folgendermaßen:
A. Man geht von einer konkreten Situation aus, das
heißt von der kaum oder gar nicht organisierten Oberfläche der
Dinge. Wir nennen diese Oberfläche nicht deshalb «nicht
organisiert», weil keine
Strukturen irgendeiner Art in ihr erscheinen, sondern
weil uns das System dieser erscheinenden Strukturen fehlt: wir
wissen noch nicht, was in den Phänomenen «drinsteckt», die wir
registrieren und mit denen zu beschäftigen wir uns entschlossen
haben. Wir kennen ihr Wesen nicht.
B. Wir abstrahieren und konstruieren mit
Explikationsschemata. Das ist das abstrakte Moment der
Erkenntnis, das sogenannte logische oder rationale.
C. Die Schemata anwendend kehren wir zur konkreten Situation
zurück und finden sie wieder. In diesem Wiederfinden werden sie
verifiziert. Das ist das zweite konkrete Moment, die
neue Konkretion, mit der ein bestimmter Erkenntnisvorgang
vorläufig abschließt.
Der Erkenntnisprozeß, wie wir noch besser im Paragraphen 6
sehen werden, ist also selber dialektisch. Die
unterschiedenen Momente wie A, B und C bilden selber eine
dialektische Triade. Versuchen wir mit einer einheitlichen
Formulierung die verschiedenen bisher unterschiedenen Aspekte
der Situation zusammenzufassen.
1. Wir gehen von einer ersten Realität aus, von einem ersten
Konkreten, das uns entgegentritt, das uns als eine
«unorganisierte» Einheit erscheint.
2. Wir abstrahieren, indem wir Explikationsschemata als
Arbeitshypothesen aufbauen. Sie beruhen auf der Annahme, daß die
«unorganisierte» Einheit der ersten Realität in Wahrheit eine
aus Teilen zusammengesetzte Totalität ist: unsere Aufgabe ist
es, diese Teile auftauchen zu lassen.
3. Mit den konstruierten Strukturen kehren wir zum Konkreten
zurück, das jetzt ein zweites Konkretes ist. So erreichen wir
die Realität in ihrem Wesen. Sie stellt sich uns jetzt
als ein strukturiertes oder organisiertes Ganzes dar, als eine
in miteinander korrelierende (mindestens zwei einander
widersprechende) Teile gespaltene Totalität. Diese elementare
Darlegung der dialektischen Situation und der «Schritte», durch
die man sich ihr nähert, um sie zu verstehen, macht schon einige
Dinge deutlich. Die dialektische Situation ist grundlegend,
elementar und in sich selbst von höchster Einfachheit. Es ist
die Bewegungssituation: ohne Dialektik, d. h. ohne Widerspruch,
bleibt die Bewegung im allgemeinen stehen. Wie Lenin und Mao
sagen, ist der Tod eben das Verschwinden der Widersprüche. Wir
alle leben jedoch von Anfang bis Ende dialektisch: wir haben die
Dialektik in und um uns. Das heißt aber nicht, daß wir uns
dessen bewußt sind und noch weniger, daß wir sie beherrschen
können, um sie nach unserem Willen anzuwenden. Im Gegenteil, die
Gedankenanstrengung für ein Begreifen der Dialektik ist groß.
Sie verlangt den Einsatz komplizierter Beziehungen und einer
geeigneten Terminologie, die diese Beziehungen ausdrücken kann.
Gegenüber spontaneistischen oder sonst vulgär praktizistischen
Interpretationen des Maotsetungdenkens muß man auf Mao's vollem
Bewußtsein dieser Schwierigkeiten bestehen. Es gibt
kaum eine Schrift von ihm, in der er nicht explizit
bewußtes und leidenschaftliches Studium und Anwendung empfiehlt,
ohne die niemand die Dialektik und ihre Anwendung erlernen
könne. Nicht nur widersprechen diese subjektiven und
theoretischen Dimensionen nicht den gesellschaftlichen
Massenzielen der Revolution und dem Primat der Praxis, sondern
sie sind sogar unaufgebbare Etappen auf dem Weg, der zum
Verständnis des Primats der Praxis und der gesellschaftlichen
Umwälzung der Revolution führt. Man könnte für die Dialektik das
wiederholen, was Francis Bacon von der Natur sagte: man besiegt
sie nur, wenn man sich ihr unterordnet.
So zögert Mao nicht, auf die schwierige Terminologie von
Wesen und Erscheinung zurückzugreifen. Dabei klingt es manchmal
so sehr nach der Hegelschen Terminologie, daß der unaufgeklärte
Leser an Formen des «Intellektualismus» denken könnte.
Exemplarisch dafür ist ein Abschnitt des Aufsatzes «Über die
Praxis», in dem Mao den Übergang des Proletariats von einer
«Klasse an sich» zur «Klasse für sich» darstellt. Im ersten
Zustand stand das Proletariat «noch auf der Stufe der sinnlichen
Erkenntnis; es erkannte nur die einzelnen Seiten und den äußeren
Zusammenhang der Erscheinungen des Kapitalismus»; in der zweiten
«war es imstande,... das Wesen der kapitalistischen
Gesellschaft, das zwischen den Gesellschaftsklassen bestehende
Ausbeutungsverhältnis und die historische Aufgabe des
Proletariats zu verstehen.» (I, 354) So hat das Proletariat eine
dialektische Triade durchlaufen, von der Mao in diesem Abschnitt
eine anfängliche «thetische» Phase und eine schließliche
«synthetische» Phase aufzeigt, (Natürlich ein provisorisches
Ende, ein Abschluß nur für diese Triade.)
3. Allgemeinheit der Widersprüche und ihr besonderer
Charakter
Hat man im Widerspruch das eigentliche Objekt der Dialektik
erkannt, so gilt alles, was man von ersterem sagt, für die
zweite. Eine Erörterung des Widerspruchs ist eine Erörterung der
Dialektik. Der Widerspruch, sagt Mao, hat einen doppelten
Charakter: einerseits bestehen Widersprüche im
Entwicklungsprozeß aller Dinge; andererseits besteht die
Widerspruchsbewegung von Anfang bis Ende eines jeden
Entwicklungsprozesses jeder einzelnen Sache. «Ohne Widersprüche
gäbe es kein Weltall» (I, 371). Das gilt immer, für jedes Ding.
Es hat keinen Sinn, dafür einzutreten, daß in einem besonderen
Fall der Widerspruch nicht von Anfang an da war. Das ist
eine Hypothese, die nicht trägt, denn sie implizierte, daß auf
dieses Ding am Anfang nur äußerliche Ursachen (wenigstens eine)
einwirkten. Gegen die Hypothese arbeitete schon der Widerspruch
von Ursache und Ding und die wahre Totalität, über die
man sprechen müßte, würde beide umfassen. Ohne die Ursache gäbe
es keine Bewegung. In den Begriffen der westlichen Reflexion
über den Begriff der «Dinge», die nacheinander in den
bürgerlichen Konstruktionen von Kant, Hegel und Hus-serl
kulminierten (und von den empiristischen Kultivatoren der «facts»
so lächerlich ignoriert werden), können wir ihn so definieren:
Der Begriff des Dings impliziert bereits einen Widerspruch im
Ding selbst. Gibt man nicht wenigstens einen inneren Widerspruch
an, gibt es das «Ding» nicht. Mit anderen Worten, ein Sein ohne
innere Widersprüche ist in Wahrheit ein Un-Ding, ein Vor-Ding.
Also keine Totalität, über die man sprechen könnte. Ebenso muß
man sich hüten, anzunehmen, es könne einfache, nicht
widersprüchliche Differenzen geben. Im Gegenteil, unter jeder
Differenz sitzt schon der Widersprüche. (I, 372/73) Auch jeder
Unterschied in den menschlichen Begriffen ist «der Reflex
objektiver Widersprüche»; in der Partei z. B. gibt es «eine
Widerspiegelung der in der Gesellschaft vorhandenen Widersprüche
zwischen den Klassen, zwischen dem Alten und dem Neuen in der
Partei.» Wenn «eine alte Einheit und die sie bildenden
Gegensätze einer neuen Einheit und den sie bildenden Gegensätzen
Platz machen, dann entsteht ein neuer Prozeß, der den alten
ablöst.» Wir sehen hier ein weiteres Beispiel für die
vollkommene Konsequenz Maoschen Denkens: Die Doktrin vom
Weiterbestehen der Klassenwidersprüche auch nach der
revolutionären Machtergreifung hat ihre Wurzeln in einem
allgemeinsten Prinzip, das die Grundlage der Dialektik selbst
betrifft. (S. z. B. Rede auf der Landeskonferenz der KP Chinas
über Propagandaarbeit Peking 1967, S. 32)
Mao also, Hegel, Marx und Lenin folgend, begreift die
Realität selbst als im Innersten und notwendig widersprüchlich.
Der Widerspruch ist die Realität. Ohne Widerspruch gäbe es nur
eine unbeschreibliche Ruhe oder Abwesenheit von Bewegung. Der
Begriff dieser Ruhe kann in seiner Negativität verglichen werden
mit einigen Begriffen, die vom westlichen Denken entwickelt
wurden, wie denen des «Unmittelbaren», «Nichtmanipulierten»,
dessen, das «direkt unwidersprüchlich gelebt wird». Oder, in den
Begriffen einer bekannten westlichen Mythologie, könnten wir
zunächst sagen, daß der Widerspruch begann, als «es Licht ward»
über dem ursprünglichen Chaos. Aber dann müßten wir einen
Schritt zurück machen und erklären, daß es durch den Willen
eines Gottes, der dem ursprünglichen Chaos bereits
gegenüberstand, «Licht ward». Insofern wäre es also korrekter zu
sagen, daß der Widerspruch begann, als ein Unterschied aufkam
zwischen Gott und dem ganzen Rest. Diese vergleichenden
Abschweifungen zeigen die Festigkeit des Materialismus von Mao,
der alle Spekulationen abschneidet, indem er die innere und
notwendig widersprüchliche Natur der ganzen Realität akzeptiert.
Über diese Feststellung hinaus kann man nicht mehr
weitersprechen und handeln. D.h., wer über sie hinaus will,
verdammt sich zum Schweigen und zur Unbeweglichkeit. Es genügt
aber nicht, die Allgemeinheit des Widerspruchs festzuhalten;
auch sein spezifischer Charakter muß erkannt werden. Wie Mao
sagt, das Wesen eines objektiven Prozesses kann sich auch noch
nicht manifestiert haben; es kann immer nur begriffen werden von
der rationalen oder logischen Erkenntnis, die über die
Erscheinung hinaus geht (I, 351; s. § 6 weiter unten).
Alles ist unaufhörlicher Veränderung unterworfen. Keine jemals
erreichte Lösung reicht aus. «Die Umstände ändern sich ständig,
deshalb müssen wir studieren, wenn unsere Gedanken stets der
neuen Lage entsprechen sollen.» (Landeskonferenz 10) Jeder neuen
Situation entsprechen neue revolutionäre Aufgaben: es genügt
nicht, alte Fehler zu verbessern, sondern es müssen neue
Pläne entworfen werden. (I, 360) Gerade mit dem spezifischen
Charakter des Widerspruchs versteht man diesen Aspekt der
Realität: «Jede Bewegungsform enthält ihre eigenen besonderen
Widersprüche. Diese besonderen Widersprüche bilden das besondere
Wesen eines Dinges, das dieses von anderen Dingen
unterscheidet.» (I, 375) Und gerade in seinem besonderen
Charakter ruht der allgemeine Charakter des Widerspruchs: um die
revolutionäre Praxis anzuleiten, ist es nötig, «die
Besonderheit, der den vorliegenden konkreten Dingen
innewohnenden Widersprüche zu studieren.» (I, 371) «Qualitativ
verschiedene Widersprüche können nur mit qualitativ
verschiedenen Methoden gelöst werden.» (I, 377) Außerdem nehmen
die beiden Gegensätze, also die beiden Seiten eines
Widerspruchs, spezifische Charaktere an, die man aufdecken muß,
um «zum Wesen jedes einzelnen Prozesses» (I, 377) zu kommen.
Darauf werden wir in den nächsten beiden Paragraphen
zurückkommen, wenn wir vom Hauptwiderspruch und der Hauptseite
eines jeden Widerspruchs sprechen. Mao unterscheidet
verschiedene Hauptlinien zum Studium des besonderen Charakters
eines jeden Widerspruchs:
1. Der Widerspruch zwischen den
unterschiedlichen Bewegungsformen der Materie.
2. Der Unterschied zwischen den Bewegungsformen im Laufe
der unterschiedlichen Entwicklungsprozesse.
3. Die beiden Seiten des
Widerspruchs in diesem oder jenem Entwicklungsprozeß.
4. Der Widerspruch in den Entwicklungsprozessen in derer
unterschiedlichen Phasen.
5. Die beiden Seiten des Widerspruchs in den
unterschiedlichen Phasen der Entwicklung.
Der Lehre Lenins folgend, wird dieses Studium geleistet durch
die konkrete Analyse einer konkreten Situation. Wir stehen vor
der Notwendigkeit, «die konkrete Stellung der beiden Seiten
jedes Widerspruchs und die konkreten Wechselbeziehungen zwisehen
den Widersprüchen aufzufinden.» (I, 387 und der ganze Abschnitt
davor) Es kommt vor allem darauf an, die Einseitigkeit zu
bekämpfen. «Einseitigkeit ist ein Verstoß gegen die Dialektik»
(Landeskonferenz 23). Die Dialektik besteht gerade in der
Überwindung der Einseitigkeit. »Die Methode, die bei einer
Analyse angewendet werden soll, ist die dialektische Methode.
Eine Analyse bedeutet, daß die den Dingen innewohnenden
Widersprüche analysiert werden.» (s.o. S. 24) Das «Gift des
Antimarxismus», wie Mao mit einem seiner prägnanten populären
Bilder sagt, überwindend, wird man eine Entwicklung haben, «die
im Kampf der Gegensätze vor sich geht, eine der Dialektik gemäße
Entwicklung.» (s. o. S. 28/30) Diese Bemerkungen führen uns zum
Problem des Ursprungs und der Natur der Bewegung, der inneren
Aspekte eines jeden Widerspruchs und der
materialistisch-dialektischen Erkenntnistheorie.
4. Der Hauptwiderspruch
Der Ursprung der Bewegung wird, wie bereits angedeutet, in
der inneren Struktur der Dinge selbst gesucht. Also
grundsätzlich in ihrem widersprüchlichen Charakter, in dem
Widerspruch also, den sie als Dinge nicht haben können. «Die
äußeren Ursachen» werden «als Bedingungen der Veränderung und
die inneren Ursachen als deren Grundlage» betrachtet, «wobei die
äußeren Ursachen vermittels der inneren wirken.» (I, 369) Die
dialektisch-materialistische Weltanschauung vertritt die
Meinung, «daß wir beim Studium der Entwicklung der Dinge von
ihrem inneren Gehalt, von dem Zusammenhang des einen Dinges mit
anderen ausgehen sollen ... Die Grundursache der Entwicklung
eines Dinges liegt nicht außerhalb, sondern innerhalb desselben,
sie liegt in seiner inneren Widersprüchlichkeit.» (I, 367)
Man muß also in das Ding eindringen, vor dem man
steht, das man analysieren möchte. Jede Beschreibung seiner
Bewegungen von außen ist inadäquat und undialektisch. «Diese
dialektische Weltanschauung lehrt uns vor allem, die Bewegung
der Widersprüche in den verschiedenen Dingen verständnisvoll zu
beobachten und zu analysieren und auf der Grundlage dieser
Analyse die Methoden für die Lösung der Widersprüche zu
bestimmen. Daher ist das konkrete Verständnis des Gesetzes von
dem Widerspruch, der den Dingen innewohnt, für uns äußerst
wichtig.» (I, 370) Schon mit diesen Bemerkungen hat Mao jede
Form von Empirismus ab-und zurückgewiesen, ebenso jede Form
eines mechanistischen oder sonstwie vulgären Materialismus.
Betrachten wir uns einige alte im Westen verbreitete
Empfehlungen: «Ein Ding nicht als das, was es ist, verstehen»,
«die Welt der Fakten als vorgegebene zurückweisen», «nicht
glauben, daß die Dinge sich gerade so verhalten, wie wir sie
wahrnehmen in ihrer äußerlichen Bewegung»
und so weiter. Diese methodologischen Hinweise, den westlichen
Forschern wohlbekannt, werden zusammengefaßt und in
einzigartiger Weise vertieft durch das Begreifen des Dings als
einer in Begriffen des inneren Widerspruchs zu analysierenden
Totalität. So erfährt das Denken seine Macht (s. Paragraph 8):
weit davon entfernt, sich den Dingen zu ergeben, dringt es in
sie ein, um ihr inneres Gesetz zu erforschen. Andererseits ist
diese eindringende Macht des Denkens ganz materialistisch; kein
Wesen, keine nichtmaterielle Macht wird zu Hilfe gerufen; die
ganze Operation ist und bleibt typisch
dialektisch-materialistisch. «... in der Welt existiert nichts
außer der sich bewegenden Materie, und die Bewegung der Materie
muß bestimmte Formen annehmen.» (I,375)
Aber, was finden wir, wenn wir in das Innere des Dinges
eindringen, um seinen inneren Widerspruch zu studieren? Was sind
die Schritte, die für ein richtiges Vorgehen nötig sind?
Vielleicht liegt gerade in den systematischen Antworten auf
diese Fragen Mao's größter theoretisch-praktischer Beitrag zur
allgemeinen Dialektik.
«Im Entwicklungsprozeß eines komplexen Dinges gibt es eine
ganze Reihe von Widersprüchen, unter denen stets einer der
Hauptwiderspruch ist: seine Existenz und seine Entwicklung
bestimmen oder beeinflussen die Existenz und die Entwicklung der
anderen Widersprüche.» (I, 388) Man muß also den
Entwicklungsprozeß studieren, um den Hauptwiderspruch
herauszufinden. In einem gewissen Sinne ist das eine Öffnung
zur Empirie, zur Geschichte. Es gibt objektive Dinge zu
studieren. In keinem Fall wird Dialektik betrieben, indem man
eine Reihe von Triaden herauszieht, wie die Spinne ihren Faden.
«Die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis stellt stets eine
solche spiralenförmige Bewegung dar», die durch die beständige
«mühselige Forschungsarbeit an konkreten Dingen» vertieft wird
und es zurückweist, «die allgemeinen Wahrheiten als etwas vom
Himmel Gefallenes» zu betrachten. (I, 376/77) «... in jeder
Etappe eines Entwicklungsprozesses» gibt es nur «einen einzigen
Hauptwiderspruch..., der die führende Rolle spielt ...
Infolgedessen muß man sich beim Studium eines komplizierten
Prozesses, der zwei oder noch mehr Widersprüche enthält, die
größte Mühe geben, den Hauptwiderspruch herauszufinden. Sobald
dieser festgestellt ist, kann man alle Probleme leicht lösen.»
(I, 390)
5. Die Hauptseite jedes Widerspruchs
Ist in einem bestimmten Entwicklungsprozeß der
Hauptwiderspruch einmal isoliert und die Analyse auf ihn
konzentriert, besteht der nächste Schritt darin, den Widerspruch
selber in seine konstitutiven Momente zu zerlegen. Das sind die
beiden Gegensätze, die Mao im Laufe dieser Analysen «Seiten»
nennt. Jeder Widerspruch, bestehend aus zwei Gegensätzen, zeigt
zwei Seiten. Wir müssen uns also fragen: sind die beiden Seiten
eines Widerspruchs einander ähnlich? Kann man sie füreinander
gleich halten? In unmittelbar hegelianischer Sprache, oder
vielleicht auch nur gebräuchlicher im Westen, heißen die beiden
Seiten eines Widerspruchs Thesis und Antithesis.
Die soeben gestellten Fragen richten sich wieder auf die
Relationen: Ähnlichkeit, Unterschied und Wichtigkeit, die man in
jedem einzelnen Fall zwischen Thesis und Antithesis sieht. Nach
einer mechanischen Vorstellung von der Dialektik, geht man immer
notwendig von der Thesis aus, um dann zur Antithesis zu
kommen: die Antithesis ist also immer das zweite Moment der
dialektischen Triade, sie vermittelt die Thesis. Die
Antithesis bildet das Moment der Negation und der
Vermittlung. Durch diese Negation und Vermittlung der
Thesis, geleistet von der Antithesis, wird der
kontradiktorische Gegensatz zwischen Thesis und Antithesis
überwunden und so die Synthesis erreicht. Das ist die
wesentliche Struktur jeder dialektischen Triade. Die Synthesis
ist also auch - sie ist es in einem zu präzisierenden Maße und
Sinn, aber sie ist es notwendigerweise — eine Rückkehr zur
Thesis. Die ganze Triade ist in der neuen Thesis präsent,
von der aus die dialektische Bewegung wieder beginnt wie zuvor.
Mao zerstört vollkommen die Notwendigkeit dieser
theoretischen Situation. Mit ungeheuren Konsequenzen. Lesen wir
zunächst einige Abschnitte: «Die Seiten eines jeden Widerspruchs
entwickeln sich ungleichmäßig.» (I, 390). Man kann nicht «in
gleicher Weise an die beiden gegensätzlichen Seiten eines
Widerspruchs, sei es nun der Hauptwiderspruch, sei es ein
Nebenwiderspruch, herangehen ... Von den beiden Seiten des
Widerspruchs ist die eine unweigerlich die hauptsächliche, die
andere die sekundäre Seite. Die hauptsächliche Seite ist jene,
die im Widerspruch die führende Rolle spielt.» (I, 390/91) und
weiter: «...die beiden Seiten eines jeden Widerspruchs haben
wiederum jede ihre eigenen Besonderheiten und man darf an sie
ebenfalls nicht in der gleichen Weise herangehen.» (I, 379) Man
muß verstehen, «welche spezifische Position jede Seite
einnimmt,... in welchen konkreten Formen die beiden Seiten
voneinander abhängen und zueinander im Gegensatz stehen ...» (I,
379) «Nicht nur die Besonderheiten der Bewegung der Widersprüche
im gesamten Entwicklungsprozeß der Dinge — sowohl hinsichtlich
ihrer wechselseitigen Verbundenheit als auch des Zustands jeder
ihrer Seiten - müssen wir beachten; auch die einzelnen Etappen
dieses Prozesses haben ihre eigenen Besonderheiten, die wir
ebenfalls im Auge behalten müssen.» (I, 381)
Man muß also auch in die Thesis und in die Antithesis, in
jede von beiden eindringen. Außerdem gibt es zwischen den beiden
nicht mehr eine Ordnung, die in der ewigen Priorität der Thesis
vor der Antithesis bestünde (die Antithesis hat man nur als
Anti-thesis). Der Widerspruch - bereits wo immer wir ihm
begegnen, aus zwei Gegensätzen zusammengesetzt, also zwei Seiten
zeigend - wird auch selber empirisch und historisch entdeckt,
statt sofort als nichts als eine Thesis betrachtet zu werden,
der eine Antithesis gegenübersteht, die sie notwendig eingleisig
als Rückkehr zur Thesis vermitteln muß. Vielmehr wird «der
Charakter eines Dinges ... im wesentlichen durch die Hauptseite
des Widerspruchs bestimmt, die eine dominierende Stellung
einnimmt.» (I, 391) Mao faßt diese ganze Diskussion meisterhaft
in einem Absatz zusammen, den wir hier am besten ausführlich
wiedergeben:
«Wenn man beim Studium der Besonderheit des Widerspruchs
darauf verzichtet, diese beiden Verhältnisse —
Hauptwiderspruch und Nebenwiderspruch in einem Prozeß bzw.
hauptsächliche und sekundäre Seite eines Widerspruchs - zu
untersuchen, das heißt, wenn man es unterläßt, den
unterschiedlichen Charakter der beiden
Widerspruchsverhältnisse zu studieren, dann verliert man sich
in Abstraktionen und ist außerstande, konkret zu begreifen,
was mit den Widersprüchen vor sich geht; folglich ist man auch
nicht in der Lage, die richtige Methode zur Lösung der
Widersprüche zu finden. Dieser unterschiedliche oder besondere
Charakter der beiden Widerspruchsverhältnisse erklärt sich aus
der Ungleichmäßigkeit der Widerspruchskräfte. Es gibt nichts
in der Welt, das sich in absoluter Gleichmäßigkeit entwickeln
würde, und wir müssen die Theorie der gleichmäßigen
Entwicklung oder die Gleichgewichtstheorie bekämpfen. Zugleich
tritt gerade in diesen konkreten Verhältnissen der
Widersprüche sowie in den Veränderungen der hauptsächlichen
und der sekundären Seite des Widerspruchs im Laufe des
Entwicklungsprozesses die Kraft des Neuen zutage, das Alte
abzulösen. Das Studium der verschiedenen Zustände der
Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung der Widersprüche, das
Studium des Hauptwiderspruchs und der Nebenwidersprüche sowie
der hauptsächlichen und der sekundären Seite im Widerspruch
ist eine wichtige Methode, mit deren Hilfe eine revolutionäre
Partei ihre politische und militärische Strategie und Taktik
richtig festlegt; diesem Studium müssen alle Kommunisten ihre
Aufmerksamkeit zuwenden.» (I, 395)
6. Die dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie
Im zweiten Paragraph - über die dialektische Situation im
allgemeinen - haben wir unterstrichen, daß der Erkenntnisprozeß
selber dialektisch ist. Sehen wir uns jetzt Mao's Gedanken dazu
ein wenig näher an. Der Entwicklungsprozeß der Erkenntnis wird
vor allem in seinem Aufsatz «Über die
Praxis» von 1937 entwickelt. Eine gedrängte Zusammenfassung
findet sich in der kurzen Schrift: «Woher kommen die richtigen
Ideen der Menschen?» von 1963; und ein wenig finden sich in
allen veröffentlichten Schriften Beobachtungen zu diesem
Problem.
Die materialistisch-dialektische Erkenntnistheorie besteht in
der Aufteilung des Erkenntnisprozesses in 3 Stufen (oder
Schritte, Momente): Praxis Erkenntnis Praxis (I, 363). «Eine von
der Praxis losgelöste Erkenntnis kann es nicht geben.» (I, 3J4)
Diese beiden einfachen Hinweise, auf deren Entwicklungen wir
noch zurückkommen werden, müssen unser Verständnis des
Erkenntnisprozesses leiten.
1. Stufe. Am Anfang, sagt
Mao, sehen die Menschen nur die Erscheinungen der
verschiedenen Dinge, ihre einzelnen Aspekte, ihre äußeren
Beziehungen (I, 350). Empfindung in einem weiteren Sinne (das
muß man im Auge behalten, es spiegeln sich darin vielleicht
interessante Unterschiede zwischen dem Chinesischen und den
westlichen Sprachen), ist die erste Phase, sie wird «Stufe der
sinnlichen Erkenntnis, die Stufe der Empfindungen und
Eindrücke» genannt. Auf diesem Niveau findet sich eine «große
äußerliche Verbindung» zwischen den vielen Eindrücken; aber
man kann «noch keine tiefgehenden Begriffe bilden und keine
folgerichtigen (d.h. der Logik entsprechenden) Schlüsse
ziehen.» (I, 350)
2. Stufe. Die gesellschaftliche Praxis fortsetzend,
tritt in den in der vorangehenden Phase gesammelten Eindrücken
und Empfindungen an einem bestimmten Punkt «ein Umschlag (d.h.
ein Sprung) im Erkenntnisprozeß ein, und es entstehen
Begriffe» (I, 3jo). Der Begriff spiegelt nicht mehr nur die
Erscheinung der Dinge wider, sondern erfaßt ihr Wesen und ihre
inneren Verknüpfungen. Der Unterschied zwischen Begriff und
Empfindung ist ein qualitativer. Das quantitative Anhäufen von
Empfindungen und ihrer sich bildenden Verbindungen macht nach
dem Gesetz der Dialektik einer neuen Qualität Platz. So kommen
Methoden des Urteilens und Ableitens auf: «... der Mensch
(operiert) in seinem Gehirn mit Begriffen..., um Urteile zu
fällen und Schlußfolgerungen zu ziehen.» Obwohl der ganze
Erkenntnisprozeß eine Totalität bildet, von der kein Glied
isoliert verstanden werden kann, zögert Mao nicht zu erklären,
daß diese 2. Stufe die «Stufe der rationalen Erkenntnis», die
«Stufe der Begriffe, Urteile und Schlußfolgerungen eine noch
wichtigere Stufe» (I, 351) sei. Der Übergang von der
sinnlichen zur rationalen Erkenntnis wird von Mao deutlich
charakterisiert als ein Übergang von einzelnen, phänomenalen
Aspekten der Dinge, also von ihrem äußeren Zusammenhang,
zum Ganzen des Phänomens, zu seinem Wesen, d. h. zum
inneren Zusammenhang der Dinge, «zur Aufdeckung der
inneren Widersprüche der Umwelt» (I, 351). Man geht also, wie
bereits betont, «von der Oberfläche zum
Wesen». Die beiden Erkenntnisweisen, oder besser die beiden
bisher unterschiedenen Stufen der Erkenntnis, unterscheiden
sich in ihrem Charakter. Jedoch sie «vereinigen sich auf der
Grundlage der Praxis» (I, 352). Zwischen Empfindung und
rationaler Erkenntnis besteht ein Zirkel: «Unsere Praxis
beweist: Wenn wir etwas wahrgenommen haben, können wir es
nicht sofort begreifen; erst wenn wir begriffen haben, können
wir es tiefer wahrnehmen.» (I, 352)
3. Stufe. Während das Stehenbleiben auf der Ebene der
rationalen Erkenntnis, die durch die Verarbeitung der
sinnlichen gewonnen wurde, typisch ist für die bürgerliche und
vorbürgerliche Erkenntnistheorie, schließt die
Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus in einem
dritten Schritt oder Moment, in der Rückkehr zur Praxis ab:
«Wenn man über eine richtige Theorie verfügt, sie aber nur als
etwas behandelt, worüber man einmal schwatzt, um es dann in
die Schublade zu legen, was man jedoch keineswegs in die
Praxis umsetzt, dann wird diese Theorie, so gut sie auch sein
mag, bedeutungslos.» (I, 358) Die Theorie «zum Aufbewahren in
der Schublade» kann nur mit theoretischen Kriterien, die zur
inneren Logik jeder isoliert verstandenen Forschungsdisziplin
gehören, als mehr oder weniger gut beurteilt werden; aber für
den allgemeinen Gesichtspunkt, den ihrer praktischen
Anwendbarkeit nämlich, wäre das ohne jede Bedeutung. Die
richtigen Ideen kommen aus der gesellschaftlichen Praxis und
müssen in der Praxis sich beweisen. Die Praxis ist «die
Grundlage der Theorie, und die Theorie (dient) ihrerseits der
Praxis.» (I, 349/50) Will man wirkliche Einsichten,
dann muß man «am praktischen Kampf zur Veränderung der
Wirklichkeit» (I, 353) teilnehmen. Wir haben also einen
zweiten Sprung, den von der Theorie zur Praxis. Er kommt
zu dem von der Praxis zur Theorie hinzu. «Die Erkenntnis
beginnt mit der Praxis, und die theoretischen Erkenntnisse,
die man durch die Praxis erworben hat, müssen wiederum zur
Praxis zurückkehren.» (I, 358) In der Praxis der Veränderung
der Welt gibt es den «Prozeß der Überprüfung und der
Entwicklung der Theorie, eine Fortsetzung des gesamten
Erkenntnisprozesses.» (I, 359) «Durch die Praxis die Wahrheit
entdecken und in der Praxis die Wahrheit bestätigen und
weiterentwickeln ... Praxis, Erkenntnis, wieder Praxis und
wieder Erkenntnis...» (I, 363). So vertritt Mao die
historische, konkrete Einheit des Subjektiven und Objektiven,
von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und Handeln (I,
362/63).
Gesellschaftliche Praxis, aus der jede Theorie kommt und in
der jede Theorie sich zu bewähren hat, ist grundsätzlich die
Produktion, der Klassenkampf (von dem die nationale
Befreiungsbewegung ein Teil ist) und das wissenschaftliche
Experiment. Die Erkenntnis hängt vom wissenschaftlichen
Experiment, der Produktion und dem Klassenkampf ab; die
unterschiedlichen Formen des letzteren üben einen besonders
starken Einfluß auf die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis
aus (I, 348). Die Akteure des ganzen Prozesses sind die Menschen
in der gesellschaftlichen Praxis, die «gesellschaftlichen
Menschen».
So haben wir ein pragmatisches Kriterium für eine, wie wir in
Italien sagen, «historisierte» Voraussicht. In der Tat
wird die menschliche Erkenntnis «erst dann als richtig
bestätigt, wenn die Menschen im Prozeß der gesellschaftlichen
Praxis (im Prozeß der materiellen Produktion, des Klassenkampfes
und wissenschaftlicher Experimente) die von ihnen erwarteten
Ergebnisse erzielt haben.» (I, 349) Wer sich der materiellen
Produktion, dem Klassenkampf oder dem wissenschaftlichen
Experiment entzieht, oder wer das Gemeinsame dieser drei
konsumtiven Seiten der gesellschaftlichen Praxis nicht sieht und
sie voneinander trennt, verwirft die
dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie und wird damit
mehr oder weniger deutlich irgendeine vormarxistische Position
beziehen — sei es nun die eines materialistischen Rationalismus
oder eines materialistischen Empirismus, beide verstehen «den
historischen oder dialektischen Charakter der Erkenntnis» nicht.
(Dem materialistischen Empirismus kann man freilich zugestehen,
daß er «eine Seite der Wahrheit enthält». (I, 358))
Zur Auffassung der Voraussicht als eines Zirkel Praxis
Theorie Praxis kommt der dialektische Begriff der Wahrheit. «Es
gibt keine andere Methode, die Wahrheit zu überprüfen» als die
«Überprüfung der menschlichen Erkenntnis durch die Praxis»
(Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen? in 4
philosophische Monographien von Mao Tse-tung
Peking 1970 S.150).
Die Wahrheit bestätigt sich also erst mit dem zweiten Sprung im
Erkenntnisprozeß, mit dem vom Denken zur Materie. «Die Marxisten
sind der Ansicht, daß nur die gesellschaftliche Praxis der
Menschen das Kriterium für den Wahrheitsgehalt ihrer Erkenntnis
der Außenwelt ist.» (I, 349) «Ob eine Erkenntnis oder eine
Theorie der Wahrheit entspricht, wird nicht durch die subjektive
Empfindung, sondern durch die objektiven Ergebnisse der
gesellschaftlichen Praxis bestimmt.» (I, 350) Im Prozeß der
gesellschaftlichen Praxis erkennt man immer mehr die Wahrheit.
Alle Wahrheiten sind relativ, und die absolute Wahrheit, über
die man in einem bestimmten Augenblick verfügt, ist nichts als
die dialektische Summe der bisher bestätigten relativen
Wahrheiten. (I, 362) Wenn sich das Problem stellt, ob eine
theoretische Vorstellung eine objektive Grundlage hat, muß man
«die rationale Erkenntnis wieder in die gesellschaftliche Praxis
zurückführen», denn «die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit»
(I, 359). So werden alle Vorstellungen, die die Wahrheit
entweder in etwas Subjektivem, oder in der bloßen Kohärenz der
Theorien, oder in einer Adäquation von Diskurs und
ontologisch verstandener Realität sehen, zurückgewiesen. Die
Wahrheit, Frucht der Erkenntnis, entwickelt sich in der
revolutionären Umgestaltung von objektiver und subjektiver Welt
und der Beziehungen zwischen beiden (l, 363). In unseren
Erkenntnissen spiegelt sich in jedem Augenblick «jede
dialektische Bewegung in der objektiven Welt» (I, 362), d. h.
der Welt, die wir durch Produktion und Klassenkampf aufbauen.
Warum sind wir denn Marxisten?, fragt sich Mao. Weil die
Theorien des Marxismus sich in unserer Praxis als richtig
erwiesen haben. Der Marxismus konnte nur in einer
kapitalistischen Gesellschaft hervorgebracht werden, er dient
zur Unterrichtung des Proletariats (I, 352). Er entwickelt sich
im Kampf gegen die bürgerliche Ideologie und kann sich nur im
Kampf weiterentwickeln (Landeskonferenz 29/ 30). Seine beiden
Haupteigenschaften sind eben: i. sein Klassencharakter,
er steht im Dienste des Proletariats; 2. sein praktischer
Charakter, die von ihm behauptete Abhängigkeit der Theorie
von der Praxis (I, 349/50). Der Marxismus hat gewiß die Wahrheit
nicht erschöpft, im Gegenteil, er «bahnt der Erkenntnis der
Wahrheit in der Praxis ununterbrochen neue Wege.» (I, 362) Es
ist Aufgabe eines jeden Revolutionärs, den Marxismus so zu
verbreiten, «daß die Menschen den Marxismus gern akzeptieren»
(Landeskonferenz 7). Diese Verbreitung darf jedoch niemals auf
gezwungen sein: «Wir dürfen die Menschen nicht zwingen, den
Marxismus anzunehmen, sondern müssen sie überzeugen».
(Landeskonferenz 7) Die vom Marxismus erreichten und vertretenen
Wahrheiten müssen immer Resultate der Diskussion
unterschiedlicher Meinungen sein; «Die Wahrheit erwächst aus dem
Kampf gegen den Irrtum. Eben auf diese Weise entwickelt sich der
Marxismus.» (Landeskonferenz 30) Von einem allgemeinen
Gesichtspunkt aus kann man sagen, daß alle Theorien sich erst in
einer von ihnen nicht eingestandenen Praxis verifizieren. Die
bürgerlichen, oder allgemein die vormarxistischen
Erkenntnistheorien haben sich in einer Praxis der Ausbeutung
verifiziert; sie entsprechen der Klassenspaltung der
Gesellschaft. Nur bleibt ihre Beziehung zur Praxis
uneingestanden oder bewußt verschleiert. Mit dem Stehenbleiben
auf der zweiten Stufe der Erkenntnis, stellen sie sich objektiv
in den Dienst der herrschenden Klasse. Wird die Beziehung zur
Praxis offengelegt und der allgemeine Wert jeder Theorie, die
sich nicht in der Praxis bestätigt, negiert, so bedeutet das den
Bruch mit den Mystifizierungen bürgerlicher Erkenntnistheorien
und das Behaupten einer marxistischen Erkenntnistheorie, einer
dialektisch-materialistischen, proletarischen: diese stellt sich
objektiv in den Dienst der Ausgebeuteten der ganzen Welt. «Die
Wahrheit ist auf unserer Seite», sagt Mao, und ebenso die Massen
(Landeskonferenz 18).
Zu behaupten, daß die Theorie allein ausreiche, um die
Wahrheit zu erreichen, heißt, reale Dinge als gegeben und
unveränderlich akzeptieren. An ihnen kann die Theorie gemessen
werden. In Wirklichkeit aber ist die ganze Realität vom Menschen
«produziert» im Sinne, daß sie vom Menschen immer nach seinen
Interessen interpretiert wurde, die immer Klasseninteressen
waren. In diesem Sinne sagt Mao:
"...der gesellschaftliche Mensch
nimmt an allen Bereichen des praktischen Lebens der
Gesellschaft teil. Darum erfaßt der Mensch in seiner
Erkenntnis in unterschiedlichem Maße die verschiedenartigen
Beziehungen zwischen den Menschen nicht nur im materiellen,
sondern auch im politischen und kulturellen Leben (das eng mit
dem materiellen Leben verbunden ist). Unter diesen Formen der
gesellschaftlichen Praxis übt vor allem der Klassenkampf in
seinen verschiedensten Formen einen tiefwirkenden Einfluß auf
die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis aus. In der
Klassengesellschaft lebt jeder Mensch in einer bestimmten
Klassenlage, und es gibt keine Ideen, die nicht den Stempel
einer Klasse trügen.» (I, 348)
7. Die Dialektik von Empirismus und Idealismus
Das Gegenteil der Dialektik ist die Einseitigkeit
(Landeskonferenz 22). «Einseitigkeit heißt gedankliche
Verabsolutierung, heißt an die Fragen metaphysisch herangehen.»
(s.o. S. 20/21) Der richtige Standpunkt, begründet durch die
Dialektik, besteht darin, einige Sachen für richtig oder für
schlecht zu halten, nicht darin, alles für richtig oder schlecht
zu halten (s. o. S. 17). Der Marxismus wird elastisch und in
alle Richtungen angewandt. Z.B. zwischen Basis und Überbau gibt
es einen Zirkel, und wir müssen «anerkennen, daß das Geistige
auf das Materielle, das gesellschaftliche Bewußtsein auf das
gesellschaftliche Sein, der Überbau auf die Basis zurückwirkt.»
(I, 395) Die Beziehung nur in einer Richtung von Basis zu
Überbau zu sehen - ist mechanischer Materialismus; dagegen an
dem Zirkel von Überbau und Basis festhalten - daran festhalten,
obwohl man sich klar darüber ist, daß die Hauptsache die
ökonomische Basis, die Praxis, die Produktivkräfte sind, - das
ist dialektischer Materialismus.
Diese Überlegungen führen auf die mittlere Position
der Dialektik zwischen zwei entgegengesetzten Fehlern, die darin
bestehen, einseitig diese oder jene Seite der Totalität zu
akzentuieren, die doch adäquat nur konstituiert und
repräsentiert wird von der Dialektik selber. Zuerst wäre der
falsche Gegensatz von Idealismus und Empirismus zu prüfen. Ein
Idealist ist im Grunde, «wer der Meinung ist, die rationale
Erkenntnis brauche nicht aus der sinnlichen Erkenntnis zu
entspringen.» (I, 356) Hier haben wir den rationalistischen
Glauben an etwas «nur subjektiv Entstandenes», der ausgeht von
den sogenannten «Vernunftdaten», die von ihrem
Ursprung, der immer in einer sinnlichen Erkenntnis
besteht (I, 356), getrennt werden. Idealismus und Empirismus
bestehen in einer Trennung von Subjektivem und Objektivem
zugunsten des Erste-ren: die Erkenntnis trennt sich von der
Praxis und gewinnt die Oberhand; das rationale Moment der
Erkenntnis wird dem sinnlichen, sei es genetisch oder dem Werte
nach vorangestellt. (I, 362) Der entgegengesetzte Fehler ist der
des Empirismus, bei dem die Trennung zwischen Subjektivem und
Objektivem zugunsten des zweiten sich auflöst: die Praxis
gewinnt Oberhand über die Erkenntnis, und das sinnliche Moment
der Erkenntnis wird dem rationalen an Bedeutung vorangestellt.
Kurz gesagt, mit dem Empirismus bleibt die Erkenntnis in der
frühen Phase der sinnlichen Erkenntnis stehen.
«Der Fehler dieser Theorie liegt in der mangelnden
Kenntnis dessen, daß die Sinnesangaben zwar eine
Widerspiegelung gewisser Realitäten der objektiven Außenwelt,
jedoch nur etwas Einseitiges und Oberflächliches sind; eine
solche Widerspiegelung ist unvollständig, ist keine
Widerspiegelung des Wesens der Dinge. Zur vollständigen
Widerspiegelung des Dinges in seiner Totalität, zur
Widerspiegelung seines Wesens und seiner inneren
Gesetzmäßigkeiten muß man durch den Denkprozeß mannigfaltige
Sinnesangaben verarbeiten, d. h. die Spreu vom Weizen sondern,
das Falsche ausmerzen und das Wahre behalten, vom einen zum
anderen fortschreiten, von der Oberfläche in den Kern
eindringen und dadurch ein System von Begriffen und Theorien
schaffen — muß man den Sprung von der sinnlichen Erkenntnis
zur rationalen Erkenntnis tun.» (I, 357)
Ein Spezialfall des Empirismus ist der idealistische
Empirismus, der die Erkenntnis auf die sogenannte «innere
Selbstbetrachtung» (I, 357) zurückführt. Die Daten, von denen
man ausgeht und bei denen man bleibt, sind also die der
individuellen Erkenntnis. So entstehen unterschiedliche Formen
des Sollipsismus, oder des extremen erkenntnistheoretischen
Individualismus. Es handelt sich immer noch um Empirismus, aber
um einen Fehler vermehrt.
Der Idealismus manifestiert sich als linkes Abenteuertum
und Dogmatismus; der Empirismus als rechter
Opportunismus und vulgärer Praktizismus. In all
diesen Fällen wird dialektisches Herangehen durch ein
einseitiges ersetzt, das ungebührend nur einen Aspekt der
Totalität der Erkenntnis - Praxis Erkenntnis Praxis -
herausgreift. Hier haben wir ein Verkümmern der Dialektik, bei
dem das einseitig bevorzugte Stück immer wiederholt wird, ohne
daß man zu anderen Momenten übergehen kann. Ein Teil wird
dargestellt und herausgearbeitet statt des Ganzen, zu dem er
gehört. Die Bewegung erscheint unterbrochen.
Das linke Abenteuertum hat Ideen, die von der gegenwärtigen
Praxis der Mehrzahl der Menschen getrennt
sind; sie überschreiten die bestimmte Phase der Entwicklung des
objektiven Prozesses. So werden dann Illusionen für die Wahrheit
genommen, oder man versucht mit aller Gewalt «verfrüht in der
Gegenwart Ideale zu verwirklichen, die erst in der Zukunft
verwirklicht werden können». (I, 362) Eine besondere
Erscheinungsform des Subjektivismus als Verachtung der Praxis,
die zum linken Abenteuertum gehört, ist der Dogmatismus, der
darin besteht, «den Marxismus von einem metaphysischen
Standpunkt aus (zu) behandeln, ihn als etwas Starres und
Lebloses (zu) betrachten» (Landeskonferenz 33).
Das Gegenteil des Dogmatismus ist der vulgäre Praktizismus,
von dessen Befürwortern schreibt Mao: «Sie schätzen die
Erfahrung hoch, achten aber die Theorie gering, infolgedessen
können sie keine Übersicht über den objektiven Prozeß in seiner
Gesamtheit gewinnen, fehlt ihnen die klare Orientierung.» (I,
3J7) Das Gegenteil des linken Aben-teuertums ist der
Rechtsopportunismus. Er zeigt sich, wenn die Ideen nicht dem
Rhythmus der Veränderungen der objektiven Situation entsprechen;
da also, wo nicht gesehen wird, «daß der Kampf der Widersprüche
den objektiven Prozeß schon vorangetrieben hat, während ihre
Erkenntnis noch auf der früheren Stufe verharrt» (I, 361). «Ihr
Denken ist von der gesellschaftlichen Praxis losgelöst» (I,
361). Der mechanistische Materialismus zeigt in dem, was ihn vom
dialektischen Materialismus unterscheidet, besonders gut die
Situation des Rechtsopportunismus und des vulgären Praktizismus.
Eng mit diesen beiden Fehlern im Denken, die gleichzeitig auch
Fehler in der Praxis sind, sind Metaphysik und Revisionismus
verbunden. Sehen wir uns an, was Mao darüber vom Gesichtspunkt
der Dialektik aus sagt.
Die Metaphysik hat immer in der Geschichte geherrscht, in
China wie in Europa, aus dem einfa-dien Grund, weil es sich um
ein Herrschaftsinstrument der herrschenden Klassen handelt. Als
jedoch die materialistisch-dialektische Weltanschauung entstand,
bildete sich gegen den dialektischen Materialismus, neben der
Metaphysik und dem reaktionären Idealismus, ein vulgärer
Evolutionismus. Vom Standpunkt des dialektischen
Materialismus aus gilt gegen den vulgären Evolutionismus das
gleiche, was gegen die traditionelle Metaphysik gesagt wurde.
Tatsächlich schreibt Mao:
«Die Weltanschauung der Metaphysik oder des vulgären
Evolutionismus betrachtet alle Dinge in der Welt isoliert,
statisch und einseitig. Alle Dinge in der Welt, ihre Formen
und ihre Gattungen wären demnach ewig voneinander isoliert,
ewig unveränderlich. Insofern von Veränderungen die Rede ist,
dann nur von quantitativer Zunahme oder Abnahme und von
Ortsveränderung. Dabei sollen die Ursachen einer solchen
Zunahme oder Abnahme bzw. einer solchen Ortsveränderung nicht
in den Dingen selbst liegen, sondern außerhalb ihrer, das
heißt in der Einwirkung äußerer Kräfte.
Die Metaphysiker vertreten die Auffassung, daß die
verschiedenen Dinge in der Welt sowie ihre Eigenschaften vom
Beginn ihres Seins an unverändert blieben, ihre späteren
Veränderungen bloß quantitative Vergrößerungen oder
Verkleinerungen seien. Die Metaphysiker sind der Ansicht, daß
ein Ding nur ewig sich selbst reproduzieren, sich aber nicht
in ein anderes, von ihm unterschiedliches Ding verwandeln
könne. Die Metaphysiker glauben, daß die kapitalistische
Ausbeutung, die kapitalistische Konkurrenz, die
individualistische Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft
usw. - daß das alles auch in der antiken
Sklavenhaltergesellschaft, ja sogar in der Urgesellschaft
anzutreffen sei, daß es ewig unverändert existieren werde. Was
die Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung betrifft, so
erklären die Metaphysiker sie aus Bedingungen, die außerhalb
der Gesellschaft liegen - aus dem geographischen Milieu, dem
Klima usw. Die Metaphysiker versuchen einfach, außerhalb der
Dinge die Ursachen ihrer Entwicklung zu finden, und bestreiten
die These der materialistischen Dialektik, wonach die
Entwicklung der Dinge durch die ihnen innewohnenden
Widersprüche hervorgerufen wird. Daher sind sie nicht in der
Lage, die qualitative Vielfalt der Dinge und das Umschlagen
einer Qualität in eine andere zu erklären.» (I, 366/67)
Diese Diagnose Maos trifft exakt einen großen Teil der
derzeitigen intellektuellen Produktion in Europa und
Nordamerika, die im Dienst der herrschenden Klasse steht,
manchmal mit ein wenig Marxismus übertüncht. Man denke z. B. an
den Biologismus und an Theorien des Angeborenseins in
Psychologie und Sprachwissenschaft, an den adialektischen
Charakter eines großen Teils der Soziologie, an neuere, auch
italienische, Wiederaufnahmen des mechanistischen Materialismus.
Sie behaupten eine Unveränderbarkeit der biologischen Natur des
Menschen und eine einseitige Wirkung der biologischen Struktur
auf das Verhalten.
«Die Einheit oder Identität der gegensätzlichen Seiten in
einem objektiv existierenden Ding ist niemals tot erstarrt,
sondern lebendig, bedingt, beweglich, zeitweilig, relativ; alle
Gegensätze verwandeln sich unter bestimmten Bedingungen in ihr
Gegenteil; und die Widerspiegelung dieser Sachlage im
menschlichen Denken stellt die marxistische
dialektisch-materialistische Weltanschauung dar. Nur die
reaktionären herrschenden Klassen der Gegenwart und
Vergangenheit sowie die ihnen dienstbare Metaphysik betrachten
die Gegensätze nicht als lebendig, bedingt, beweglich, sich
ineinander verwandelnd, sondern als tot, erstarrt; sie
propagieren allenthalben diese falsche Auffassung, um die
Volksmassen irrezuführen und die eigene Herrschaft weiter
aufrechtzuerhalten.» (I, 399)
Werden Metaphysik und Einseitigkeit wiederaufgegriffen in
einer marxistisch gefärbten oder marxistisch gewesenen Umgebung,
um eines adialektischen Kompromisses
zwischen Marxismus und Kapitalismus oder um konterrevolutionärer
Zurückbildung willen, dann haben wir die typische Situation des
Revisionismus. Vom philosophischen Gesichtspunkt aus ist
also der Revisionismus ein Verkümmern der Dialektik. Er ist es
in anderem Sinne als der Dogmatismus: der Revisionismus ist eine
Verkümmerung empiristischer Art, die im Rechtsopportunismus und
vulgärem Praktizismus endet. In Wahrheit negiert er die
Grundprinzipien des Marxismus, er ist soweit eine bürgerliche
Weltanschauung.
«Die Revisionisten verwischen den Unterschied zwischen dem
Sozialismus und dem Kapitalismus, den Unterschied zwischen der
proletarischen und der bürgerlichen Diktatur. Das, wofür sie
eintreten, ist in Wirklichkeit nicht die sozialistische Linie,
sondern eine kapitalistische. Unter den gegenwärtigen
Verhältnissen ist der Revisionismus noch schädlicher als der
Dogmatismus.» (Landeskonferenz 33/ 34)
8. Die Macht des Denkens
Wie wir schon gegen Ende des 2. Paragraphen betonten, werden
alle Schriften Maos durchzogen von immer wiederkehrenden
Unterstreichungen der Bedeutung der wissenschaftlichen
Erkenntnis, der theoretischen Arbeit, des Studiums, der Kultur,
der unermüdlichen Anstrengung, die nötig ist, um die Dialektik
zu meistern, um ein guter Marxist zu sein, der intellektuellen
Schulung im allgemeinen, der Kaderbildung, der ideologischen
Entmystifizierung und des Neuaufbaus, von Schulung und
Unterricht, des Arbeitsstils in der Partei und seiner
Ausrichtung, der Freiheit der Einzelnen, die durch Diskussion
überzeugt und nicht mit Gewalt gezwungen werden. So sagt z.B.
Mao: «Dieser Prozeß, die Praxis der Umgestaltung der Welt, - ein
Prozeß, der durch die wissenschaftliche Erkenntnis determiniert
ist -» (I, 363). Wir arbeiten für ein hohes Kulturniveau
(Landeskonferenz 19). Und die Kultur wird gerade durch die
demokratische Diktatur eine schnellere Entwicklung haben (s. o.
S. 19). Wendet man die Linie «blühenlassen» — statt «drosseln» —
an, dann weil «sie dazu beiträgt, daß unser Staat sich festigt
und das Kulturleben sich entfaltet.» (s.o. S. 27) Die
Intellektuellen, ideologisch umerzogen, verbinden sich mit den
Massen und entwickeln eine «gemeine Sprache» (s.o. S. 15). «Das
Intellektuellenproblem ist vor allem ein Problem der Ideologie,
es ist nur von Schaden, wenn man in bezug auf ideologische
Fragen zu groben Mitteln greift und Zwangsmaßnahmen trifft.» (s.
o. S. 28) «Wir müssen die Menschen nicht zwingen, den Marxismus
anzunehmen, sondern müssen sie überzeugen,» (s. o. S. 7) und
«man kann andere nur durch Argumente überzeugen, nicht durch
Zwang.» (s. o. S. 28) «Was ist nun, wenn man nicht
zu überzeugen versteht? Man lernt es. Wir müssen es
erlernen, durch Debatte und Argumentation falsche Ansichten zu
überwinden» (s. o. S. 29). «Der erste Sekretär jedes
Parteikomitees muß sich persönlich mit den ideologischen Fragen
beschäftigen; erst wenn man diesen Fragen Aufmerksamkeit
zugewendet und sie studiert hat, wird man sie richtig lösen
können.» (s. o. S. 35) «Die Aufgabe der Kommunisten besteht
darin, die falschen Auffassungen der Reaktionäre und
Metaphysiker zu entlarven, die den Dingen innewohnende Dialektik
zu propagieren, die Verwandlung der Dinge zu fördern und so die
Ziele der Revolution zu erreichen.» (I, 399) Wir müssen uns an
Marx ein Beispiel nehmen, das «des vollkommensten
Intellektuellen, aus dem die höchste Weisheit der Menschheit
sprach.» (III, 41). Aber dafür muß zunächst «Allgemeinbildung»
erworben werden. «Andernfalls werden sie sich die Theorie des
Marxismus-Leninismus nicht aneignen können.» (III, 42) Und wenn
jemand fragen wird: «Ist denn das Kapital nicht sehr
lang? Was soll man denn nun damit anfangen?», so muß man ihm
antworten: «Sehr einfach: es weiterlesen.» (III, 59). Es gibt
also praktisch keine Seite, auf der Mao nicht lehrt, richtig
zu denken und das eigene Bewußtsein zu bilden im Sinne
intellektueller Bewußtheit (auch im moralischen Sinne: «Durch
ihre Unehrlichkeit kommen diese Menschen selbst zu schaden. Ich
denke, wir müssen diese Dinge ehrlich anpacken; denn ohne eine
ehrliche Einstellung ist es absolut unmöglich, irgend etwas auf
der Welt zustandezubringen.» (III, 46))
Wir fassen alle eben ins Gedächtnis zurückgerufenen Aspekte
des Mao Tse-tung Denkens im Begriff der
«Macht des Denkens» zusammen. Das ist vielleicht die Seite, der
bis heute in Europa am wenigsten gefolgt, die kaum beachtet
wurde, so sehr wurde sie anderen Aspekten gegenüber
unterbewertet. Das ist ein Fehler, der jedem sofort in die Augen
springt, der die Schriften Mao Tse-tungs mit objektivem Blick
liest, um sie als Ganzes zu begreifen und nicht nur auf der
Suche nach der Bestätigung für einzelne, isolierte Thesen ist.
Oder auch schon, wer nur viele - lange und nicht nur
kurze Aufsätze - liest und überdenkt, so daß er nicht einige
Erklärungen mit Aufforderungscharakter oder allgemein
programmatischem aus dem Zusammenhang kultureller, theoretischer
wie praktischer Beziehungen, in den sie gehören, löst. Dieser
Fehler ist typisch europäisch. Seine Wurzeln sind in unserer
objektiven Situation zu suchen, in einer Gesellschaft des
fortgeschrittenen Kapitalismus und einer sich auflösenden
Bourgeoisie, durchdrängt von allen Spielarten versteckter und
offener bürgerlicher Mystifikation, (in Italien) beherrscht vom
Monolith der größten offiziellen KP des Westens und daher auch
der stärksten und deutlichsten Anstrengung des Revisionismus im
Westen. Wir Europäer sind Erben einer hochintellektuellen
Kultur, die als solche nicht nur Klassenkultur, sondern sogar
Kastenkultur ist. Sie fährt in
erschreckendem Maße fort, nicht nur die Kultur im allgemeinen zu
beherrschen, sondern gerade den Unterricht bis auf seine
elementarsten Ebenen, sowie die Massenkommunikationsmittel. Wir
haben von der Praxis getrennte Wissenschaften begründet und
pflegen sie weiter. Auch auf der Ebene der kollektiven
Überzeugungen fahren wir fort, an das Bestehen nicht
dialektischer Wahrheiten zu glauben. Dieser Situation bürgerlich
kastenmäßig intellektualistischer Vorherrschaft gegenüber, ist
es das beiläufige Verdienst einer ganzen Generation junger, vom
Mao Tse-tungdenken Inspirierter, sie ungewollt und
indirekt zu einer Unterbewertung dessen verwendet zu haben, was
in seinen Schriften sich auf die «Macht des Denkens» bezieht, um
in einer historisch genau gezielten Polemik, auf andere Seiten
seiner Lehre den Akzent zu setzen: von der Praxis ausgehen
wieder zur Praxis gehen, das dauernde Sich-beziehen auf die
Massen, um von ihnen zu lernen, das «Dem Volke dienen» usw. Auch
der Verfasser dieser Anmerkungen ist der Auffassung, daß diese
Seiten des Mao Tse-tung
Denkens nicht nur untrennbar, nicht nur fundamental,
sondern auch die wichtigsten sind. Von ihnen ist auszugehen.
Eine Wissenschaft und ein Denken, das von der Praxis getrennt
ist, gibt es nicht und darf es nicht geben; eine Theorie, die
sich nicht anwendet, ist sinnlos; wer nicht zum Wohle der Massen
des ganzen Planeten handelt, sich so in ihren Dienst stellt, ist
ein ausgemachter Bürger oder ein Revisionist. Über diese
grundlegenden Vorstellungen müßte als Ausgangspunkt vollkommene
Einigkeit bestehen. Jedoch wollen wir nicht (a) gerade dem Mao
Tse-tung Denken gegenüber einen der
Fehler der Einseitigkeit begehen, auf die Mao immer wieder
unsere Aufmerksamkeit richtet und (b) aus der Sicht verlieren
die ungeheure Kompliziertheit der Vermittlungen, durch die man
hindurch muß, wenn man das Programm der proletarischen
Revolution in Europa heute aufstellen will, dann ist es
unumgänglich, ebensoviel Aufmerksamkeit auf all die Seiten der
gesellschaftlichen Praxis zu lenken, die weiter oben in dem
Begriff der «Macht des Denkens» zusammengefaßt wurden. Abgesehen
davon, daß ein maoistisch inspirierter Marxismus, der sich mit
dem nötigen Einsatz auch der Macht des Denkens zuwendet,
von Anfang an, allen Assoziationen - sie sind ebenso vulgär wie
häufig - von Maoismus und Linksabenteuertum oder bloßem «Agitatorentum»
oder «Volkstümlerei» sich entzieht, scheinen die Zeiten reif zu
sein, um in Europa und in Italien die ganze Lehre Mao
Tse-tungs, und nicht nur seine allgemeinsten Empfehlungen, so
wichtig sie auch sein mögen, sich anzueignen. Niemand kann
glauben, daß die Wiederholung einiger Parolen, auch wenn
subjektiv noch so begeistert und objektiv reale Aktionen
bewirkend, die nötige Anstrengung des Denkens, die zur Erlernung
der Lehren Mao Tse-tungs notwendig ist, ersetzen kann — um von
der weiteren Anstrengung, der schöpferischen Anwendung dieser
Lehre auf unsere Situation gar nicht erst zu sprechen. Nicht
umsonst pflegen die chinesischen Genossen selbst den
revolutionären Kern und Träger ihrer großartigen
gesellschaftlichen Praxis Mao Tse-tung si-xiang, «Mao
Tse-tung-Denken» zu nennen.
Wie wir im Laufe dieser kurzen Darstellung gesehen haben, ist
der Maosche Beitrag zur Dialektik, wie jeder dialektische
Diskurs, nicht leicht verständlich. Und doch erreichen die Texte
Mao Tse-tungs den höchstmöglichen Grad der Vereinfachung
angesichts der objektiven Kompliziertheit der dialektischen
Prozesse. Sie wählen immer genial die wesentlichen Linien der
behandelten Probleme und machen sie einer Vielzahl von Lesern,
in China oder sonst in der Welt, verständlich - verständlich,
wenn die einzige Bedingung: das Aufbringen der notwendigen
Anstrengung, erfüllt ist. Im Laufe dieses wunderbaren Prozesses
der Vereinfachung und der universalen Kommunikation zeigt Mao
durch sein eigenes Beispiel den Fehler und die Gefahr jedes
praktizistischen Verständnisses, nach dem die Theorie ein für
allemal von Marx, Engels und Lenin gemacht wurde, und uns nur
übrigbleibt, sie anzuwenden. Ganz im Gegenteil zeigt Mao, wie
auch die Theorie und das Denken einen dauernden
Veränderungsprozeß durchmachen müssen, um sich den immer
wechselnden Situationen anpassen zu können, mit dem Ziel, so auf
sie einzuwirken, daß erfolgreich der Kommunismus auf planetarer
Ebene errichtet werden kann. Denken ist ein unabtrennbares Stück
der gesellschaftlichen Praxis und somit der Realität.