Über Mao's Beitrag zur Dialektik

von Ferruccio Rossi-Landi

02/12

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1. Vorbemerkung

Man muß vor jedem Versuch warnen, an die Dialektik als an eine von den Dingen getrennte Wissenschaft heranzugehen, zu der der Intellektuelle Mao Tse-tung einen rein theoretischen Beitrag geleistet habe. Dialektik ist die Bewegung der Realität und das handelnde Bewußtsein dieser Bewegung, Planung zur Veränderung der Realität und ihre wirkliche Veränderung. Der wichtigste Beitrag des Politikers Mao zur Dialektik ist also seine Rolle beim Aufbau des Sozialismus in China. Sie gipfelt in der Kulturrevolution und in der theoretischen Ein-und Voraussicht, daß durch das Weiterbestehen der Widersprüche im Volk in Zukunft noch andere Kulturrevolutionen nötig sein werden. Aber ist das geklärt, dann ist es nicht unlegitim, mittels genau bestimmter Abstraktionen zu untersuchen, wie Mao die Prinzipien der Dialektik anwendet. (Vielleicht vor allem die Entwicklung von Techniken für das Auffinden und Lösen des Hauptwiderspruchs oder der Hauptseite eines jeden Widerspruchs.) Im Mao'schen Gebrauch der Dialektik gibt es auf eigentümliche Weise Elemente, die - nach einer gewissen westlichen Terminologie - man auch empiristisch oder voluntaristisch nennen könnte; aber das heißt nicht, daß Mao's Dialektik nicht direkt und tief mit den Lehren der ihm vorangehenden Meister - im Westen wie in China - verbunden, daß sie nicht deren konsequente und notwendige Weiterentwicklung wäre. Außerdem gibt Mao einen Beitrag zu dem politisch wichtigsten Aspekt der Dialektik: ihre unmittelbare - oder doch mit überprüfbaren Vermittlungen - Anwendbarkeit auf die revolutionäre Praxis. Die Entscheidungsgewalt den breiten Massen übertragen zu haben, so daß diese die Partei zwingen, sich zu erneuern, die dann sich besser in ihren Dienst stellen kann, dabei doch die besondere Natur der Partei bewahrend - so also eine dauernde Dialektik zwischen Partei und Massen geschaffen zu haben - das ist vielleicht die größte dialektische Errungenschaft aller Zeiten. Als verräterisch erweisen sich demgegenüber die absurden und häufig niederträchtigen Kritiken von revisonistischer Seite an Mao's Gebrauch der Dialektik. Das Gleiche gilt für die Verkürzungen in den Interpretationen derer, die die Kulturrevolution einseitig verstanden haben: als bloße Bewegung der Partei zu den Massen oder auch der Massen zur Partei, statt als dialektische Wechselwirkung, die zu einer neuen Synthesis führt, in der frühere Positionen gelöst und überwunden sind.

Die grundlegenden Texte für die Theorie der Dialektik sind die beiden Aufsätze von 1937 «Über die Praxis» und «Über den Widerspruch». Die anderen Arbeiten Mao's führen sie in der Anwendung auf praktische Fragen beispielhaft vor, oder entwickeln verschiedene Einzelaspekte.

2. Die dialektische Situation

Eine dialektische Situation tritt ein, wenn «.eins sich in zwei teilt»: Im Einen sind immer zwei Seiten, zwischen denen ein Unterschied besteht. Dieser Unterschied präzisiert sich zum Gegensatz, d. h. die beiden Seiten bleiben nicht einfach bloß voneinander unterschieden, sondern die eine wird das Gegenteil der anderen, sie treten in Widerspruch zueinander. Die so entstandenen Widersprüche bilden doch immer die ursprüngliche Einheit des Einen: das Eine bleibt, auch wenn es in zwei geteilt wird, als Ganzes bestehen. Aber gleichzeitig gab es eine Bewegung. Jetzt können wir von einer ursprünglichen Einheit, die in zwei gegensätzliche Teile gespalten ist, sprechen und somit von einer Totalität (der Totalität dieser beiden Teile).

Die erste und einfachste Definition der Dialektik lautet: Dialektik ist die Theorie (Erkenntnis, Untersuchung, Wissenschaft) der Situation, die wir gerade zu erkennen beginnen und zugleich die Praxis in dieser Situation. Jede Untersuchung und jede Handlung, die sich dialektisch nennen, verweisen auf die grundsätzlichen Bestimmungen der dialektischen Situation im allgemeinen, über die von Anfang an Klarheit bestehen muß. Im Augenblick können wir diese Bestimmungen so zusammenfassen:

Ursprüngliche Einheit Spaltung (mindestens: Verdopplung) der ursprünglichen Einheit. Dazu sagt Mao: «In einem einfachen Prozeß gibt es nur ein Gegensatzpaar, in einem komplizierten Prozeß gibt es mehrere. Diese Gegensatzpaare geraten ihrerseits in Widerspruch zueinander.»

Unterschied, Gegensatz und Widerspruch der Teile, in die das Eine sich gespalten hat. Einheit der Gegensätze, ja sogar ihre «(dialektische) Identität». Wie Mao sagt: «Identität, Einheit, Übereinstimmung, gegenseitige Infiltration, gegenseitige Durchdringung, wechselseitige Abhängigkeit (oder wechselseitige Bedingtheit), wechselseitige Verbundenheit oder wechselseitiges Zusammenwirken - all das sind verschiedene Ausdrücke für ein und denselben Begriff, der sich auf folgende zwei Umstände bezieht: i. Im Entwicklungsprozeß der Dinge setzt jede der beiden Seiten des jeweiligen Widerspruchs die Existenz der anderen, ihr entgegengesetzten Seite als Bedingung ihrer eigenen Existenz voraus, wobei beide Seiten in einer Einheit koexistieren. 2. Jede der beiden entgegengesetzten Seiten verwandelt sich unter bestimmten Bedingungen in ihr Gegenteil. Eben das heißt Identität.» (s. o. und die beiden Bedeutungen von Identität I. 397)

Wir haben also:

a) Eine Berufung auf die Einheit - die ursprüngliche, undifferenzierte sowohl als auch die nach der Aufteilung in wenigstens zwei Teile Bestehenbleibende.

b) Die Offenlegung der Teile, die die Einheit bilden. Sie würde jetzt besser Totalität genannt. (Totalität eben dieser Teile, Totalität, die diese Teile umfaßt.)

c) Danach die Darlegung der Beziehungen zwischen den beiden (oder mehr) Teilen der Totalität.

d) Das Feststellen eines Widerspruchs, d. h. man stellt fest, daß diese Beziehungen, grundsätzlich und in erster Linie, widersprüchliche sind. Die beiden Seiten sind also Gegensätze, die einander ausschließen.

e) Eine Art Übergang, oder Rückkehr, oder Wiedergewinnung der ursprünglichen Einheit, die aber nicht mehr genau dieselbe ist: schon allein um dessentwillen, was wir an ihr unterschieden und verstanden haben. Jetzt sehen wir die ursprüngliche Einheit als «Totalität - die gegensätzliche Seiten umfaßt». Das hat vom formallogischen Gesichtspunkt her vielleicht einen tautologischen Geschmack, aber für die Dialektik ist es ein grundlegender Übergang.

Bis hierher sprachen wir von dem Einen, das sich in zwei teilt. Wir sprachen über die ursprüngliche Einheit und ihre gegensätzlichen Seiten. Die ursprüngliche Einheit zeigt sich uns jetzt also als eine Totalität. Aber in diesem Spiel vom Einen und den Zwei, in dieser einfachsten dialektischen Situation, taucht sofort das Prinzip der Triade auf. Die beiden gegensätzlichen oder widersprüchlichen Seiten sind Thesis und Antithesis. Die Überwindung des Widerspruchs ist die Synthesis, also die Wiederherstellung der Einheit. Das anschließende Sichsetzen dieser Einheit als einer neuen Thesis (man kann auch sagen: mit ihrer eigenen neuen Unmittelbarkeit) bringt diese in eine neue Totalität: in ihr wird eine der beiden Seiten der vorhergehenden Totalität entsprechen, während die andere ihr entgegenstehen wird; so tritt sie mit ihr innerhalb einer neuen weiteren Totalität in Widerspruch. Aber welche der mindestens zwei Seiten, in die sich das ursprünglich Eine gespalten hat, ist die Thesis und welche die Antithesis? Wie kommt es zur Überwindung des Widerspruchs, wie wird also die Synthesis erreicht? Und ist die Synthesis einmal erreicht, auf welche Weise stellt sie sich als neue Thesis (oder als neue Antithesis) innerhalb einer größeren Totalität? Es ist das bedeutendste Verdienst Mao's, diese Punkte geklärt zu haben, sie durch das Aufstellen präziser operationeller Kriterien geklärt zu haben.

Die Definition der Dialektik als «Untersuchung der Widersprüche» oder als «Theorie der Einheit der Gegensätze» (Lenin wieder aufgenommen von Mao) greift die wichtigsten Elemente der beschriebenen Situation auf und faßt sie zusammen. Wenn wir auf diese Situation jetzt den Unterschied von Wesen oder Realität und Erscheinung oder Manifestation anwenden, wird deutlich, daß, was wir gesagt haben, nicht die Erscheinung oder Manifestation, sondern Wesen oder Realität angeht. Eine Situation erscheint oder manifestiert sich auf bestimmte Weise. So stellt sie sich sofort und unmittelbar dar. Sie erscheint uns wie sie uns erscheint, wie sie sich darstellt. Das ist ihre Oberfläche, ihr phänomenaler Aspekt. Aber gerade mit der Oberfläche, dem Phänomen, kommen wir ja als erstem in Kontakt. Den Kontakt nennen wir unmittelbar, gerade um auszuschließen, daß etwas, eine Vermittlung, dazwischen sei. Die Oberfläche als solche kann auch frei von Widersprüchen sein, oder kann von nebensächlichen Widersprüchen charakterisiert sein, die sofort ohne Überschreitung der Oberfläche, das heißt also, ohne in die Situation einzudringen, zu lösen sind. Natürlich müssen aber die Widersprüche, die uns interessieren, wie Lenin sagt, «das Wesen der Dinge selbst» angehen. Die Widersprüche müssen außerhalb, unter den Phänomenen gesucht werden, ohne sich mit dem Schein zu begnügen. Dabei muß freilich von den Erscheinungen, die wir wahrnehmen, ausgegangen werden. Mao hat sehr auf diesem Aspekt der Dialektik insistiert (vor allem in seinem Aufsatz «Über die Praxis»). Vom Gesichtspunkt Jemandes aus, der sich einer dialektischen Situation nähert, um sie zu verstehen, zeigt sie sich im praktischen Erkenntnisprozeß folgendermaßen:

A. Man geht von einer konkreten Situation aus, das heißt von der kaum oder gar nicht organisierten Oberfläche der Dinge. Wir nennen diese Oberfläche nicht deshalb «nicht organisiert», weil keine

Strukturen irgendeiner Art in ihr erscheinen, sondern weil uns das System dieser erscheinenden Strukturen fehlt: wir wissen noch nicht, was in den Phänomenen «drinsteckt», die wir registrieren und mit denen zu beschäftigen wir uns entschlossen haben. Wir kennen ihr Wesen nicht.

B. Wir abstrahieren und konstruieren mit Explikationsschemata. Das ist das abstrakte Moment der Erkenntnis, das sogenannte logische oder rationale.

C. Die Schemata anwendend kehren wir zur konkreten Situation zurück und finden sie wieder. In diesem Wiederfinden werden sie verifiziert. Das ist das zweite konkrete Moment, die neue Konkretion, mit der ein bestimmter Erkenntnisvorgang vorläufig abschließt.

Der Erkenntnisprozeß, wie wir noch besser im Paragraphen 6 sehen werden, ist also selber dialektisch. Die unterschiedenen Momente wie A, B und C bilden selber eine dialektische Triade. Versuchen wir mit einer einheitlichen Formulierung die verschiedenen bisher unterschiedenen Aspekte der Situation zusammenzufassen.

1. Wir gehen von einer ersten Realität aus, von einem ersten Konkreten, das uns entgegentritt, das uns als eine «unorganisierte» Einheit erscheint.

2. Wir abstrahieren, indem wir Explikationsschemata als Arbeitshypothesen aufbauen. Sie beruhen auf der Annahme, daß die «unorganisierte» Einheit der ersten Realität in Wahrheit eine aus Teilen zusammengesetzte Totalität ist: unsere Aufgabe ist es, diese Teile auftauchen zu lassen.

3. Mit den konstruierten Strukturen kehren wir zum Konkreten zurück, das jetzt ein zweites Konkretes ist. So erreichen wir die Realität in ihrem Wesen. Sie stellt sich uns jetzt als ein strukturiertes oder organisiertes Ganzes dar, als eine in miteinander korrelierende (mindestens zwei einander widersprechende) Teile gespaltene Totalität. Diese elementare Darlegung der dialektischen Situation und der «Schritte», durch die man sich ihr nähert, um sie zu verstehen, macht schon einige Dinge deutlich. Die dialektische Situation ist grundlegend, elementar und in sich selbst von höchster Einfachheit. Es ist die Bewegungssituation: ohne Dialektik, d. h. ohne Widerspruch, bleibt die Bewegung im allgemeinen stehen. Wie Lenin und Mao sagen, ist der Tod eben das Verschwinden der Widersprüche. Wir alle leben jedoch von Anfang bis Ende dialektisch: wir haben die Dialektik in und um uns. Das heißt aber nicht, daß wir uns dessen bewußt sind und noch weniger, daß wir sie beherrschen können, um sie nach unserem Willen anzuwenden. Im Gegenteil, die Gedankenanstrengung für ein Begreifen der Dialektik ist groß. Sie verlangt den Einsatz komplizierter Beziehungen und einer geeigneten Terminologie, die diese Beziehungen ausdrücken kann. Gegenüber spontaneistischen oder sonst vulgär praktizistischen Interpretationen des Maotsetungdenkens muß man auf Mao's vollem Bewußtsein dieser Schwierigkeiten bestehen. Es gibt kaum eine Schrift von ihm, in der er nicht explizit bewußtes und leidenschaftliches Studium und Anwendung empfiehlt, ohne die niemand die Dialektik und ihre Anwendung erlernen könne. Nicht nur widersprechen diese subjektiven und theoretischen Dimensionen nicht den gesellschaftlichen Massenzielen der Revolution und dem Primat der Praxis, sondern sie sind sogar unaufgebbare Etappen auf dem Weg, der zum Verständnis des Primats der Praxis und der gesellschaftlichen Umwälzung der Revolution führt. Man könnte für die Dialektik das wiederholen, was Francis Bacon von der Natur sagte: man besiegt sie nur, wenn man sich ihr unterordnet.

So zögert Mao nicht, auf die schwierige Terminologie von Wesen und Erscheinung zurückzugreifen. Dabei klingt es manchmal so sehr nach der Hegelschen Terminologie, daß der unaufgeklärte Leser an Formen des «Intellektualismus» denken könnte. Exemplarisch dafür ist ein Abschnitt des Aufsatzes «Über die Praxis», in dem Mao den Übergang des Proletariats von einer «Klasse an sich» zur «Klasse für sich» darstellt. Im ersten Zustand stand das Proletariat «noch auf der Stufe der sinnlichen Erkenntnis; es erkannte nur die einzelnen Seiten und den äußeren Zusammenhang der Erscheinungen des Kapitalismus»; in der zweiten «war es imstande,... das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft, das zwischen den Gesellschaftsklassen bestehende Ausbeutungsverhältnis und die historische Aufgabe des Proletariats zu verstehen.» (I, 354) So hat das Proletariat eine dialektische Triade durchlaufen, von der Mao in diesem Abschnitt eine anfängliche «thetische» Phase und eine schließliche «synthetische» Phase aufzeigt, (Natürlich ein provisorisches Ende, ein Abschluß nur für diese Triade.)

3. Allgemeinheit der Widersprüche und ihr besonderer Charakter

Hat man im Widerspruch das eigentliche Objekt der Dialektik erkannt, so gilt alles, was man von ersterem sagt, für die zweite. Eine Erörterung des Widerspruchs ist eine Erörterung der Dialektik. Der Widerspruch, sagt Mao, hat einen doppelten Charakter: einerseits bestehen Widersprüche im Entwicklungsprozeß aller Dinge; andererseits besteht die Widerspruchsbewegung von Anfang bis Ende eines jeden Entwicklungsprozesses jeder einzelnen Sache. «Ohne Widersprüche gäbe es kein Weltall» (I, 371). Das gilt immer, für jedes Ding. Es hat keinen Sinn, dafür einzutreten, daß in einem besonderen Fall der Widerspruch nicht von Anfang an da war. Das ist eine Hypothese, die nicht trägt, denn sie implizierte, daß auf dieses Ding am Anfang nur äußerliche Ursachen (wenigstens eine) einwirkten. Gegen die Hypothese arbeitete schon der Widerspruch von Ursache und Ding und die wahre Totalität, über die man sprechen müßte, würde beide umfassen. Ohne die Ursache gäbe es keine Bewegung. In den Begriffen der westlichen Reflexion über den Begriff der «Dinge», die nacheinander in den bürgerlichen Konstruktionen von Kant, Hegel und Hus-serl kulminierten (und von den empiristischen Kultivatoren der «facts» so lächerlich ignoriert werden), können wir ihn so definieren: Der Begriff des Dings impliziert bereits einen Widerspruch im Ding selbst. Gibt man nicht wenigstens einen inneren Widerspruch an, gibt es das «Ding» nicht. Mit anderen Worten, ein Sein ohne innere Widersprüche ist in Wahrheit ein Un-Ding, ein Vor-Ding. Also keine Totalität, über die man sprechen könnte. Ebenso muß man sich hüten, anzunehmen, es könne einfache, nicht widersprüchliche Differenzen geben. Im Gegenteil, unter jeder Differenz sitzt schon der Widersprüche. (I, 372/73) Auch jeder Unterschied in den menschlichen Begriffen ist «der Reflex objektiver Widersprüche»; in der Partei z. B. gibt es «eine Widerspiegelung der in der Gesellschaft vorhandenen Widersprüche zwischen den Klassen, zwischen dem Alten und dem Neuen in der Partei.» Wenn «eine alte Einheit und die sie bildenden Gegensätze einer neuen Einheit und den sie bildenden Gegensätzen Platz machen, dann entsteht ein neuer Prozeß, der den alten ablöst.» Wir sehen hier ein weiteres Beispiel für die vollkommene Konsequenz Maoschen Denkens: Die Doktrin vom Weiterbestehen der Klassenwidersprüche auch nach der revolutionären Machtergreifung hat ihre Wurzeln in einem allgemeinsten Prinzip, das die Grundlage der Dialektik selbst betrifft. (S. z. B. Rede auf der Landeskonferenz der KP Chinas über Propagandaarbeit Peking 1967, S. 32)

Mao also, Hegel, Marx und Lenin folgend, begreift die Realität selbst als im Innersten und notwendig widersprüchlich. Der Widerspruch ist die Realität. Ohne Widerspruch gäbe es nur eine unbeschreibliche Ruhe oder Abwesenheit von Bewegung. Der Begriff dieser Ruhe kann in seiner Negativität verglichen werden mit einigen Begriffen, die vom westlichen Denken entwickelt wurden, wie denen des «Unmittelbaren», «Nichtmanipulierten», dessen, das «direkt unwidersprüchlich gelebt wird». Oder, in den Begriffen einer bekannten westlichen Mythologie, könnten wir zunächst sagen, daß der Widerspruch begann, als «es Licht ward» über dem ursprünglichen Chaos. Aber dann müßten wir einen Schritt zurück machen und erklären, daß es durch den Willen eines Gottes, der dem ursprünglichen Chaos bereits gegenüberstand, «Licht ward». Insofern wäre es also korrekter zu sagen, daß der Widerspruch begann, als ein Unterschied aufkam zwischen Gott und dem ganzen Rest. Diese vergleichenden Abschweifungen zeigen die Festigkeit des Materialismus von Mao, der alle Spekulationen abschneidet, indem er die innere und notwendig widersprüchliche Natur der ganzen Realität akzeptiert. Über diese Feststellung hinaus kann man nicht mehr weitersprechen und handeln. D.h., wer über sie hinaus will, verdammt sich zum Schweigen und zur Unbeweglichkeit. Es genügt aber nicht, die Allgemeinheit des Widerspruchs festzuhalten; auch sein spezifischer Charakter muß erkannt werden. Wie Mao sagt, das Wesen eines objektiven Prozesses kann sich auch noch nicht manifestiert haben; es kann immer nur begriffen werden von der rationalen oder logischen Erkenntnis, die über die Erscheinung hinaus geht (I, 351; s. § 6 weiter unten). Alles ist unaufhörlicher Veränderung unterworfen. Keine jemals erreichte Lösung reicht aus. «Die Umstände ändern sich ständig, deshalb müssen wir studieren, wenn unsere Gedanken stets der neuen Lage entsprechen sollen.» (Landeskonferenz 10) Jeder neuen Situation entsprechen neue revolutionäre Aufgaben: es genügt nicht, alte Fehler zu verbessern, sondern es müssen neue Pläne entworfen werden. (I, 360) Gerade mit dem spezifischen Charakter des Widerspruchs versteht man diesen Aspekt der Realität: «Jede Bewegungsform enthält ihre eigenen besonderen Widersprüche. Diese besonderen Widersprüche bilden das besondere Wesen eines Dinges, das dieses von anderen Dingen unterscheidet.» (I, 375) Und gerade in seinem besonderen Charakter ruht der allgemeine Charakter des Widerspruchs: um die revolutionäre Praxis anzuleiten, ist es nötig, «die Besonderheit, der den vorliegenden konkreten Dingen innewohnenden Widersprüche zu studieren.» (I, 371) «Qualitativ verschiedene Widersprüche können nur mit qualitativ verschiedenen Methoden gelöst werden.» (I, 377) Außerdem nehmen die beiden Gegensätze, also die beiden Seiten eines Widerspruchs, spezifische Charaktere an, die man aufdecken muß, um «zum Wesen jedes einzelnen Prozesses» (I, 377) zu kommen. Darauf werden wir in den nächsten beiden Paragraphen zurückkommen, wenn wir vom Hauptwiderspruch und der Hauptseite eines jeden Widerspruchs sprechen. Mao unterscheidet verschiedene Hauptlinien zum Studium des besonderen Charakters eines jeden Widerspruchs:

1. Der Widerspruch zwischen den unterschiedlichen Bewegungsformen der Materie.

2. Der Unterschied zwischen den Bewegungsformen im Laufe der unterschiedlichen Entwicklungsprozesse.

3. Die beiden Seiten des Widerspruchs in diesem oder jenem Entwicklungsprozeß.

4. Der Widerspruch in den Entwicklungsprozessen in derer unterschiedlichen Phasen.

5. Die beiden Seiten des Widerspruchs in den unterschiedlichen Phasen der Entwicklung.

Der Lehre Lenins folgend, wird dieses Studium geleistet durch die konkrete Analyse einer konkreten Situation. Wir stehen vor der Notwendigkeit, «die konkrete Stellung der beiden Seiten jedes Widerspruchs und die konkreten Wechselbeziehungen zwisehen den Widersprüchen aufzufinden.» (I, 387 und der ganze Abschnitt davor) Es kommt vor allem darauf an, die Einseitigkeit zu bekämpfen. «Einseitigkeit ist ein Verstoß gegen die Dialektik» (Landeskonferenz 23). Die Dialektik besteht gerade in der Überwindung der Einseitigkeit. »Die Methode, die bei einer Analyse angewendet werden soll, ist die dialektische Methode. Eine Analyse bedeutet, daß die den Dingen innewohnenden Widersprüche analysiert werden.» (s.o. S. 24) Das «Gift des Antimarxismus», wie Mao mit einem seiner prägnanten populären Bilder sagt, überwindend, wird man eine Entwicklung haben, «die im Kampf der Gegensätze vor sich geht, eine der Dialektik gemäße Entwicklung.» (s. o. S. 28/30) Diese Bemerkungen führen uns zum Problem des Ursprungs und der Natur der Bewegung, der inneren Aspekte eines jeden Widerspruchs und der materialistisch-dialektischen Erkenntnistheorie.

4. Der Hauptwiderspruch

Der Ursprung der Bewegung wird, wie bereits angedeutet, in der inneren Struktur der Dinge selbst gesucht. Also grundsätzlich in ihrem widersprüchlichen Charakter, in dem Widerspruch also, den sie als Dinge nicht haben können. «Die äußeren Ursachen» werden «als Bedingungen der Veränderung und die inneren Ursachen als deren Grundlage» betrachtet, «wobei die äußeren Ursachen vermittels der inneren wirken.» (I, 369) Die dialektisch-materialistische Weltanschauung vertritt die Meinung, «daß wir beim Studium der Entwicklung der Dinge von ihrem inneren Gehalt, von dem Zusammenhang des einen Dinges mit anderen ausgehen sollen ... Die Grundursache der Entwicklung eines Dinges liegt nicht außerhalb, sondern innerhalb desselben, sie liegt in seiner inneren Widersprüchlichkeit.» (I, 367)

Man muß also in das Ding eindringen, vor dem man steht, das man analysieren möchte. Jede Beschreibung seiner Bewegungen von außen ist inadäquat und undialektisch. «Diese dialektische Weltanschauung lehrt uns vor allem, die Bewegung der Widersprüche in den verschiedenen Dingen verständnisvoll zu beobachten und zu analysieren und auf der Grundlage dieser Analyse die Methoden für die Lösung der Widersprüche zu bestimmen. Daher ist das konkrete Verständnis des Gesetzes von dem Widerspruch, der den Dingen innewohnt, für uns äußerst wichtig.» (I, 370) Schon mit diesen Bemerkungen hat Mao jede Form von Empirismus ab-und zurückgewiesen, ebenso jede Form eines mechanistischen oder sonstwie vulgären Materialismus. Betrachten wir uns einige alte im Westen verbreitete Empfehlungen: «Ein Ding nicht als das, was es ist, verstehen», «die Welt der Fakten als vorgegebene zurückweisen», «nicht glauben, daß die Dinge sich gerade so verhalten, wie wir sie wahrnehmen in ihrer äußerlichen Bewegung» und so weiter. Diese methodologischen Hinweise, den westlichen Forschern wohlbekannt, werden zusammengefaßt und in einzigartiger Weise vertieft durch das Begreifen des Dings als einer in Begriffen des inneren Widerspruchs zu analysierenden Totalität. So erfährt das Denken seine Macht (s. Paragraph 8): weit davon entfernt, sich den Dingen zu ergeben, dringt es in sie ein, um ihr inneres Gesetz zu erforschen. Andererseits ist diese eindringende Macht des Denkens ganz materialistisch; kein Wesen, keine nichtmaterielle Macht wird zu Hilfe gerufen; die ganze Operation ist und bleibt typisch dialektisch-materialistisch. «... in der Welt existiert nichts außer der sich bewegenden Materie, und die Bewegung der Materie muß bestimmte Formen annehmen.» (I,375)

Aber, was finden wir, wenn wir in das Innere des Dinges eindringen, um seinen inneren Widerspruch zu studieren? Was sind die Schritte, die für ein richtiges Vorgehen nötig sind? Vielleicht liegt gerade in den systematischen Antworten auf diese Fragen Mao's größter theoretisch-praktischer Beitrag zur allgemeinen Dialektik.

«Im Entwicklungsprozeß eines komplexen Dinges gibt es eine ganze Reihe von Widersprüchen, unter denen stets einer der Hauptwiderspruch ist: seine Existenz und seine Entwicklung bestimmen oder beeinflussen die Existenz und die Entwicklung der anderen Widersprüche.» (I, 388) Man muß also den Entwicklungsprozeß studieren, um den Hauptwiderspruch herauszufinden. In einem gewissen Sinne ist das eine Öffnung zur Empirie, zur Geschichte. Es gibt objektive Dinge zu studieren. In keinem Fall wird Dialektik betrieben, indem man eine Reihe von Triaden herauszieht, wie die Spinne ihren Faden. «Die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis stellt stets eine solche spiralenförmige Bewegung dar», die durch die beständige «mühselige Forschungsarbeit an konkreten Dingen» vertieft wird und es zurückweist, «die allgemeinen Wahrheiten als etwas vom Himmel Gefallenes» zu betrachten. (I, 376/77) «... in jeder Etappe eines Entwicklungsprozesses» gibt es nur «einen einzigen Hauptwiderspruch..., der die führende Rolle spielt ... Infolgedessen muß man sich beim Studium eines komplizierten Prozesses, der zwei oder noch mehr Widersprüche enthält, die größte Mühe geben, den Hauptwiderspruch herauszufinden. Sobald dieser festgestellt ist, kann man alle Probleme leicht lösen.» (I, 390)

5. Die Hauptseite jedes Widerspruchs

Ist in einem bestimmten Entwicklungsprozeß der Hauptwiderspruch einmal isoliert und die Analyse auf ihn konzentriert, besteht der nächste Schritt darin, den Widerspruch selber in seine konstitutiven Momente zu zerlegen. Das sind die beiden Gegensätze, die Mao im Laufe dieser Analysen «Seiten» nennt. Jeder Widerspruch, bestehend aus zwei Gegensätzen, zeigt zwei Seiten. Wir müssen uns also fragen: sind die beiden Seiten eines Widerspruchs einander ähnlich? Kann man sie füreinander gleich halten? In unmittelbar hegelianischer Sprache, oder vielleicht auch nur gebräuchlicher im Westen, heißen die beiden Seiten eines Widerspruchs Thesis und Antithesis. Die soeben gestellten Fragen richten sich wieder auf die Relationen: Ähnlichkeit, Unterschied und Wichtigkeit, die man in jedem einzelnen Fall zwischen Thesis und Antithesis sieht. Nach einer mechanischen Vorstellung von der Dialektik, geht man immer notwendig von der Thesis aus, um dann zur Antithesis zu kommen: die Antithesis ist also immer das zweite Moment der dialektischen Triade, sie vermittelt die Thesis. Die Antithesis bildet das Moment der Negation und der Vermittlung. Durch diese Negation und Vermittlung der Thesis, geleistet von der Antithesis, wird der kontradiktorische Gegensatz zwischen Thesis und Antithesis überwunden und so die Synthesis erreicht. Das ist die wesentliche Struktur jeder dialektischen Triade. Die Synthesis ist also auch - sie ist es in einem zu präzisierenden Maße und Sinn, aber sie ist es notwendigerweise — eine Rückkehr zur Thesis. Die ganze Triade ist in der neuen Thesis präsent, von der aus die dialektische Bewegung wieder beginnt wie zuvor.

Mao zerstört vollkommen die Notwendigkeit dieser theoretischen Situation. Mit ungeheuren Konsequenzen. Lesen wir zunächst einige Abschnitte: «Die Seiten eines jeden Widerspruchs entwickeln sich ungleichmäßig.» (I, 390). Man kann nicht «in gleicher Weise an die beiden gegensätzlichen Seiten eines Widerspruchs, sei es nun der Hauptwiderspruch, sei es ein Nebenwiderspruch, herangehen ... Von den beiden Seiten des Widerspruchs ist die eine unweigerlich die hauptsächliche, die andere die sekundäre Seite. Die hauptsächliche Seite ist jene, die im Widerspruch die führende Rolle spielt.» (I, 390/91) und weiter: «...die beiden Seiten eines jeden Widerspruchs haben wiederum jede ihre eigenen Besonderheiten und man darf an sie ebenfalls nicht in der gleichen Weise herangehen.» (I, 379) Man muß verstehen, «welche spezifische Position jede Seite einnimmt,... in welchen konkreten Formen die beiden Seiten voneinander abhängen und zueinander im Gegensatz stehen ...» (I, 379) «Nicht nur die Besonderheiten der Bewegung der Widersprüche im gesamten Entwicklungsprozeß der Dinge — sowohl hinsichtlich ihrer wechselseitigen Verbundenheit als auch des Zustands jeder ihrer Seiten - müssen wir beachten; auch die einzelnen Etappen dieses Prozesses haben ihre eigenen Besonderheiten, die wir ebenfalls im Auge behalten müssen.» (I, 381)

Man muß also auch in die Thesis und in die Antithesis, in jede von beiden eindringen. Außerdem gibt es zwischen den beiden nicht mehr eine Ordnung, die in der ewigen Priorität der Thesis vor der Antithesis bestünde (die Antithesis hat man nur als Anti-thesis). Der Widerspruch - bereits wo immer wir ihm begegnen, aus zwei Gegensätzen zusammengesetzt, also zwei Seiten zeigend - wird auch selber empirisch und historisch entdeckt, statt sofort als nichts als eine Thesis betrachtet zu werden, der eine Antithesis gegenübersteht, die sie notwendig eingleisig als Rückkehr zur Thesis vermitteln muß. Vielmehr wird «der Charakter eines Dinges ... im wesentlichen durch die Hauptseite des Widerspruchs bestimmt, die eine dominierende Stellung einnimmt.» (I, 391) Mao faßt diese ganze Diskussion meisterhaft in einem Absatz zusammen, den wir hier am besten ausführlich wiedergeben:

«Wenn man beim Studium der Besonderheit des Widerspruchs darauf verzichtet, diese beiden Verhältnisse — Hauptwiderspruch und Nebenwiderspruch in einem Prozeß bzw. hauptsächliche und sekundäre Seite eines Widerspruchs - zu untersuchen, das heißt, wenn man es unterläßt, den unterschiedlichen Charakter der beiden Widerspruchsverhältnisse zu studieren, dann verliert man sich in Abstraktionen und ist außerstande, konkret zu begreifen, was mit den Widersprüchen vor sich geht; folglich ist man auch nicht in der Lage, die richtige Methode zur Lösung der Widersprüche zu finden. Dieser unterschiedliche oder besondere Charakter der beiden Widerspruchsverhältnisse erklärt sich aus der Ungleichmäßigkeit der Widerspruchskräfte. Es gibt nichts in der Welt, das sich in absoluter Gleichmäßigkeit entwickeln würde, und wir müssen die Theorie der gleichmäßigen Entwicklung oder die Gleichgewichtstheorie bekämpfen. Zugleich tritt gerade in diesen konkreten Verhältnissen der Widersprüche sowie in den Veränderungen der hauptsächlichen und der sekundären Seite des Widerspruchs im Laufe des Entwicklungsprozesses die Kraft des Neuen zutage, das Alte abzulösen. Das Studium der verschiedenen Zustände der Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung der Widersprüche, das Studium des Hauptwiderspruchs und der Nebenwidersprüche sowie der hauptsächlichen und der sekundären Seite im Widerspruch ist eine wichtige Methode, mit deren Hilfe eine revolutionäre Partei ihre politische und militärische Strategie und Taktik richtig festlegt; diesem Studium müssen alle Kommunisten ihre Aufmerksamkeit zuwenden.» (I, 395)

6. Die dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie

Im zweiten Paragraph - über die dialektische Situation im allgemeinen - haben wir unterstrichen, daß der Erkenntnisprozeß selber dialektisch ist. Sehen wir uns jetzt Mao's Gedanken dazu ein wenig näher an. Der Entwicklungsprozeß der Erkenntnis wird vor allem in seinem Aufsatz «Über die Praxis» von 1937 entwickelt. Eine gedrängte Zusammenfassung findet sich in der kurzen Schrift: «Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen?» von 1963; und ein wenig finden sich in allen veröffentlichten Schriften Beobachtungen zu diesem Problem.

Die materialistisch-dialektische Erkenntnistheorie besteht in der Aufteilung des Erkenntnisprozesses in 3 Stufen (oder Schritte, Momente): Praxis Erkenntnis Praxis (I, 363). «Eine von der Praxis losgelöste Erkenntnis kann es nicht geben.» (I, 3J4) Diese beiden einfachen Hinweise, auf deren Entwicklungen wir noch zurückkommen werden, müssen unser Verständnis des Erkenntnisprozesses leiten.

1. Stufe. Am Anfang, sagt Mao, sehen die Menschen nur die Erscheinungen der verschiedenen Dinge, ihre einzelnen Aspekte, ihre äußeren Beziehungen (I, 350). Empfindung in einem weiteren Sinne (das muß man im Auge behalten, es spiegeln sich darin vielleicht interessante Unterschiede zwischen dem Chinesischen und den westlichen Sprachen), ist die erste Phase, sie wird «Stufe der sinnlichen Erkenntnis, die Stufe der Empfindungen und Eindrücke» genannt. Auf diesem Niveau findet sich eine «große äußerliche Verbindung» zwischen den vielen Eindrücken; aber man kann «noch keine tiefgehenden Begriffe bilden und keine folgerichtigen (d.h. der Logik entsprechenden) Schlüsse ziehen.» (I, 350)

2. Stufe. Die gesellschaftliche Praxis fortsetzend, tritt in den in der vorangehenden Phase gesammelten Eindrücken und Empfindungen an einem bestimmten Punkt «ein Umschlag (d.h. ein Sprung) im Erkenntnisprozeß ein, und es entstehen Begriffe» (I, 3jo). Der Begriff spiegelt nicht mehr nur die Erscheinung der Dinge wider, sondern erfaßt ihr Wesen und ihre inneren Verknüpfungen. Der Unterschied zwischen Begriff und Empfindung ist ein qualitativer. Das quantitative Anhäufen von Empfindungen und ihrer sich bildenden Verbindungen macht nach dem Gesetz der Dialektik einer neuen Qualität Platz. So kommen Methoden des Urteilens und Ableitens auf: «... der Mensch (operiert) in seinem Gehirn mit Begriffen..., um Urteile zu fällen und Schlußfolgerungen zu ziehen.» Obwohl der ganze Erkenntnisprozeß eine Totalität bildet, von der kein Glied isoliert verstanden werden kann, zögert Mao nicht zu erklären, daß diese 2. Stufe die «Stufe der rationalen Erkenntnis», die «Stufe der Begriffe, Urteile und Schlußfolgerungen eine noch wichtigere Stufe» (I, 351) sei. Der Übergang von der sinnlichen zur rationalen Erkenntnis wird von Mao deutlich charakterisiert als ein Übergang von einzelnen, phänomenalen Aspekten der Dinge, also von ihrem äußeren Zusammenhang, zum Ganzen des Phänomens, zu seinem Wesen, d. h. zum inneren Zusammenhang der Dinge, «zur Aufdeckung der inneren Widersprüche der Umwelt» (I, 351). Man geht also, wie bereits betont, «von der Oberfläche zum Wesen». Die beiden Erkenntnisweisen, oder besser die beiden bisher unterschiedenen Stufen der Erkenntnis, unterscheiden sich in ihrem Charakter. Jedoch sie «vereinigen sich auf der Grundlage der Praxis» (I, 352). Zwischen Empfindung und rationaler Erkenntnis besteht ein Zirkel: «Unsere Praxis beweist: Wenn wir etwas wahrgenommen haben, können wir es nicht sofort begreifen; erst wenn wir begriffen haben, können wir es tiefer wahrnehmen.» (I, 352)

3. Stufe. Während das Stehenbleiben auf der Ebene der rationalen Erkenntnis, die durch die Verarbeitung der sinnlichen gewonnen wurde, typisch ist für die bürgerliche und vorbürgerliche Erkenntnistheorie, schließt die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus in einem dritten Schritt oder Moment, in der Rückkehr zur Praxis ab: «Wenn man über eine richtige Theorie verfügt, sie aber nur als etwas behandelt, worüber man einmal schwatzt, um es dann in die Schublade zu legen, was man jedoch keineswegs in die Praxis umsetzt, dann wird diese Theorie, so gut sie auch sein mag, bedeutungslos.» (I, 358) Die Theorie «zum Aufbewahren in der Schublade» kann nur mit theoretischen Kriterien, die zur inneren Logik jeder isoliert verstandenen Forschungsdisziplin gehören, als mehr oder weniger gut beurteilt werden; aber für den allgemeinen Gesichtspunkt, den ihrer praktischen Anwendbarkeit nämlich, wäre das ohne jede Bedeutung. Die richtigen Ideen kommen aus der gesellschaftlichen Praxis und müssen in der Praxis sich beweisen. Die Praxis ist «die Grundlage der Theorie, und die Theorie (dient) ihrerseits der Praxis.» (I, 349/50) Will man wirkliche Einsichten, dann muß man «am praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit» (I, 353) teilnehmen. Wir haben also einen zweiten Sprung, den von der Theorie zur Praxis. Er kommt zu dem von der Praxis zur Theorie hinzu. «Die Erkenntnis beginnt mit der Praxis, und die theoretischen Erkenntnisse, die man durch die Praxis erworben hat, müssen wiederum zur Praxis zurückkehren.» (I, 358) In der Praxis der Veränderung der Welt gibt es den «Prozeß der Überprüfung und der Entwicklung der Theorie, eine Fortsetzung des gesamten Erkenntnisprozesses.» (I, 359) «Durch die Praxis die Wahrheit entdecken und in der Praxis die Wahrheit bestätigen und weiterentwickeln ... Praxis, Erkenntnis, wieder Praxis und wieder Erkenntnis...» (I, 363). So vertritt Mao die historische, konkrete Einheit des Subjektiven und Objektiven, von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und Handeln (I, 362/63).

Gesellschaftliche Praxis, aus der jede Theorie kommt und in der jede Theorie sich zu bewähren hat, ist grundsätzlich die Produktion, der Klassenkampf (von dem die nationale Befreiungsbewegung ein Teil ist) und das wissenschaftliche Experiment. Die Erkenntnis hängt vom wissenschaftlichen Experiment, der Produktion und dem Klassenkampf ab; die unterschiedlichen Formen des letzteren üben einen besonders starken Einfluß auf die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis aus (I, 348). Die Akteure des ganzen Prozesses sind die Menschen in der gesellschaftlichen Praxis, die «gesellschaftlichen Menschen».

So haben wir ein pragmatisches Kriterium für eine, wie wir in Italien sagen, «historisierte» Voraussicht. In der Tat wird die menschliche Erkenntnis «erst dann als richtig bestätigt, wenn die Menschen im Prozeß der gesellschaftlichen Praxis (im Prozeß der materiellen Produktion, des Klassenkampfes und wissenschaftlicher Experimente) die von ihnen erwarteten Ergebnisse erzielt haben.» (I, 349) Wer sich der materiellen Produktion, dem Klassenkampf oder dem wissenschaftlichen Experiment entzieht, oder wer das Gemeinsame dieser drei konsumtiven Seiten der gesellschaftlichen Praxis nicht sieht und sie voneinander trennt, verwirft die dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie und wird damit mehr oder weniger deutlich irgendeine vormarxistische Position beziehen — sei es nun die eines materialistischen Rationalismus oder eines materialistischen Empirismus, beide verstehen «den historischen oder dialektischen Charakter der Erkenntnis» nicht. (Dem materialistischen Empirismus kann man freilich zugestehen, daß er «eine Seite der Wahrheit enthält». (I, 358))

Zur Auffassung der Voraussicht als eines Zirkel Praxis Theorie Praxis kommt der dialektische Begriff der Wahrheit. «Es gibt keine andere Methode, die Wahrheit zu überprüfen» als die «Überprüfung der menschlichen Erkenntnis durch die Praxis» (Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen? in 4 philosophische Monographien von Mao Tse-tung Peking 1970 S.150). Die Wahrheit bestätigt sich also erst mit dem zweiten Sprung im Erkenntnisprozeß, mit dem vom Denken zur Materie. «Die Marxisten sind der Ansicht, daß nur die gesellschaftliche Praxis der Menschen das Kriterium für den Wahrheitsgehalt ihrer Erkenntnis der Außenwelt ist.» (I, 349) «Ob eine Erkenntnis oder eine Theorie der Wahrheit entspricht, wird nicht durch die subjektive Empfindung, sondern durch die objektiven Ergebnisse der gesellschaftlichen Praxis bestimmt.» (I, 350) Im Prozeß der gesellschaftlichen Praxis erkennt man immer mehr die Wahrheit. Alle Wahrheiten sind relativ, und die absolute Wahrheit, über die man in einem bestimmten Augenblick verfügt, ist nichts als die dialektische Summe der bisher bestätigten relativen Wahrheiten. (I, 362) Wenn sich das Problem stellt, ob eine theoretische Vorstellung eine objektive Grundlage hat, muß man «die rationale Erkenntnis wieder in die gesellschaftliche Praxis zurückführen», denn «die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit» (I, 359). So werden alle Vorstellungen, die die Wahrheit entweder in etwas Subjektivem, oder in der bloßen Kohärenz der Theorien, oder in einer Adäquation von Diskurs und ontologisch verstandener Realität sehen, zurückgewiesen. Die Wahrheit, Frucht der Erkenntnis, entwickelt sich in der revolutionären Umgestaltung von objektiver und subjektiver Welt und der Beziehungen zwischen beiden (l, 363). In unseren Erkenntnissen spiegelt sich in jedem Augenblick «jede dialektische Bewegung in der objektiven Welt» (I, 362), d. h. der Welt, die wir durch Produktion und Klassenkampf aufbauen.

Warum sind wir denn Marxisten?, fragt sich Mao. Weil die Theorien des Marxismus sich in unserer Praxis als richtig erwiesen haben. Der Marxismus konnte nur in einer kapitalistischen Gesellschaft hervorgebracht werden, er dient zur Unterrichtung des Proletariats (I, 352). Er entwickelt sich im Kampf gegen die bürgerliche Ideologie und kann sich nur im Kampf weiterentwickeln (Landeskonferenz 29/ 30). Seine beiden Haupteigenschaften sind eben: i. sein Klassencharakter, er steht im Dienste des Proletariats; 2. sein praktischer Charakter, die von ihm behauptete Abhängigkeit der Theorie von der Praxis (I, 349/50). Der Marxismus hat gewiß die Wahrheit nicht erschöpft, im Gegenteil, er «bahnt der Erkenntnis der Wahrheit in der Praxis ununterbrochen neue Wege.» (I, 362) Es ist Aufgabe eines jeden Revolutionärs, den Marxismus so zu verbreiten, «daß die Menschen den Marxismus gern akzeptieren» (Landeskonferenz 7). Diese Verbreitung darf jedoch niemals auf gezwungen sein: «Wir dürfen die Menschen nicht zwingen, den Marxismus anzunehmen, sondern müssen sie überzeugen». (Landeskonferenz 7) Die vom Marxismus erreichten und vertretenen Wahrheiten müssen immer Resultate der Diskussion unterschiedlicher Meinungen sein; «Die Wahrheit erwächst aus dem Kampf gegen den Irrtum. Eben auf diese Weise entwickelt sich der Marxismus.» (Landeskonferenz 30) Von einem allgemeinen Gesichtspunkt aus kann man sagen, daß alle Theorien sich erst in einer von ihnen nicht eingestandenen Praxis verifizieren. Die bürgerlichen, oder allgemein die vormarxistischen Erkenntnistheorien haben sich in einer Praxis der Ausbeutung verifiziert; sie entsprechen der Klassenspaltung der Gesellschaft. Nur bleibt ihre Beziehung zur Praxis uneingestanden oder bewußt verschleiert. Mit dem Stehenbleiben auf der zweiten Stufe der Erkenntnis, stellen sie sich objektiv in den Dienst der herrschenden Klasse. Wird die Beziehung zur Praxis offengelegt und der allgemeine Wert jeder Theorie, die sich nicht in der Praxis bestätigt, negiert, so bedeutet das den Bruch mit den Mystifizierungen bürgerlicher Erkenntnistheorien und das Behaupten einer marxistischen Erkenntnistheorie, einer dialektisch-materialistischen, proletarischen: diese stellt sich objektiv in den Dienst der Ausgebeuteten der ganzen Welt. «Die Wahrheit ist auf unserer Seite», sagt Mao, und ebenso die Massen (Landeskonferenz 18).

Zu behaupten, daß die Theorie allein ausreiche, um die Wahrheit zu erreichen, heißt, reale Dinge als gegeben und unveränderlich akzeptieren. An ihnen kann die Theorie gemessen werden. In Wirklichkeit aber ist die ganze Realität vom Menschen «produziert» im Sinne, daß sie vom Menschen immer nach seinen Interessen interpretiert wurde, die immer Klasseninteressen waren. In diesem Sinne sagt Mao:

"...der gesellschaftliche Mensch nimmt an allen Bereichen des praktischen Lebens der Gesellschaft teil. Darum erfaßt der Mensch in seiner Erkenntnis in unterschiedlichem Maße die verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Menschen nicht nur im materiellen, sondern auch im politischen und kulturellen Leben (das eng mit dem materiellen Leben verbunden ist). Unter diesen Formen der gesellschaftlichen Praxis übt vor allem der Klassenkampf in seinen verschiedensten Formen einen tiefwirkenden Einfluß auf die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis aus. In der Klassengesellschaft lebt jeder Mensch in einer bestimmten Klassenlage, und es gibt keine Ideen, die nicht den Stempel einer Klasse trügen.» (I, 348)

7. Die Dialektik von Empirismus und Idealismus

Das Gegenteil der Dialektik ist die Einseitigkeit (Landeskonferenz 22). «Einseitigkeit heißt gedankliche Verabsolutierung, heißt an die Fragen metaphysisch herangehen.» (s.o. S. 20/21) Der richtige Standpunkt, begründet durch die Dialektik, besteht darin, einige Sachen für richtig oder für schlecht zu halten, nicht darin, alles für richtig oder schlecht zu halten (s. o. S. 17). Der Marxismus wird elastisch und in alle Richtungen angewandt. Z.B. zwischen Basis und Überbau gibt es einen Zirkel, und wir müssen «anerkennen, daß das Geistige auf das Materielle, das gesellschaftliche Bewußtsein auf das gesellschaftliche Sein, der Überbau auf die Basis zurückwirkt.» (I, 395) Die Beziehung nur in einer Richtung von Basis zu Überbau zu sehen - ist mechanischer Materialismus; dagegen an dem Zirkel von Überbau und Basis festhalten - daran festhalten, obwohl man sich klar darüber ist, daß die Hauptsache die ökonomische Basis, die Praxis, die Produktivkräfte sind, - das ist dialektischer Materialismus.

Diese Überlegungen führen auf die mittlere Position der Dialektik zwischen zwei entgegengesetzten Fehlern, die darin bestehen, einseitig diese oder jene Seite der Totalität zu akzentuieren, die doch adäquat nur konstituiert und repräsentiert wird von der Dialektik selber. Zuerst wäre der falsche Gegensatz von Idealismus und Empirismus zu prüfen. Ein Idealist ist im Grunde, «wer der Meinung ist, die rationale Erkenntnis brauche nicht aus der sinnlichen Erkenntnis zu entspringen.» (I, 356) Hier haben wir den rationalistischen Glauben an etwas «nur subjektiv Entstandenes», der ausgeht von den sogenannten «Vernunftdaten», die von ihrem Ursprung, der immer in einer sinnlichen Erkenntnis besteht (I, 356), getrennt werden. Idealismus und Empirismus bestehen in einer Trennung von Subjektivem und Objektivem zugunsten des Erste-ren: die Erkenntnis trennt sich von der Praxis und gewinnt die Oberhand; das rationale Moment der Erkenntnis wird dem sinnlichen, sei es genetisch oder dem Werte nach vorangestellt. (I, 362) Der entgegengesetzte Fehler ist der des Empirismus, bei dem die Trennung zwischen Subjektivem und Objektivem zugunsten des zweiten sich auflöst: die Praxis gewinnt Oberhand über die Erkenntnis, und das sinnliche Moment der Erkenntnis wird dem rationalen an Bedeutung vorangestellt. Kurz gesagt, mit dem Empirismus bleibt die Erkenntnis in der frühen Phase der sinnlichen Erkenntnis stehen.

«Der Fehler dieser Theorie liegt in der mangelnden Kenntnis dessen, daß die Sinnesangaben zwar eine Widerspiegelung gewisser Realitäten der objektiven Außenwelt, jedoch nur etwas Einseitiges und Oberflächliches sind; eine solche Widerspiegelung ist unvollständig, ist keine Widerspiegelung des Wesens der Dinge. Zur vollständigen Widerspiegelung des Dinges in seiner Totalität, zur Widerspiegelung seines Wesens und seiner inneren Gesetzmäßigkeiten muß man durch den Denkprozeß mannigfaltige Sinnesangaben verarbeiten, d. h. die Spreu vom Weizen sondern, das Falsche ausmerzen und das Wahre behalten, vom einen zum anderen fortschreiten, von der Oberfläche in den Kern eindringen und dadurch ein System von Begriffen und Theorien schaffen — muß man den Sprung von der sinnlichen Erkenntnis zur rationalen Erkenntnis tun.» (I, 357)

Ein Spezialfall des Empirismus ist der idealistische Empirismus, der die Erkenntnis auf die sogenannte «innere Selbstbetrachtung» (I, 357) zurückführt. Die Daten, von denen man ausgeht und bei denen man bleibt, sind also die der individuellen Erkenntnis. So entstehen unterschiedliche Formen des Sollipsismus, oder des extremen erkenntnistheoretischen Individualismus. Es handelt sich immer noch um Empirismus, aber um einen Fehler vermehrt.

Der Idealismus manifestiert sich als linkes Abenteuertum und Dogmatismus; der Empirismus als rechter Opportunismus und vulgärer Praktizismus. In all diesen Fällen wird dialektisches Herangehen durch ein einseitiges ersetzt, das ungebührend nur einen Aspekt der Totalität der Erkenntnis - Praxis Erkenntnis Praxis - herausgreift. Hier haben wir ein Verkümmern der Dialektik, bei dem das einseitig bevorzugte Stück immer wiederholt wird, ohne daß man zu anderen Momenten übergehen kann. Ein Teil wird dargestellt und herausgearbeitet statt des Ganzen, zu dem er gehört. Die Bewegung erscheint unterbrochen.

Das linke Abenteuertum hat Ideen, die von der gegenwärtigen Praxis der Mehrzahl der Menschen getrennt sind; sie überschreiten die bestimmte Phase der Entwicklung des objektiven Prozesses. So werden dann Illusionen für die Wahrheit genommen, oder man versucht mit aller Gewalt «verfrüht in der Gegenwart Ideale zu verwirklichen, die erst in der Zukunft verwirklicht werden können». (I, 362) Eine besondere Erscheinungsform des Subjektivismus als Verachtung der Praxis, die zum linken Abenteuertum gehört, ist der Dogmatismus, der darin besteht, «den Marxismus von einem metaphysischen Standpunkt aus (zu) behandeln, ihn als etwas Starres und Lebloses (zu) betrachten» (Landeskonferenz 33).

Das Gegenteil des Dogmatismus ist der vulgäre Praktizismus, von dessen Befürwortern schreibt Mao: «Sie schätzen die Erfahrung hoch, achten aber die Theorie gering, infolgedessen können sie keine Übersicht über den objektiven Prozeß in seiner Gesamtheit gewinnen, fehlt ihnen die klare Orientierung.» (I, 3J7) Das Gegenteil des linken Aben-teuertums ist der Rechtsopportunismus. Er zeigt sich, wenn die Ideen nicht dem Rhythmus der Veränderungen der objektiven Situation entsprechen; da also, wo nicht gesehen wird, «daß der Kampf der Widersprüche den objektiven Prozeß schon vorangetrieben hat, während ihre Erkenntnis noch auf der früheren Stufe verharrt» (I, 361). «Ihr Denken ist von der gesellschaftlichen Praxis losgelöst» (I, 361). Der mechanistische Materialismus zeigt in dem, was ihn vom dialektischen Materialismus unterscheidet, besonders gut die Situation des Rechtsopportunismus und des vulgären Praktizismus. Eng mit diesen beiden Fehlern im Denken, die gleichzeitig auch Fehler in der Praxis sind, sind Metaphysik und Revisionismus verbunden. Sehen wir uns an, was Mao darüber vom Gesichtspunkt der Dialektik aus sagt.

Die Metaphysik hat immer in der Geschichte geherrscht, in China wie in Europa, aus dem einfa-dien Grund, weil es sich um ein Herrschaftsinstrument der herrschenden Klassen handelt. Als jedoch die materialistisch-dialektische Weltanschauung entstand, bildete sich gegen den dialektischen Materialismus, neben der Metaphysik und dem reaktionären Idealismus, ein vulgärer Evolutionismus. Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus gilt gegen den vulgären Evolutionismus das gleiche, was gegen die traditionelle Metaphysik gesagt wurde. Tatsächlich schreibt Mao:

«Die Weltanschauung der Metaphysik oder des vulgären Evolutionismus betrachtet alle Dinge in der Welt isoliert, statisch und einseitig. Alle Dinge in der Welt, ihre Formen und ihre Gattungen wären demnach ewig voneinander isoliert, ewig unveränderlich. Insofern von Veränderungen die Rede ist, dann nur von quantitativer Zunahme oder Abnahme und von Ortsveränderung. Dabei sollen die Ursachen einer solchen Zunahme oder Abnahme bzw. einer solchen Ortsveränderung nicht in den Dingen selbst liegen, sondern außerhalb ihrer, das heißt in der Einwirkung äußerer Kräfte. Die Metaphysiker vertreten die Auffassung, daß die verschiedenen Dinge in der Welt sowie ihre Eigenschaften vom Beginn ihres Seins an unverändert blieben, ihre späteren Veränderungen bloß quantitative Vergrößerungen oder Verkleinerungen seien. Die Metaphysiker sind der Ansicht, daß ein Ding nur ewig sich selbst reproduzieren, sich aber nicht in ein anderes, von ihm unterschiedliches Ding verwandeln könne. Die Metaphysiker glauben, daß die kapitalistische Ausbeutung, die kapitalistische Konkurrenz, die individualistische Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft usw. - daß das alles auch in der antiken Sklavenhaltergesellschaft, ja sogar in der Urgesellschaft anzutreffen sei, daß es ewig unverändert existieren werde. Was die Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung betrifft, so erklären die Metaphysiker sie aus Bedingungen, die außerhalb der Gesellschaft liegen - aus dem geographischen Milieu, dem Klima usw. Die Metaphysiker versuchen einfach, außerhalb der Dinge die Ursachen ihrer Entwicklung zu finden, und bestreiten die These der materialistischen Dialektik, wonach die Entwicklung der Dinge durch die ihnen innewohnenden Widersprüche hervorgerufen wird. Daher sind sie nicht in der Lage, die qualitative Vielfalt der Dinge und das Umschlagen einer Qualität in eine andere zu erklären.» (I, 366/67)

Diese Diagnose Maos trifft exakt einen großen Teil der derzeitigen intellektuellen Produktion in Europa und Nordamerika, die im Dienst der herrschenden Klasse steht, manchmal mit ein wenig Marxismus übertüncht. Man denke z. B. an den Biologismus und an Theorien des Angeborenseins in Psychologie und Sprachwissenschaft, an den adialektischen Charakter eines großen Teils der Soziologie, an neuere, auch italienische, Wiederaufnahmen des mechanistischen Materialismus. Sie behaupten eine Unveränderbarkeit der biologischen Natur des Menschen und eine einseitige Wirkung der biologischen Struktur auf das Verhalten.

«Die Einheit oder Identität der gegensätzlichen Seiten in einem objektiv existierenden Ding ist niemals tot erstarrt, sondern lebendig, bedingt, beweglich, zeitweilig, relativ; alle Gegensätze verwandeln sich unter bestimmten Bedingungen in ihr Gegenteil; und die Widerspiegelung dieser Sachlage im menschlichen Denken stellt die marxistische dialektisch-materialistische Weltanschauung dar. Nur die reaktionären herrschenden Klassen der Gegenwart und Vergangenheit sowie die ihnen dienstbare Metaphysik betrachten die Gegensätze nicht als lebendig, bedingt, beweglich, sich ineinander verwandelnd, sondern als tot, erstarrt; sie propagieren allenthalben diese falsche Auffassung, um die Volksmassen irrezuführen und die eigene Herrschaft weiter aufrechtzuerhalten.» (I, 399)

Werden Metaphysik und Einseitigkeit wiederaufgegriffen in einer marxistisch gefärbten oder marxistisch gewesenen Umgebung, um eines adialektischen Kompromisses zwischen Marxismus und Kapitalismus oder um konterrevolutionärer Zurückbildung willen, dann haben wir die typische Situation des Revisionismus. Vom philosophischen Gesichtspunkt aus ist also der Revisionismus ein Verkümmern der Dialektik. Er ist es in anderem Sinne als der Dogmatismus: der Revisionismus ist eine Verkümmerung empiristischer Art, die im Rechtsopportunismus und vulgärem Praktizismus endet. In Wahrheit negiert er die Grundprinzipien des Marxismus, er ist soweit eine bürgerliche Weltanschauung.

«Die Revisionisten verwischen den Unterschied zwischen dem Sozialismus und dem Kapitalismus, den Unterschied zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Diktatur. Das, wofür sie eintreten, ist in Wirklichkeit nicht die sozialistische Linie, sondern eine kapitalistische. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist der Revisionismus noch schädlicher als der Dogmatismus.» (Landeskonferenz 33/ 34)

8. Die Macht des Denkens

Wie wir schon gegen Ende des 2. Paragraphen betonten, werden alle Schriften Maos durchzogen von immer wiederkehrenden Unterstreichungen der Bedeutung der wissenschaftlichen Erkenntnis, der theoretischen Arbeit, des Studiums, der Kultur, der unermüdlichen Anstrengung, die nötig ist, um die Dialektik zu meistern, um ein guter Marxist zu sein, der intellektuellen Schulung im allgemeinen, der Kaderbildung, der ideologischen Entmystifizierung und des Neuaufbaus, von Schulung und Unterricht, des Arbeitsstils in der Partei und seiner Ausrichtung, der Freiheit der Einzelnen, die durch Diskussion überzeugt und nicht mit Gewalt gezwungen werden. So sagt z.B. Mao: «Dieser Prozeß, die Praxis der Umgestaltung der Welt, - ein Prozeß, der durch die wissenschaftliche Erkenntnis determiniert ist -» (I, 363). Wir arbeiten für ein hohes Kulturniveau (Landeskonferenz 19). Und die Kultur wird gerade durch die demokratische Diktatur eine schnellere Entwicklung haben (s. o. S. 19). Wendet man die Linie «blühenlassen» — statt «drosseln» — an, dann weil «sie dazu beiträgt, daß unser Staat sich festigt und das Kulturleben sich entfaltet.» (s.o. S. 27) Die Intellektuellen, ideologisch umerzogen, verbinden sich mit den Massen und entwickeln eine «gemeine Sprache» (s.o. S. 15). «Das Intellektuellenproblem ist vor allem ein Problem der Ideologie, es ist nur von Schaden, wenn man in bezug auf ideologische Fragen zu groben Mitteln greift und Zwangsmaßnahmen trifft.» (s. o. S. 28) «Wir müssen die Menschen nicht zwingen, den Marxismus anzunehmen, sondern müssen sie überzeugen,» (s. o. S. 7) und «man kann andere nur durch Argumente überzeugen, nicht durch Zwang.» (s. o. S. 28) «Was ist nun, wenn man nicht zu überzeugen versteht? Man lernt es. Wir müssen es erlernen, durch Debatte und Argumentation falsche Ansichten zu überwinden» (s. o. S. 29). «Der erste Sekretär jedes Parteikomitees muß sich persönlich mit den ideologischen Fragen beschäftigen; erst wenn man diesen Fragen Aufmerksamkeit zugewendet und sie studiert hat, wird man sie richtig lösen können.» (s. o. S. 35) «Die Aufgabe der Kommunisten besteht darin, die falschen Auffassungen der Reaktionäre und Metaphysiker zu entlarven, die den Dingen innewohnende Dialektik zu propagieren, die Verwandlung der Dinge zu fördern und so die Ziele der Revolution zu erreichen.» (I, 399) Wir müssen uns an Marx ein Beispiel nehmen, das «des vollkommensten Intellektuellen, aus dem die höchste Weisheit der Menschheit sprach.» (III, 41). Aber dafür muß zunächst «Allgemeinbildung» erworben werden. «Andernfalls werden sie sich die Theorie des Marxismus-Leninismus nicht aneignen können.» (III, 42) Und wenn jemand fragen wird: «Ist denn das Kapital nicht sehr lang? Was soll man denn nun damit anfangen?», so muß man ihm antworten: «Sehr einfach: es weiterlesen.» (III, 59). Es gibt also praktisch keine Seite, auf der Mao nicht lehrt, richtig zu denken und das eigene Bewußtsein zu bilden im Sinne intellektueller Bewußtheit (auch im moralischen Sinne: «Durch ihre Unehrlichkeit kommen diese Menschen selbst zu schaden. Ich denke, wir müssen diese Dinge ehrlich anpacken; denn ohne eine ehrliche Einstellung ist es absolut unmöglich, irgend etwas auf der Welt zustandezubringen.» (III, 46))

Wir fassen alle eben ins Gedächtnis zurückgerufenen Aspekte des Mao Tse-tung Denkens im Begriff der «Macht des Denkens» zusammen. Das ist vielleicht die Seite, der bis heute in Europa am wenigsten gefolgt, die kaum beachtet wurde, so sehr wurde sie anderen Aspekten gegenüber unterbewertet. Das ist ein Fehler, der jedem sofort in die Augen springt, der die Schriften Mao Tse-tungs mit objektivem Blick liest, um sie als Ganzes zu begreifen und nicht nur auf der Suche nach der Bestätigung für einzelne, isolierte Thesen ist. Oder auch schon, wer nur viele - lange und nicht nur kurze Aufsätze - liest und überdenkt, so daß er nicht einige Erklärungen mit Aufforderungscharakter oder allgemein programmatischem aus dem Zusammenhang kultureller, theoretischer wie praktischer Beziehungen, in den sie gehören, löst. Dieser Fehler ist typisch europäisch. Seine Wurzeln sind in unserer objektiven Situation zu suchen, in einer Gesellschaft des fortgeschrittenen Kapitalismus und einer sich auflösenden Bourgeoisie, durchdrängt von allen Spielarten versteckter und offener bürgerlicher Mystifikation, (in Italien) beherrscht vom Monolith der größten offiziellen KP des Westens und daher auch der stärksten und deutlichsten Anstrengung des Revisionismus im Westen. Wir Europäer sind Erben einer hochintellektuellen Kultur, die als solche nicht nur Klassenkultur, sondern sogar Kastenkultur ist. Sie fährt in erschreckendem Maße fort, nicht nur die Kultur im allgemeinen zu beherrschen, sondern gerade den Unterricht bis auf seine elementarsten Ebenen, sowie die Massenkommunikationsmittel. Wir haben von der Praxis getrennte Wissenschaften begründet und pflegen sie weiter. Auch auf der Ebene der kollektiven Überzeugungen fahren wir fort, an das Bestehen nicht dialektischer Wahrheiten zu glauben. Dieser Situation bürgerlich kastenmäßig intellektualistischer Vorherrschaft gegenüber, ist es das beiläufige Verdienst einer ganzen Generation junger, vom Mao Tse-tungdenken Inspirierter, sie ungewollt und indirekt zu einer Unterbewertung dessen verwendet zu haben, was in seinen Schriften sich auf die «Macht des Denkens» bezieht, um in einer historisch genau gezielten Polemik, auf andere Seiten seiner Lehre den Akzent zu setzen: von der Praxis ausgehen wieder zur Praxis gehen, das dauernde Sich-beziehen auf die Massen, um von ihnen zu lernen, das «Dem Volke dienen» usw. Auch der Verfasser dieser Anmerkungen ist der Auffassung, daß diese Seiten des Mao Tse-tung Denkens nicht nur untrennbar, nicht nur fundamental, sondern auch die wichtigsten sind. Von ihnen ist auszugehen. Eine Wissenschaft und ein Denken, das von der Praxis getrennt ist, gibt es nicht und darf es nicht geben; eine Theorie, die sich nicht anwendet, ist sinnlos; wer nicht zum Wohle der Massen des ganzen Planeten handelt, sich so in ihren Dienst stellt, ist ein ausgemachter Bürger oder ein Revisionist. Über diese grundlegenden Vorstellungen müßte als Ausgangspunkt vollkommene Einigkeit bestehen. Jedoch wollen wir nicht (a) gerade dem Mao Tse-tung Denken gegenüber einen der Fehler der Einseitigkeit begehen, auf die Mao immer wieder unsere Aufmerksamkeit richtet und (b) aus der Sicht verlieren die ungeheure Kompliziertheit der Vermittlungen, durch die man hindurch muß, wenn man das Programm der proletarischen Revolution in Europa heute aufstellen will, dann ist es unumgänglich, ebensoviel Aufmerksamkeit auf all die Seiten der gesellschaftlichen Praxis zu lenken, die weiter oben in dem Begriff der «Macht des Denkens» zusammengefaßt wurden. Abgesehen davon, daß ein maoistisch inspirierter Marxismus, der sich mit dem nötigen Einsatz auch der Macht des Denkens zuwendet, von Anfang an, allen Assoziationen - sie sind ebenso vulgär wie häufig - von Maoismus und Linksabenteuertum oder bloßem «Agitatorentum» oder «Volkstümlerei» sich entzieht, scheinen die Zeiten reif zu sein, um in Europa und in Italien die ganze Lehre Mao Tse-tungs, und nicht nur seine allgemeinsten Empfehlungen, so wichtig sie auch sein mögen, sich anzueignen. Niemand kann glauben, daß die Wiederholung einiger Parolen, auch wenn subjektiv noch so begeistert und objektiv reale Aktionen bewirkend, die nötige Anstrengung des Denkens, die zur Erlernung der Lehren Mao Tse-tungs notwendig ist, ersetzen kann — um von der weiteren Anstrengung, der schöpferischen Anwendung dieser Lehre auf unsere Situation gar nicht erst zu sprechen. Nicht umsonst pflegen die chinesischen Genossen selbst den revolutionären Kern und Träger ihrer großartigen gesellschaftlichen Praxis Mao Tse-tung si-xiang, «Mao Tse-tung-Denken» zu nennen.

Wie wir im Laufe dieser kurzen Darstellung gesehen haben, ist der Maosche Beitrag zur Dialektik, wie jeder dialektische Diskurs, nicht leicht verständlich. Und doch erreichen die Texte Mao Tse-tungs den höchstmöglichen Grad der Vereinfachung angesichts der objektiven Kompliziertheit der dialektischen Prozesse. Sie wählen immer genial die wesentlichen Linien der behandelten Probleme und machen sie einer Vielzahl von Lesern, in China oder sonst in der Welt, verständlich - verständlich, wenn die einzige Bedingung: das Aufbringen der notwendigen Anstrengung, erfüllt ist. Im Laufe dieses wunderbaren Prozesses der Vereinfachung und der universalen Kommunikation zeigt Mao durch sein eigenes Beispiel den Fehler und die Gefahr jedes praktizistischen Verständnisses, nach dem die Theorie ein für allemal von Marx, Engels und Lenin gemacht wurde, und uns nur übrigbleibt, sie anzuwenden. Ganz im Gegenteil zeigt Mao, wie auch die Theorie und das Denken einen dauernden Veränderungsprozeß durchmachen müssen, um sich den immer wechselnden Situationen anpassen zu können, mit dem Ziel, so auf sie einzuwirken, daß erfolgreich der Kommunismus auf planetarer Ebene errichtet werden kann. Denken ist ein unabtrennbares Stück der gesellschaftlichen Praxis und somit der Realität.

Editorische Hinweise

Ferruccio Rossi-Landi, Über Mao's Beitrag zur Dialektik, in: Ästhetik und Kommunikation, Nr. 8, Reinbek, Juni 1972, S. 72-83