-Diktatur bedroht, Ungarn (das in die NATO gelockt wurde, wogegen die Arbeiterpartei mit der Neutralitätsbewegung Widerstand zu leisten versuchte) ist tatsächlich durch den EU-US-Imperialismus bedroht, denn man sieht jetzt schon, daß die EU-Diktatur die Massen ebenso aushungern will, mit oder ohne die Zuhilfe Orbáns, wie sie bereits jetzt die Griechen aushungert, und wenn ungarische Faschisten die EU-Fahne verbrennen, so entspricht dies einer realen und weit verbreiten Grundstimmung. Auch bei den studentischen Rebellionen Frankreichs der Achzigerjahre wurden bereits EU-Fahnen verbrannt - aber von Linken; eines der Bilder wurde damals in der Libération veröffentlicht.

Weit hat´s die EU gebracht, daß Faschisten der Bevölkerung die Wahrheit des Widerstandes gegen die EU vorgaukeln müssen.

Das schwächt den Widerstand gegen die EU wie nichts anderes. In Skandinavien ist der Widerstand gegen die EU eine Sache der Linken; das Gefährliche an Ungarn ist nicht der dortige vorhandene Widerstand gegen die EU, sondern daß es die Rechten sind, die sich ihn unter den Nagel reißen. Die Arbeiterpartei hat sich auf eine EU-skeptische Position zurückgezogen, im Gleichklang mit den postkommunistischen moderaten Links-Parteien Europas.

Im vorhinein würgt also die Rechte Volkswiderstand ab, den Widerstand der breiten Massen ab, oder wenn er da ist, kanalisiert sie ihn, macht aus Widerstand ein klassenneutrales Wut-Spektakel gegen die übernationale Counter-Kraft.

Wer hat uns verraten?

Die zweite Erklärung für den Erfolg der chauvinistischen und Rechtspolitik der Regierungspartei neben der ideologischen Umfunktionalisierung von antikapitalistischen bzw. herrschaftsfeindlichen Impulsen ist die unglaubliche Korruptheit des „Sozialistischen“ Partei (MSZP), die alles übersteigt, was „sozialistische“ Parteien in Europa, etwa in Italien, sich zuschulden kommen ließen oder lassen.

Aber das Wort „korrupt“ ist zu schwach. Linke palästinensische Gegner der PLO-Führung bezeichnen deren Regierung auch ständig als „korrupt“ – das Wort, möglicherweise auch falsch übersetzt, wird, besonders wenn es so oft wiederholt wird, fad und flach.

Die MSZP ist eher zu bezeichnen als: Hauptkomponente der Organisierten Kriminalität!

Die brutalsten kriminellen Akte – Spitzen des Eisbergs – sind im „Westen“ nie beschrieben worden.
Gyurcsány etwa hat mit der ersten Fabrik, die er sich unter den Nagel gerissen hat – um später Millionär zu werden – O. K. auf unverblümte Weise praktiziert: Er bedrohte die Arbeiter, die neben ihm noch an der Firma beteiligt waren, mit dem Rauswurf, erpreßte sie also, kam so zum Gesamtbesitz des Unternehmens. Wer hat das dokumentiert? Magyar Nemzet – eine der stilistisch, kulturell, argumentativ hochstehendsten Zeitungen unter den rechten Zeitungen Europas. Man soll sich nicht wundern!

Wieso war das bereits O. K.? Weil eingebaut in ein Geflecht, ein System, gedeckt von einem System. Ein altes Geflecht, das der Nomenklatura, deren Positionen und Kenntnisse für die Spitzenpositionen im neuen Wirtschafts- und politischen System verwendet und umgesetzt werden konnten. Eine perfekte Deckung der neuen Kapitalisten und Wirtschaftsverbrecher durch die Seilschaften des alten Systems. Die Seilschaften deckten einander bruchlos im neuen System – das den neuen Kapitaleignern systematisch freie Hand ließ. Sie haben Riesenfirmen an sich gerissen, einander die besten Aufträge zugeschanzt. Es ging zu und geht zu wie in Sizilien.

Wenn das nicht O. K. ist!

Banken und Mörder

Wie war es mit Bajnai? Zusammen mit Raiffeisen International war er beteiligt an einem Raubzug, mit dem sich die Neokapitalisten einen Teil des Besitzes der ostungarischen Geflügelproduktion und deren Anlagen angeeignet haben, Lieferanten wurden - sehr kurz zusammengefaßt – trickreich betrogen, ihre Existenz vernichtet, viele verelendeten dadurch, eine Reihe von ihnen beging Selbstmord. Akteure, Verursacher: Raiffeisen International und der spätere „sozialistische“ Ministerpräsident Bajnai, der eng in die Sache verwickelt war.

Ungarische Sozialdemokraten und österreichische Banker. Ausführlichst dokumentiert in Magyar Nemzet und Lokalzeitungen.

Diese und ähnliche Sachen sind ein gefundenes Fressen für die Rechte, und die sozialistische Tageszeitung Népszabadság hatte zum Geflügel-Skandal nur rabulistische Ausflüchte bereit – wiewohl ein linker MSZP-Dissident, ein Gerechter in der Partei, sich ebenfalls für die Wahrheit in dieser Sache (dem sogenannten Hajdú-Bét-Skandal) einsetzte.

Der maßlose Haß, die maßlose (und zusätzlich gesteuerte) Wut vieler gegen den „sozialistischen“ Anteil an der Organisierten Kriminalität, und auch schon gegen „die Ausländer“, ja die Österreicher - wo findet er ein Gefäß? Die Rechte stellt es zur Verfügung.


Vor einigen Jahren hat die Rechte Szenen des 56-er Volksaufstandes mit einem neuen Sturm auf den Rundfunk (wie 1956) simuliert, aber es waren auf der Straße unterschiedliche Bevölkerungsschichten, keinesfalls nur Rechte. Zum großen Teil Leute, die heute auf die Kundgebungen der neuen Mitte-Links-Bewegung Szolidaritás gehen (s. u.)

Die Rechte will die potentielle Linke für sich haben. Und daß es ihr so gut gelingt, ist nur allzu verständlich, denn wer in Ungarn vor dreißig, vierzig Jahren bewußt gelebt hat, dem könnte es auch als Progressivem gesellschaftlich nicht immer gut gegangen sein, und es mag ihm das Wort „Sozialismus“ auch heute noch etwas abgestanden schmecken. . Ja er mag ein echter Sozialist gewesen sein, ihm ist es ausgetrieben worden. Das ist die derzeitige Stärke der Rechten.

Und die Rechte kann natürlich mit vollem Recht argumentieren, daß die maßlose Korruption der „Sozialisten“ auch nach dem Systemwechsel noch weitergeht. Sozialdemokraten und - zum großen Teil – Kommunisten sind korrupt und repressiv.

Nützlichkeit des neuen gewerkschaftlichen und radikaldemokratischen Kampfes und Integrationsversuche

In letzter Zeit greifen einige neue Taktiken gegen die Mobilisierung der Massen. Wenn nun eine frühere Volksrebellion künstlich nachgeahmt und zitiert wird, dadurch sowohl die gegenwärtigen als auch die vergangenen Kämpfe entwertet werden; wenn die MSZP zu einer Partei der Verbrecher wird und die gesteuerte Volkswut sich auf dieses sozialdemokratische Brigantentum wirft, so sind die Möglichkeiten der Manipulation des gekränkten und betrogenen Volkes noch lange nicht erschöpft.

Imperialismus, Nationalismus und Militarismus versuchen, in der Situation der letzten Monate auf eine neue Weise zu intervenieren. Es ist kein Ende der Populismen.

Wir wir wissen – und das hat Ungarn mit Italien gemein – gibt es auf parlamentarischer und Parteienebene gegenüber der radikalen Rechten kein linksdemokratisch-zivilistisches Gegengewicht mehr: die MSZP ist ebenso politisch implodiert wie die Demokratische Partei Italiens. Beide Schwesterparteien sind nur mehr ein Schatten ihrer selbst und können und wollen dem radikalen rechten Block wie der EU-Auspressungsmaschinerie keinen Widerstand mehr entgegensetzen.

In beiden Ländern haben wir dahingegen das interessante Phänomen, daß die Gewerkschaftsbewegung stärker wird und die Gewerkschaften gewissermaßen die Bedeutung und Verantwortung der Partei übernehmen. In Ungarn könnten sie zu dem maßgebenden Pol eines breiten linksdemokratischen/bürgerlich linken Widerstands gegen den Abbau der sozialen Rechte werden. Dort ist es eine Vielzahl von Gewerkschaften, die sich vermehren wie seinerzeit die Roma-Organisationen. Die Einteilung in gelbe und Basisgewerkschaften wie in Italien ist in Ungarn aber nicht so einfach möglich, angesichts der hohen Anzahl und des häufigen Wechsels der Positionen.

Oft stehen bei den Mobilisierungen Branchenforderungen am Beginn, wie im vergangenen Sommer die der Polizisten, Soldaten, Gefängniswärter und Feuerwehrleute, von denen viele Tausende demonstrierten, und an diese anfänglich standespolitischen Kundgebungen schließen sich immer – schon seit den Neunzigerjahren - große Massen von Unorganisierten und reell Betroffenenen an, „das Volk“, mit eigenen weit über das Standespolitische hinausreichenden Forderungen. So war´s auch im vergangenen Frühsommer, als die genannten Berufsgruppen gegen Orbán zu rebellieren begannen, der ihnen ihre Pensionsberechtigung rückwirkend wieder aberkannt hatte und sie in Zwangsarbeitsprogramme wiedereingliederte, die unter anderem die Beaufsichtigung der ebenfalls zur Zwangsarbeit verpflichteten Roma umfaßte. Im Käfig der Baracken der Arbeitslager werden zwangsverpflichtete Bullen und zwangsverpflichtete Roma aufeinandergehetzt – keine Maßnahme illustriert anschaulicher den Zynismus der Orbán´sche Politik wie auch der Faschisten..

Die Provokation der Aberkennung der bereits rechtsgültigen Pensionen bringt große Massen auf die Beine, und diese Massen ziehen andere Massen an. Seit der Zeit des „realen Sozialismus“ weiß man aber, wie man Massen knebelt. Das Know-How ist über Generationen tradiert worden. Wie sieht nun die Kanalisierungs-, Umbiegungsstrategie aus?

Aktive Gewerkschaften werden eingekauft; Pseudogewerkschaften werden mit fraglichen Mitteln gepusht. Wie geht das?

Ursprünglich flexible und mobilisierungskräftige Gewerkschaften, wie die im Zusammenschluß Liga vertretenen Nach-Wende-Gewerkschaften oder die aus einem ursprünglich linken Projekt hervorgegangenen und jetzt am Ende ihres Daseins christlich gewordenen Arbeiterräte (Munkástanácsok) hat die Orbán-Regierung durch exklusive Verhandlerei auf ihre Seite gezogen, mit dem Effekt, daß sie nicht mehr auf die Straße gehen. Außerdem gab es ein Stillhalteabkommen mit der Regierung, die sämtliche Gewerkschaftsführer dadurch unter Druck gesetzt hatte, daß sie ihnen mit einer Kürzung ihrer Gehälter drohte.

Zweite Strategie: Die bewußt und gezielt klassenindifferente (aber mit relevanten proletarischen Forderungen garnierte) Aufblähung einer sich erst vage formierenden Bewegung. Aus der Initiative der Feuerwehrleute, Soldaten und Polizisten entstand eine neue Bewegung unter einem (wie manche meinen) charismatischen Führer, die Szolidaritás (Solidarität), die den Namen einer früheren linken, auch mit libertären Kräften verbundenen ungarischen Gewerkschaft trägt, aber mit ihr nichts zu tun hat. Die jetzige Szolidaritás (bewußt nach der Solidarność benannt) ist aber „weder eine linke oder eine rechte politische Richtung … , sondern eine neue Mitte …“ (3) und ihr Führer, Péter Kónya, tritt auf Kundgebungen zumeist im Kampfanzug auf. Er war mehr als ein Jahrzehnt lang als oberster, und erfolgreicher, gewerkschaftlicer Vertreter sowie Gewerkschaftsjournalist der Soldaten tätig. In der kapitalistischen Ära, nach dem Systemwechsel! Da er aber in der Sowjetunion ausgebildet wurde, spricht er die noch im Geist des Kádár-Sozialismus aufgewachsenen Generationen recht gut an - er spielt ein bißchen Sozialismus.

Nun gruppieren sich, kristallisieren sich um die Populistisch-Standespolitischen, die sich als die neue Opposition gerieren, in typisch ungarischer Manier alle Unzufriedenen und Protestler und es kommt zu neuen Massenkundgebungen, die sich teilweise mit neuen internetgenerierten zivilistischen Bewegungen, die eine sehr große Bedeutung erlangt haben, überlappen.

Allen gemeinsam ist, daß sie in radikaler und zum Teil wütender Opposition zum politischen Betrüger Orbán stehen – der Arbeitsplätze versprochen hatte. Jetzt bietet er Zwangsarbeit an. Dieser Sammlungseffekt ist – wenn auch von einigen trüben Quellen angeleiert - zweifellos nützlich, und das scharfe Verdikt der Munkáspárt, die Soldatenbewegung des Kónya sei bloße Fremdsteuerung, er hätte schließlich eine Zusatzausbildung in den USA erhalten, und die Facebookgruppen und deren Mobilisierungen seien nichts als Regenerierungsversuche der Sozialistischen Partei, hat einen Kern von Wahrheit. Aber nur der Kern ist wahr. Denn diese brodelnden Bewegungen selbst sind die, aus denen, gerade mit Hilfe der praktischen lebensbezogenen Forderungen der Gewerkschaften, der Basisinitiativen und neuen Massenorgansationen zwingend konkrete Klassenforderungen erwachsen können.

Relevanz des zivilistischen Sektors im ungarischen Kontext

Und wenn man für den langandauernden Volkskrieg ist - man muß sich mit den Nuancen der demokratischen Bewegungen und Experimente auseinandersetzen!

Im ungarischen Kontext haben die dortigen Grünen (LMP; Lehet Más Politika, „Eine andere Politik ist möglich“) durchaus, als einzige aktive oppositionelle Parlamentspartei (denn die MSZP ist völlig gelähmt, und zusätzlich geschwächt durch eine Abspaltung unter der Führung ausgerechnet Gyurcsánys, die zu einer neuen Partei führte, der Demokratischen Koalition), eine wichtige Funktion – auch wenn manche von ihr wieder abspringen, und in der jetzigen Situation haben die linksbürgerlichen Gruppierungen (wie sie die Munkáspárt kennzeichnet) eine wichtige Funktion: im Kampf für die Pressefreiheit, gegen die neue autoritäre Verfassung, für eine neue Republik, gegen den Abbau der Rechte der Lohnabhängigen – Letzeres ist auch ein Thema Kónyas.

Wer die Möglichkeiten der zivilistischen Vielfalt – des renovierten Pfeilers der Zivilgesellschaft, die selbst, neben der militärischen, ein tragendes Element der kapitalistischen Herrschaft ist - unterbewertet, ist ein Tagträumer. Wer die vorübergehende Nützlichkeit dieser aufbegehrenden und fluktuierenden Phänomene leugnet, ist realitätsfremd. Denn vielen von ihnen ist gemeinsam ein staatsskeptisches, ein staatsfeindliches Element, ein machtskeptisches, oft ein kapitalskeptisches Element. Dort wird experimentiert, was für einen großen antikapitalistischen Block wertvoll sein könnte. Ich nenne nur den Kampf für die Pressefreiheit, der in Ungarn seit 1848 in allen politischen Kämpfen immer eine zentrale Bedeutung gehabt hat.

Es will zwar letztendiglich mit den neuen internetgeborenen Gruppierungen (über die aber in Népszabadság und besonders Népszava regelmäßig berichtet wird, somit werden diese beiden progressiven Tageszeitungen zu gesellschaftlichen MitorganisatorInnen)) eine neue, zivilere Bourgeoisie an die Macht, aber einen Großteil der Themen und Forderungen haben sie derzeit mit den unteren Volksschichten gemein. Denn von der neuen Autokratie sind sowohl aufgeklärte/prekarisierte Bürger, Kleinbürger, Studenten wie verelendete Proleten betroffen, vom Abbau der sozialen und Arbeitsrechte sind alle Lohnabhängigen und Marginalisierten betroffen.

Eine knallharte Klassenpolitik muß gleichzeitig bei den Massen sein, mit den Massen lernen und notfalls mit den Massen irren, sich aber manchmal auch von den Massen separieren. Das ist eine Frage des Zeitpunkts.

Gewerkschaften; Bewegungen für soziale und politische Rechte; und Arbeiterpartei: drei sehr heterogene Elemente, die aber gemeinsam eine Bewegung des breiten Unwillens/des breiten Widerstands gegen eine gefährliche Sonderform von Knast-Gesellschaft, Revanchismus und Rassenhaß-Regime konstituieren.

Ein großer Teil der neuen Bewegungen ähnelt denen in Spanien, sie schaffen frei zugängliche Öffentlichkeit und im Ansatz radikale Demokratie (ohne die es keinen Sozialismus gibt), sie erkämpfen gegen die ständigen Kriminalisierungen und - seit neuestem - Kundgebungsverbote ein permanentes Versammlungsrecht - wie in Athen (4). Daher kann man sie nicht abstrakt ablehnen wie es die Munkáspárt tut.

Projektbezogene Massenbewegungen

Hier habe ich nur die großen Akteure der Opposition gegen den Orbánismus angesprochen (5), es gibt aber von Zeit zu Zeit im Land Massenmobilisierungen gegen spezielle Projekte ähnlich wie in Italien (Vicenza, Val di Susa). So fand vor Jahren eine breite Mobilisierung in Pécs statt, die sich gegen die Errichtung einer NATO-Aufklärungsstation in unmittelbarer Nähe der Altstadt gewandt hat, und es gibt nach wie vor horizontale und, um den modischen Terminus nochmals zu gebrauchen, grassroot-Bewegungen, wie etwa ein radikal horizontales studentisches Protestprojekt, Hallgatói Hálózat (Studentisches Netzwerk), das sich mit dem Ziel, sich öffentliche Räume anzueignen, selbst zu schaffen, auch und gerade öffentliche Räume in den Universitäten, knallhart gegen die Bevormundungspolitik der dortigen verhaßten und abgehobenen studentischen Standesorganisation, der HÖOK wendet (6).

Und wer hat sich die Mühe gemacht, die Bewegung in Pécs zu vermitteln? Man darf sich nicht wundern, daß man staunt und rätselt und die politischen Prozesse in Ungarn – die nun einmal ein wenig anders sind als die in anderen Ländern (wenn man von der Korruptheit der Sozialdemokraten absieht!) - nicht versteht. Die imperialistische Berichterstattung gaukelt uns vor, sie würde jetzt gegen die Rechte kritisch und verurteilend vorgehen. Das ist der lächerlichste Betrug, der einem in der letzten Zeit untergekommen ist.

Zum Abschluß

Warum machte ich auf Rhetorisierung und Ideologisierung aufmerksam? Weil eines Tages völlig freie Reden des Widerstandes entstehen werden und man das kalte, manipulierte Pseudo-Widerstands-Gerede von Orbán (und Jobbik) fein unterscheiden wird müssen von der feurig-rationalen Sprache des Aufstandes.

So wie das heuchlerische Europa sich heute auf Ungarn einschießt, so wird es dann erst richtig auf das ungarische Volk losschießen. Ja sie schießen präventiv heute schon gegen ein künftiges genuines Aufstands-Ungarn. Daß es heute bereits eines wäre, das wollen Orbán und Konsorten den unteren Volksschichten weismachen. Die faschistische Jobbik hat ihre Hauptklientel im verarmten Osten des Landes, unter den Leuten, die eigentlich gegen jeden und alles rebellieren müßten - aber sie unterwerfen sich.

Warum machte ich auf die Sozialdemokratien aufmerksam? Weil wir einen Sozialismus aufbauen müssen gegen die Sozialdemokratien. Oder zusammen mit Teilen, die sich von der Sozialdemokratie emanzipiert haben (7)

Warum machte ich auf die Vielfalt von heterogenen und zum Teil (noch) vagen oder widersprüchlichen Bewegungen aufmerksam? Weil Links-Sein heißt: Das Kleine und Widersprüchliche unter die Lupe zu nehmen. Praktisch zu sein und zu sammeln. Und daneben die historische Tiefendimension nicht zu vernachlässigen.

Ungarn verstehen heißt: Im eigenen Land für die Rechte der Ungarn und Ungarinnen mitkämpfen.


Anmerkungen

(1) AuO: Antisemitische Hetze im Café Zuckergoscherl!, Indymedia Austria, 3. 10. 2007
http://at2.indymedia.org/newswire/display/56098/index.html

(2) Seine beiden mikrologisch-anschaulichen Soziographien, so könnte man sie nennen: „Die Puszta; Nachricht aus einer verschwundenen Welt“ (andere Ausgaben. „Pusztavolk“) und: „Sándor Petöfi“ sind in deutscher Übersetzung erschienen und bilden eine hervorragende Grundlage für das Verständnis der ungarischen Gesellschaft, Unterschichten und Widerstandstraditionen.

(3) Christian-Zsolt Varga, Marco Schicker: Ungarischer Frühling? … Interview mit dem Chef der Szolidaritás-Bewegung, Péter Kónya, Pester Lloyd, 18. 1. 2012

(4) AuO: Der Bürgermeister von Athen: Weg mit den Zelten und Hütten am Syntagma-Platz! Indymedia Austria, 21. 7. 2011, http://at.indymedia.org/node/21001

(5) Wichtige neue Massenbewegungen neben der Szolidaritás sind: 4K! („Negyedik Köztársaság“, 4. Republik, eine sich explizit als links bezeichnende Bewegung, die mit selbstgewählten Roma-Vertretern zusammenarbeiten, im Mai ein endgültiges Programm erstellen sowie eine Partei gründen will, oder „Egymillióan a magyar sajtószabadságért“ (Eine Million für die ungarische Pressefreiheit), die zusammen mit unzähligen Basisinitiativen wie etwa TASZ („Társaság a Szabadságjogokért“ - Gesellschaft für Freiheitsrechte), auf Großkundgebungen mobilisieren. Aufgabe dieses Aufsatzes kann es nicht sein, diese relevanten Bewegungen im einzelnen zu beleuchten.. Das könnte einer weiteren Arbeit vorbehalten sein.

Vieles und Wesentliches über die neuen Bewegungen erfährt man in der deutschsprachigen Internetzeitung Pester Lloyd, die als die deutschsprachige Hauptquelle für die Orientierung über die derzeitige politische Situation in Ungarn gelten kann, daneben sind zu nennen: die oft sehr tiefgehenden Artikel der Korrespondenten der Jungen Welt – die aber leider nur kurz on-line bleiben, und unter vielen zwei (nicht-ungarische) Blogs: Pusztaranger und The contrarian Hungarian. Aber ich will auch Telepolis nicht unterschlagen.

(6) Die Wiener ÖH-gesteuerte Pseudoprotestbewegung nach dem Zerfall der Audimax-Besetzung (ÖH, Österreichische Hochschülerschaft ist ein aus Vertretern und Jungfunktionären bürgerlicher Parteien zusammengesetztes standespolitisches Befriedungsinstrument, im Gegensatz zu einem linken AstA) hat es zu verhindern gewußt, daß so etwas wie die Politik einer horizontalen studentischen Initiative und zwar aus Ungarn – das gibt´s dort - im Rahmen des internationalen Anti-Bologna-Treffens am Campus bekannt gemacht wurde, stattdessem luden sie aus Ungarn einen ihrer flachen Freunde ein, der über die antiautoritäre studentische Protestbewegung nichts zu berichten wußte und nur ein paar irrelevante Anmerkungen mit einer typisch dahinbrütenden kleinbürgerlichen Melancholie von sich gab.

Eben erfahre ich, daß die grün- und sozialdemokratisch gefärbte Wiener ÖH, dieses sich links nennende Parteienscheusal, den Betriebskindergarten am Campus abschaffen will.

(7) Wie etwa der klar antikapitalistischen ungarischen MEBAL (Magyar Egyesült Baloldal, Ungarische Vereinigte Linke), die eine der prägnantesten, transparentesten und informativsten Websites von allen Bewegungen eingerichtet hat, in ständiger Verbindung zur Gewerkschaftsbewegung und zu zahlreichen anderen linken Gruppierungen und Initiativen. Im vergangenen Sommer fand in den Räumlichkeiten der MEBAL ein österreichisch-ungarisches antifaschistisches Symposium statt, an dem auch Vertreter mehrerer Länder aus der Balkanregion teilnahmen. Auch aus Deutschland war man herangereist.
 

Editorische Hinweise

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