Friedrich II. regierte von 1740 bis
1786. Sein aufgeklärter Despotismus gilt als die höchste Form
des modernen Absolutismus, und zwar in beiderlei Sinn des
Wortes: sowohl nach der Unbeschränktheit der fürstlichen Macht
hin, als auch nach der Verwendung dieser Macht für die Wohlfahrt
des Volkes. Die eine wie die andere Behauptung bedarf aber der
Einschränkung durch den Satz: innerhalb der Grenzen, die durch
die ökonomischen Grundlagen dieses Despotismus gegeben waren.
Die preußen-freundlichen Mythologen täten
nachgerade wohl daran, sich endlich zu dieser wissenschaftlichen
Auffassung zu bekehren, denn in dem holden Streite mit ihren
preußenfeindlichen Gegenfüßlern müssen sie hundert Niederlagen
gegen einen Sieg davontragen, wenn auf Grund der Einbildung
gekämpft wird, daß die Macht Friedrichs unbeschränkt und daß es
seine Pflicht gewesen sei, diese Macht im Interesse der
Volksmasse zu handhaben. Es ist richtig: die Schranken des
Despotismus, die beispielsweise in Frankreich und Österreich
durch den Hof und die Kirche errichtet waren, bestanden für
Friedrich nicht. Aber um so fester steckte er in dem eisernen
Hemde des auf feudaler Grundlage erwachsenen Militarismus. Sein
beweglicher und lebendiger, obschon etwas flacher Geist war für
literarische und philosophische Arbeiten wie geschaffen;
Friedrich artete mehr nach der Mutter als nach dem Vater, war
mehr Welfe als Hohenzoller, wie denn
namentlich in seinen jungen Jahren die fremden Gesandten den
„hannoverschen Typus" an ihm hervorheben. Unter den Welfen
waren aber literarische Neigungen schon seit dem Mittelalter
erblich; am Hofe Heinrichs des Löwen dichteten Vorläufer der
höfischen, mittelalterlichen Poesie; Herzog Heinrich Julius von
Braunschweig, der Zeitgenosse Shakespeares, hielt an seinem Hofe
eine Truppe englischer Schauspieler und schrieb selbst
Theaterstücke; Herzog August gründete die Wolfenbütteler
Bibliothek; Herzog Anton Ulrich dichtete Kirchenlieder und
Romane; dann lebte Leibniz im Schütze des Welfenhauses,
und Friedrichs Großmutter, die Königin Sophie Charlotte, im
Guten und Schlimmen eine echte Welfin, zog ihn vorübergehend
auch nach Berlin. Im Vorbeigehen lohnt es sich auch vielleicht
zu bemerken, daß sich unter Friedrichs Urgroßmüttern ein
französisches Edelfräulein befand, Eleonore d'
Olbreuze, die Gemahlin eines welfischen
Herzogs, die einige Tropfen frischen und munteren Blutes in das
alte Geschlecht gesprengt hatte. Der
schier unnatürliche Haß, mit dem Friedrich und seih Vater
einander betrachteten, ein Haß, der sich dann zwischen Friedrich
und seinem durchaus nach dem Vater artenden Bruder August
Wilhelm, dem Stammvater der späteren Könige, wiederholte, und
hier in dem Tode des Bruders tragisch endete, wie dort in der
Enthauptung von Friedrichs Freunde Katt, läßt sich kaum anders
als auf physiologische Ursachen zurückführen, so wenig damit auf
den verleumderischen Hofklatsch über Friedrichs Mutter, dem
selbst sein Vater zeitweise zugänglich war, irgend angespielt
werden soll. Die wiederholten Heiraten zwischen Hohen-zollern
und Welfen ließen nur Friedrich, wie seine Schwester Wilhelmine
und seinen Bruder Heinrich, stark auf den welfischen Typus
zurückschlagen. Friedrichs Ehrgeiz strebte in erster Reihe nach
dem Lorbeer des Dichters lind Schriftstellers; als Mensch hat er
sein ganzes Leben danach gerungen; lieber wollte er Racines
Athalie gedichtet, als den Siebenjährigen Krieg geführt haben.
Aber als König war er sich auch sein ganzes Leben darüber klar,
unter welchen Bedingungen er überhaupt nur regieren könne. So
führte er jenes Doppelleben, das einen
manchmal schier unglaublichen Widerspruch zwischen seinen Taten
und seinen Worten aufweist, das ihm so oft den scheinbar im
widerleglichen Vorwurf der Heuchelei eingetragen hat und
das von seinen Bewunderern nicht minder oft durch die
unwürdigsten Sophismen erläutert worden ist. Und doch hat
Lessing schon den Sinn dieses Lebens treffend gezeichnet in den
von Herrn Erich Schmidt und anderen für byzantinische Zwecke
mißbrauchten Worten: „Wenn ich mich recht untersuche, so beneide
ich alle itzt regierenden Könige in Europa, den einzigen König
von Preußen ausgenommen, der es einzig mit der Tat beweist,
Königswürde sei eine glorreiche Sklaverei." In der Tat erkannte
Friedrich von Anfang an, daß gemäß der preußischen Verfassung
jeder preußische König unweigerlich den alten Kurs zu segeln
hat, und darin, daß er auch nicht einmal versuchte, wider den
Stachel zu lecken, obgleich ihm nach Anlagen und Neigungen eine
solche Versuchung unter allen preußischen Königen weitaus am
nächsten lag, wurzelt sein Anspruch auf historische Bedeutung
oder — wenn denn einmal das Wort gebraucht werden soll — auf
historische Größe.
Aber eben weil dazu ein nicht
gewöhnlicher Charakter und ein nicht gewöhnlicher Geist
gehörten, liegt es von vornherein auf der Hand, daß jene
„Reformen Friedrichs im Innern", von denen Lassalle spricht,
niemals bestanden haben und niemals auch nur geplant worden
sind. Friedrichs Thronbesteigung wurde ein Tag der
Enttäuschungen, wie einer^ der schmerzlich Enttäuschten selber
schrieb. Der von seinem Vater so arg mißhandelte „Querpfeifer
und Poet", der seine Uniform einen „Sterbekittel" genannt hatte,
erließ das kurze und bündige Regierungsprogramm: Alles bleibt
auf dem Fuße, auf dem mein Vater es eingerichtet hat; nur das
Heer will ich um soundso viel Bataillone
und Schwadronen vermehren. Die Mittel dazu gewann Friedrich
zunächst durch die Auflösung des Riesenregiments, das sein Vater
in einer närrischen Liebhaberei aus menschlichen, durch
greuliche Gewalttaten und um wahnsinnige Summen aus allen Enden
der Welt herbeigeschafften Kolossen zusammengesetzt hatte. Sonst
änderte Friedrich aber nichts oder doch nichts Wesentliches an
den Einrichtungen Friedrich Wilhelms I.,
weil er trotz aller philosophischen und poetischen Schwärmerei
und trotz des schroffsten persönlichen Gegensatzes zu seinem
Vater sehr wohl wußte, daß er nichts daran ändern konnte, daß
der preußische Staat so bestehen mußte, wie er bestand, oder
überhaupt nicht bestehen konnte.Eine einzige wichtige
Änderung scheint Friedrich nun aber doch an dem bisherigen
Regierungssystem vorgenommen zu haben, nämlich die schon
erwähnte Steigerung der fürstlichen Machtvollkommenheit, die in
dem geflügelten Worte von dem Fürsten als dem ersten Diener des
Staates ihren ideologischen Ausdruck gefunden hat. Da hat
anscheinend doch der überlegene Wille eines kräftigen Herrschers
einen tiefen Schnitt in die auf ökonomischen Grundlagen
beruhende Verfassung des Staates getan. Allein dieser Schein
trügt vollständig. Es vollzog sich hier ein ähnlicher Prozeß,
wie hundert Jahre vorher unter Friedrichs Urgroßvater. Damals
verzichteten die Junker scheinbar auf ihre politischen
Vorrechte, indem sie die Errichtung des fürstlichen Absolutismus
durch das stehende Heer und die ständige Steuer zugaben, aber
was sie in ihren verfallenen Ständetagen preisgegeben hatten,
gewannen sie zehnfach durch die ökonomischen, sozialen und
militärischen Vorrechte wieder, die ihnen der Absolutismus
einräumen mußte, ehe sie ihm ihren Segen gaben. In ganz
ähnlicher Weise regierte Friedrich II. mit einigen subalternen
Schreibern aus seinem Kabinett den Staat, während tatsächlich
unter seiner Regierung jenes Adelsregiment aufwucherte, das bei
Jena ein schmachvolles, aber hundertfach verdientes, wenn auch
leider noch immer nicht endgültig besiegeltes Schicksal ereilt
hat.
Die ideologische Geschichtsschreibung ist bisher unfähig
gewesen, die Aufklärung des
friderizianischen Despotismus zu analysieren; sie hat nur
verstanden, mit preisenden oder scheltenden, mit
schmeichelnden oder schimpfenden, aber
stets ganz allgemeinen und leeren Redensarten darüber
hinwegzutappen. Aber von der materialistischen
Geschichtsauffassung wissen wir, daß die
„Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte
von Klassenkämpfen(1)"
ist. Das hatte Friedrich Wilhelm I. in seiner Weise
ganz gut begriffen, Friedrich II. aber begriff es nicht.
Wenn man unter aufgeklärtem Despotismus das
Verständnis für die historische Möglichkeit und damit auch für
die historische Berechtigung des Despotismus versteht, so war
Friedrich Wilhelm I. ein sehr viel aufgeklärterer Despot als
sein Sohn. Indem er der herrschenden Klasse des Junkertums, so
gut er es vermochte, den Boden streitig machte, indem er sich
ein fürstliches Heer, ein fürstliches Beamtentum zu schaffen
suchte, indem er möglichst viel bürgerliche Elemente in die
Staatsverwaltung zog, vertrat er den Despotismus, der nach den
allgemeinen Zeitverhältnissen möglich und über die feudale
Wirtschaft des Mittelalters hinaus ein historischer Fortschritt
war. Friedrich dagegen besaß zwar jenes welfische-
Herrscherbewußtsein, das dem -hohenzollernschen, wie alte und
neue Beispiele zeigen, noch überlegen ist, aber von dem
fürstlichen Klassenbewußtsein seines Vaters hatte er viel zu
wenig. Friedrich Wilhelm I. witterte mit gutem Klasseninstinkte
in der „Hoffahrt" seines Sohnes eine schwere Gefahr für den
fürstlichen Despotismus; sie verhieß dem Junkerregimente, das er
selbst auszurotten getrachtet hatte, eine neue Blüte. Selbst in
seiner Küstriner Gefangenschaft, in einem Leben voll der
schwersten Demütigungen, machte Friedrich ungezogene Bemerkungen
darüber, daß adlige Landräte an den bürgerlichen Kammerdirektor
Hille als an ihren Vorgesetzten berichten mußten, worauf Hille
mit treffender Ironie erwiderte, die Welt sei allerdings auf den
Kopf gestellt, wie könnten sonst Fürsten, die nicht recht klug
wären oder sich nur mit Tand abgäben, vernünftigen Leuten
Befehle erteilen? Die derbe Lektion fruchtete so wenig, wie die
Schläge des Vaters. Friedrich hat nie begriffen, daß die
despotische Macht, die sein Vorgänger ihm vererbte, im Kampfe
gegen das Junkertum erobert war und also auch nur im Kampfe
gegen das Junkertum erhalten oder gar gesteigert werden konnte.
Dies in der Tat ist der springende Punkt, aus dem sich der
Despotismus Friedrichs erklärt, soweit er sich von dem
Despotismus seines Vaters unterschied. So töricht war der König
nicht, den Selbstherrscher in dem Sinne spielen zu wollen, in
dem er ihn nach den heutigen Bewunderern seines aufgeklärten
Despotismus gespielt haben soll; um sich mit einem sie volo sie
jubeo(2) über die tatsächlichen
Machtverhältnisse hinwegzusetzen, dazu war er viel zu
einsichtig. Wollte er den ersten Diener des Staats vorstellen,
wollte er sich unabhängig machen von dem Mitraten und Mittaten
des Beamtentums, so mußte er den Adel bei seiner gnädigen Laune
erhalten. Das wußte und berücksichtigte er sehr gut. Er
überhäufte den Adel in sehr unphilosophischer, Weise mit allen
erdenklichen Begünstigungen und Vorrechten; er förderte die
Junkerherrlichkeit in einer Weise, die seinem Vater ganz fremd
gewesen war. Während Friedrich Wilhelm die Tüchtigkeit der
Beamten an ihrer Widerstandskraft gegen die junkerlichen
Interessen abmaß, empfahl Friedrich
dem Generaldirektorium als den Hauptzweck der staatlichen
Verwaltung die Erhaltung des Adels. Während Friedrich Wilhelm
das Landratsamt den Junkern zu entreißen bemüht war, machte
Friedrich das ständische Vorschlagsrecht nicht nur zu einem
wirklichen Wahlrecht, indem er seine Bestätigung immer
unweigerlich gab, sondern er schloß noch obendrein die Domänen,
die Amtsstädte, die Güter in städtischem Besitze von der Wahl
der Landräte aus. Und so in allem. Friedrich Wilhelm suchte den
Klassenkampf mit dem Adel, Friedrich wich ihm aus. Was jener
erkämpfen wollte, das wollte dieser erkaufen. Aber der Vater
verstand viel besser, worauf es im Widerstreite der sozialen
Interessen ankommt, als. der Sohn. Mochte Friedrich Wilhelm im
Kriege gegen das Junkertum verhältnismäßig wenig erreichen, es
war tatsächlich viel mehr, als das verhältnismäßig Große, das
der berühmteste Selbstherrscher des achtzehnten Jahrhunderts
erreicht zu haben schien. Die Steigerung der Souveränität, die
Friedrich dem Adel abkaufen wollte, war eben deshalb ein leerer
Dunst. Er gab das Wesen der Macht hin für ihren Schein. Es kam
hinzu oder vielmehr: es hing mit der Verschiedenheit in dem
fürstlichen Klassenbewußtsein der beiden Könige zusammen, daß
Friedrich Wilhelm, der über wenig mehr als zwei Millionen
Einwohner herrschte, täglich fünf bis sechs Stunden mit seinen
Kabinettsräten, mit dem Generaldirektorium arbeitete; Friedrich
II. aber, unter dem die Bevölkerungsziffer auf sechs Millionen
anwuchs, machte täglich — mit Ausnahme der militärischen Revuen
— alles in anderthalb Stunden ab, ohne die Minister zu hören, ja
mit geflissentlicher Mißachtung und Mißhandlung des Beamtentums.
Menschlich mag es sehr wohl zu verstehen sein, daß ein geistig
angeregter Mann sich möglichst schnell aus dem eintönigen und
traurigen Räderwerk dieses Staatswesens zu seinen Dichtern,
Musikern und Philosophen flüchtete; politisch ist es aber klar,
daß Friedrich, der auf diese Weise das ganze staatliche Getriebe
bis auf die kleinste Einzelheit zu übersehen und zu leiten
glaubte, tatsächlich gar wenig übersah und leitete. Die
wirkliche Regierung fiel dem Adel um so sicherer zu, als
Friedrich ihm auch, abermals in scharfem Gegensatz zu seinem
Vater, alle maßgebenden Stellen der bürgerlichen Verwaltung
eingeräumt hatte. Der glänzende Schein seines aufgeklärten
Despotismus verhüllte einzig ein wucherisches Junkerregiment. So
setzt die Dialektik der ökonomischen Entwicklung, je „genialer"
sie mißachtet wird, sich um so rücksichtsloser und
verhängnisvoller durch.
Nach alledem kann von „Friedrichs Reformen im Innern" so
wenig gesprochen werden, daß im Gegenteil unter seiner Regierung
der preußische Militärstaat schon von der Höhe herabsank, die er
unter Friedrich Wilhelm erreicht hatte. Als Friedrich den Thron
bestieg, hatte er sich mit allerlei literarischen und
philosophischen Fragen befaßt, aber seine staats-
und volkswirtschaftlichen Kenntnisse waren selbst für den
Maßstab seiner Zeit sehr lückenhaft und unvollständig; die
patriotische Fabel von dem praktischen Kursus, den er während
seiner Küstriner Gefangenschaft in diesen Dingen gemacht haben
soll, ist gegenüber den urkundlichen Zeugnissen selbst von den
loyalen Geschichtsschreibern aufgegeben worden. Den Kleinbetrieb
der Verwaltung, den er nach dem Willen seines Vaters in Küstrin
lernen sollte, hat er nicht gelernt, nicht einmal lernen wollen;
darüber sind die Klagen der Küstriner Behörden unerschöpflich,
und der Kammerdirektor Hille tröstete sich mit der Hoffnung, daß
er als Regent sich um die kleinen Einzelheiten nicht kümmern
werde.(3) Aber bekanntlich kümmerte sich
Friedrich als erster Diener des Staates um jeden Quark, und dazu
verknöcherte die Art seines Selbstherrschertums noch die sehr
unreifen Ansichten, mit denen er die Regierung angetreten Hatte.
Mit Recht liebt ein bürgerlicher Ökonom hervor, daß Friedrich,
wie er selbst und seine Dienerschaft im Jahre 1786 nicht anders
gekleidet gingen, wie im Jahre 1740, so auch in anderen
„wichtigeren Dingen zeitlebens bei den Anschauungen beharrte,
die er als Kronprinz gewonnen hatte(4)".
In den zwölfhundert Kabinettsordres,
deren Wortlaut Preuß in den Urkundenbüchern zu Friedrichs
Lebensgeschichte veröffentlicht, kann man von Jahr zu Jahr
verfolgen, wie der König nicht eigentlich beschränkter — denn
die Beschränktheit blieb immer dieselbe —, wohl aber
eigensinniger und höhnischer gegen die fortschreitende
Erkenntnis der Zeit wurde, und der vielgepriesene „Geist" dieser
Verordnungen besteht tatsächlich nur in bald guten, bald
schlechten, aber immer gleich peinlichen Witzen, worüber schon
Lessing das erschöpfende Urteil gefällt hat: „Gott hat keinen
Witz und die Könige sollten auch keinen haben, denn hat ein
König Witz, wer steht uns für die Gefahr, daß er deswegen einen
ungerechten Ausspruch tut, weil er einen witzigen Einfall dabei
anbringen kann?" Dieser Gefahr ist Friedrich immer wieder
erlegen, und nicht zum wenigsten deshalb ging bei seinem Tode
ein frohes Aufatmen durch die ganze
Bevölkerung, weil sein Despotismus, wie in den Grundsätzen
beschränkt und zäh, so in ihrer Handhabung launenhaft und
willkürlich war. Goethe hörte bei einem Besuche in Berlin „über
den großen Menschen seine eigenen Lumpenhunde räsonieren";
schade, daß er nicht ein paar Jahre unter dem Szepter Friedrichs
lebte, um zu einem gründlichen Verständnisse dessen zu gelangen,
was es mit den „Lumpenhunden" einer- und den „großen Menschen"
andererseits auf sich hat.
In erster Reihe das Heer, das Rückgrat des Militärstaates,
verfiel unter Friedrich. Es ist lehrreich zu sehen, wie es ihm
auch hier im Gegensatze zu seinem Vater
mehr auf den Schein, als das Wesen der Macht ankam. Während
Friedrich Wilhelm I. die ökonomische Ausbeutung des Heeres durch
die ]unker nach Kräften hinderte, aber die Offiziere
als seine Kameraden behandelte und den kameradschaftlichen
Geist unter ihnen pflegte, ließ sein Sohn dem ausbeuterischen
Treiben der Junker die Zügel schießen, während er sich
nach dem Satze: Teile und herrsche! über die Offiziere
als unnahbarer Kriegsherr aufzuschwingen und sie in jeder Weise
zu schikanieren suchte. Gleich nach seiner Thronbesteigung
stellte Friedrich dem Feldmarschalle seines Vaters, dem Fürsten
von Dessau, einen anderen Feldmarschall in dem Grafen Schwerin
entgegen, und indem er bald den einen, bald den ändern vorzog,
bald den einen, bald den ändern zurücksetzte, verhetzte er sie
mit so glücklichem Erfolge, daß sich durch das ganze
Offizierskorps eine anhaltinische und
eine schwerinische Partei bildete, die dann auch nach dem Tode
ihrer Häupter sich zu befehden fortfuhren. Ein ähnlicher
Zwiespalt, wie an der Spitze des ganzen Heeres, wiederholte sich
an der Spitze jedes einzelnen Regiments, indem Friedrich die
Beziehungen zwischen Chef und Kommandeur in „einer nicht genau
bestimmten Mischung von Subordinations- und sogenannt
kollegialischem Verhältnisse(1)"
beließ. Bekannt ist der eifersüchtige Neid, womit Friedrich im
Kriege jeden General verfolgte, der ihn selbst verdunkelte oder
auch nur zu verdunkeln schien; wie oft haben Schwerin und
Seydlitz seine „Ungnade" erfahren müssen! Aber die Verehrer des
Königs tun ihm zu viel, wenn sie als eine Schwäche seines
persönlichen Charakters zu beschönigen suchen, was tatsächlich
nur eine Schwäche seiner sozialen Stellung war. Friedrich war
durchaus kein miles gloriosus; in seinen Schriften spricht er
mit anständiger Bescheidenheit von seinen kriegerischen
Erfolgen, mit anständiger Offenheit von den Mißgriffen seiner
Feldherrnlaufbahn. Aber er glaubte den unumschränkten
Kriegsherrn nur so spielen zu können, daß er keinen Junker zu
einer überragenden Stellung im Heere kommen ließ. Nach dem
Siebenjährigen Kriege ernannte er überhaupt keinen Feldmarschall
mehr und kaum zwei oder drei Generale; bei seinem Tode war unter
den aktiven Offizieren des Heeres nur ein einziger, auch schon
halb abgedankter General, der alte Tauentzien, Lessings
bekannter Freund. Während der König aber auf diese Weise die
militärische Tüchtigkeit des Offizierskorps verringerte, Jleß er
seiner ökonomischen Entartung den freiesten Spielraum. Er
verstand nicht seines Vaters Meinung, daß des Königs
Kriegsknecht es .besser haben müsse als des Gutsherrn
Ackerknecht; er gestattete dem Offizier den Kriegsknecht
auszubeuten, wie nur immer der Junker den Ackerknecht ausbeuten
mochte. In der ersten Hälfte von Friedrichs Regierung hielt die
alte Überlieferung, die ewige Kriegsnot, vielleicht auch die
frischere Kraft des Königs das Gefüge des Heeres noch
einigermaßen aufrecht trotz aller Mißbräuche, die auch damals
schon eingerissen waren. Nachdem
aber der Siebenjährige Krieg das alte Heer verschlungen hatte,
wußte Friedrich nur ein neues Heer zu schaffen, das schon bei
der ersten Probe, im Bayerischen Erbfolgekriege von 1778,
vollständig versagte. Tn dem einen Feldzuge verlor es mehr
Mannschaften durch Desertion, als im ganzen Siebenjährigen
Kriege. Friedrich war überrascht, aber er wurde keineswegs durch
den argen Mißerfolg belehrt. Er war wohl flink bei der Hand, mit
dem Kassieren einzelner Offiziere, aber er änderte nichts an
seinem falschen System. Während schon zu seiner Zeit
scharfsichtige Beobachter erkannten, daß dies Heer verfallen
mußte, weil es mehr und mehr von einer bevorzugten Klasse
ausgebeutet wurde, warf Friedrich die bürgerlichen Offiziere,
die er in den letzten Notjahren des Siebenjährigen Krieges hatte
ernennen müssen, nach dem Frieden trotz aller Verdienste einfach
aufs Pflaster und füllte die Lücken lieber durch adelige
Abenteurer aus der Fremde, denn er sah nun einmal „den ersten
Schritt zum Verfalle des Staates" in der Anstellung bürgerlicher
Offiziere(6).
Hier aber lag die Wurzel des Übels. Die Kompaniewirtschaft
der Junker, die Friedrich Wilhelm möglichst in Schranken zu
halten suchte, nahm unter Friedrich zunächst folgende Gestalt
an. Der König zahlte Jahr für Jahr die Monatslöhnung von drei
Talern fünf Groschen auf den Gemeinen für die gesamte Kopfstärke
der Kompanie. Die Exerzierzeit war aber schon von drei Monaten
auf zwei zusammengeschrumpft; während zehn Monaten des Jahres
durften die Hauptleute 50 bis 60 von den etwa 70 Inländern der
Kompanie beurlauben und den entsprechenden Betrag der
Gesamtlöhnung in die Tasche stecken. Dafür waren sie
verpflichtet, den Bestand der Ausländer, 50 bis 60 Mann auf die
Kompanie, vollständig zu erhalten, und zwar in bestimmten Größen
- nicht unter fünf Fuß zehn Zoll. Im allgemeinen rechnete man
den jährlichen Abgang von Ausländern bei einer Kompanie auf vier
Mann, zu deren Ersatz ungefähr 500 Taler nötig waren. Ferner
hatten die Kompaniechefs für die Instandhaltung der gelieferten
und den Ersatz der fehlenden kleinen Montierungsstücke zu
sorgen. Immer aber blieb ihnen ein bedeutender Reingewinn(7).
Die Beschaffung der großen Montierungsstücke (Rock, Hose, Weste,
Hut oder Mütze, Strümpfe und Reiterstiefel) besorgte die
Kleiderkasse des Regiments, für die jedem Unteroffizier und
Gemeinen ein Teil der Löhnung abgezogen .wurde; von dem
monatlichen Solde gingen ein Taler fünf Groschen für Kleider und
sonstige Regimentsunkosten drauf.
Diese Kompaniewirtschaft rührte im wesentlichen noch aus
Friedrich Wilhelms Zeit her, so sehr sie unter Friedrich auch
schon dadurch verschlechtert worden war, daß jedes Gegengewicht
gegen die durch diese ganze Wirtschaft immer wieder angereizte
Ausbeutungslust der Junker fehlte. Nach dem Siebenjährigen
Kriege entschloß sich der König aber zu einer „Reform", die dem
Fasse den Boden ausschlug.. Er entzog nämlich einem großen Teil
der Regimenter, besonders denen, die im Kriege seine
Unzufriedenheit erregt hatten, die eigene Werbung. Er ließ den
betreffenden Kompaniechefs etwa noch 30 oder 20 oder auch nur 10
Beurlaubte zugute kommen, den Rest nahm
er auf eigene Rechnung, wofür aus der sogenannten „großen
Werbung", die er selbst betrieb, die abgehenden Ausländer
ersetzt wurden. Zunächst ergab sich daraus eine erhebliche
Verschlechterung des Menschenmaterials. Bei der eigenen Werbung
hatten die Kompaniechefs immerhin ein gewisses Interesse, auf
einen möglichst starken und zuverlässigen Menschenschlag zu
sehen; je weniger Abgang von Ausländern sie hatten, um so größer
war ihr Profit. Des Königs Werbeoffiziere hatten gerade im
Gegenteile das Interesse, den verrufensten Menschenkehricht aus
aller Herren Länder auf zutreiben, denn der war am billigsten zu
haben, und je billiger sie warben, um so mehr profitierten sie
an den Werbegeldern. „Es gibt Offiziers, die den Menschenhandel
so gut verstehen wie die Juden, welche den Engländern und
Franzosen ihre Sklaven für die Kolonien liefern", schrieb der
preußische Leutnant Rahmel, nachdem er in den amerikanischen
Dienst übergetreten war. Boyen aber schreibt von den Ergebnissen
der „großen Werbung", man könne ohne Übertreibung sagen,
daß von den jährlich in die Armee eintretenden
ausländischen Rekruten höchstens die Hälfte leichtsinnige, aber
nicht durchaus verdorbene Menschen waren, während die andere
Hälfte aus nichtsnutzigen Wesen bestand, die das Desertieren aus
einem Dienste in den anderen, um sich im neuen Handgeld
berauschen zu können, zum Gewerbe ihres Lebens machten, in der
Zwischenzeit aber durch Betrug und Diebstahl sich eine Zulage in
ihrer Garnison zu erhaschen suchten(8).
Um dies Gesindel, dessen unausgesetzte
Exzesse den Soldatenstand in den übelsten Ruf brachten,
einigermaßen bändigen und an die Fahne fesseln zu können, war
die gewaltsamste Behandlung notwendig, und diese wirkte dann
wieder im höchsten Grade demoralisierend auf die besseren
Elemente der Truppe zurück. Um nur eins zu erwähnen: man legte
den schlechten Soldaten, namentlich zur Überwachung während der
Nacht, zu einem guten ins Zimmer; gelang dem schlechten dennoch
die Desertion, so mußte der gute unbarmherzig Spießruten laufen.
Die Soldatenmißhandlungen stiegen ins Unerträgliche; die
„abscheulichen Stubenexekutionen" gewannen damals zuerst ihren
unheimlichen Ruf; Selbstmord und Wahnsinn rafften die noch nicht
jeden Ehrgefühls baren Rekruten dahin(9).
Und mit alledem noch nicht genug. Die inländische Rekrutierung
verdarb auf diese Weise auch vollständig. Der Kriegsdienst war
die entehrendste und peinvollste Strafe in preußischen Landen
geworden und wurde zuletzt vom Könige auch als solche verhängt,'
so über Preßvergehen, wie wir schon gesehen haben. Die
natürliche Folge davon war, daß alle Bevölkerungsklassen, die
überhaupt noch etwas zu verlieren hatten, vom Kriegsdienste „eximiert"
werden mußten. Man durfte gar nicht daran denken, den
höherentwickelten westlichen Landesteilen mit der Kantonpflicht
zu nahen, eine ökonomische Notwendigkeit, deren bitteren
Beigeschmack sich Friedrich durch die Behauptung versüßte, daß
der rheinisch-westfälischen Bevölkerung „Treue und Ausdauer im
militärischen Dienstverhältniss fehle". Aber auch in den
ostelbischen Provinzen reichten die „Exemtionen" herab bis auf
die Arbeiter, die „nützliche Gewerbe trieben". Für die
Enrolierung blieb nur übrig einerseits landstreicherisches und
verbrecherisches Gesindel, andererseits die — ärmste Armut, der
jedes Mittel zur Flucht und zum
Widerstande fehlte, es sei denn, daß die Einen sich den Daumen
verstümmelten, was den König zu besonderen verbietenden Edikten
veranlaßte, oder daß die Anderen sich für Schinder- und
Scharfrichterknechte ausgaben, welche erdichtete Infamie sie im
Bayerischen Erbfolgekriege aber auch nicht vor Aufnahme in die
Freikorps schützte. Treffend nennt Boyen die Rekrutierung unter
Friedrich eine „an der Armut ausgeübte Gewalttat".
Ferner aber hatte die „Reform" des Königs noch eine andere
verhängnisvolle Seite. Wenn er die Einkünfte der
Junker-Offiziere durch die „große Werbung" schmälerte, so waren
diese braven Patrioten keineswegs geneigt, sich ihren Profit
schmälern zu lassen. Für das, was ihnen der Kriegsherr nahm,.
erholten sie sich an dem Kriegsknechte. Die Kompaniechefs
bewirtschafteten ihre Aushebungsbezirke wie eine Art Eigentum;
das Grauen der Bevölkerung vor dem Kriegsdienste gab ihnen trotz
aller „Exemtionen" willkommenen Anlaß zu allerlei Erpressungen;
mit barem Gelde mußten sich -die Kantonisten, auch wenn sie gar
nicht zum Kriegsdienste herangezogen werden durften, die
Erlaubnis zur bürgerlichen Niederlassung und zur Verheiratung
einhandeln. Dann aber wurde eine neue Form der Beurlaubung
erfunden. Der König hatte 1763 bestimmt, daß wenigstens 76
sogenannte Diensttuer auf die Kompanie beständig bei den Fahnen
bleiben sollten, aber bald mußte er nachgeben, daß auch von
diesen 76 noch 26 Mann als Freiwächter, d. h. da es sich zumeist
um Ausländer handelte, innerhalb der Garnisonmauern beurlaubt
werden konnten. Aus den 26 machten die Hauptleute aber oft 40
und noch mehr, so daß für zehn Monate des Jahres höchstens 30
bis 40 Mann auf die Kompanie bei den Fahnen standen; der Sold
der Freiwächter, die selber sehen mochten, wo sie Beschäftigung
fanden, fiel in die Tasche der Hauptleute. In dasselbe Gebiet
gehört es auch, daß die inländischen Rekruten, die bei ihrem
Eintritt in das Heer zunächst ein Jahr unter den Waffen bleiben
sollten, schon nach einmaliger Exerzierzeit ohne jede Rücksicht
auf ihre militärische Ausbildung beurlaubt wurden. Weiter wurden
die Kleiderkassen wahre Goldgruben für die Junker-Offiziere. Sie
verschlechterten die Montierungsstücke, um in ihren eigenen
Geldbeutel zu wirtschaften. Sie kürzten den Schnitt der Röcke,
wodurch eine bedeutende Anzahl Ellen des Zeuges gespart wurden.
Die Weste der Soldaten wurde nach und nach von der junkerlichen
Profitwut ganz verspeist; man begann damit, ihre Ärmel
abzuschneiden und endete damit, sie durch einen zwischen den
vorderen Rockklappen angenähten Lappen zu markieren. Ein
leckeres Gericht für die Hauptleute war auch das Schuhzeug der
Mannschaft; „wenn Dido", so schreibt der schon erwähnte Leutnant
Rahmel, „aus einer Kuhhaut den Platz zur Erbauung einer Stadt
schnitt, so wollen die Kapitäns aus den Schuhsohlen ihrer
Kompanie den Plan zu ei« paar Rittergütern schneiden". Anderes,
beispielsweise wie bei der Lieferung der Fourage für die
Kavallerie die Bauern übers Ohr gehauen wurden, wie in den
Listen gestorbene Soldaten als lebend fortgeführt, wie bei den
Revuen die Lazarette ausgeleert wurden, um die Rotten zu füllen,
und sonstige Einzelheiten dieses höchst raffiniert ausgebildeten
Gaunersystems übergehen wir; die angeführten Tatsachen genügen
zur Erklärung dafür, daß Boyen die Offiziere dieses
friderizianischen Heeres nicht mehr,Soldaten, sondern „wuchernde
Krämer" nennt.
All dem Unwesen sah der König ruhig zu. Höchstens daß er mal
eine Order gegen das Überhandnehmen der Freiwächter erließ, aber
wenn sie nicht half, so gab er sich auch zufrieden. In dem Heere
selbst fehlte jede Kontrolle, denn auch, wenn der Hauptmann zum
Obersten oder General aufrückte, behielt er eine Kompanie;
diesen Fleischtopf nahm er bis zu den höchsten Chargen mit, und
da somit alle höheren Offiziere Krähen waren, so hackte keiner
dem ändern die Augen aus. Was dabei aus dem kriegerischen Geiste
dieser Offiziere wurde, liegt auf der Hand. Die preußischen
Historiker pflegen, wenn sie das friderizianische Heer feiern,
als drastischen Gegensatz die Kriegsknechte des Bischofs von
Hildesheim anzuführen, an deren Hüten geschrieben stand: Gib
Friede, Herr, in unsern Tagen! Nun, an den Hüten der preußischen
Hauptleute und Obersten war das freilich nicht zu lesen, aber um
so breiter stand'das friderizianische Offizierkorps nach dem
Siebenjährigen Kriege auf diesem frommen Wunsche. Denn da die
„wuchernden Krämer" nur im Frieden ausbeuten konnten, so
begreift man leicht, wie anfeuernd der Krieg auf den
„Heldengeist" dieses „Heldenheeres" wirkte. Erst die
ökonomischen Voraussetzungen des friderizianischen Heeres
erklären die ganze Schmach* von 1806, erklären den feigen Verrat
der Junker-Offiziere, erklären das frohe Aufatmen, womit viele
Tausende von Soldaten nach der Niederlage die Fahnen verließen,
erklären endlich die ingrimmige Freude der Bevölkerung über die
zermalmenden Schläge, mit denen die „Federbüsche" für den
scheußlichen Wucher von Jahrzehnten gestraft worden waren. Aber
es ist fraglich, ob das Heer zur Zeit von Jena noch ganz so
schlecht war, wie in den letzten Jahrzehnten des Königs
Friedrich. Denn etwas von dem Hauche der Französischen
'Revolution war doch über die Elbe gedrungen, und
einzelne Offiziere, wie Scharnhorst, Blücher, Gneisenau, auch
tüchtige Junker, wie York, hatten gar manches an der
Heeresverfassung gebessert.
Anmerkungen:
1) K. Marx/F. Engels, Manifest der
Kommunistischen Partei, S. 3, Berlin 1946.
2) So will ich und so befehle ich. Die
Red.
3) Koser, Friedrich der Große als
Kronprinz, 91 f.
4) Röscher, Geschichte der
Nationalökonomik in Deutschland, 414.
5 Fouqué,
Lebensbeschreibung des Generals Fouqué,
55.
6) Oeuvres 9, 186.
7) Jähns 3, 2259. Nach Pertz,
Gneisenau l, 51, bezog selbst Gneisenau. an dem kein Verdacht
unredlichen Gewinns haftet, von seiner Kompanie bis 2000 Taler
jährlich.
8) Erinnerungen aus dem Leben
des General-Feldmarschalls Hermann v. Boyen 1. 195 ff. Boyen ist
der berühmte Schüler von Scharnhorst, der Freund und
Gesinnungsgenosse von Gneisenau, Grolman, Clausewitz, der
preußische Kriegsminister von 1814 bis 1819, der nach dem
endgültigen Siege der junkerlichen Reaktion in den Karlsbader
Beschlüssen sein Amt niederlegte. Seine Memoiren sind ein höchst
bedeutendes Werk, das unter der preußischen Legende die
fürchterlichsten Verheerungen anrichtet, worauf hier leider
nicht näher eingegangen werden kann. Es sei aber ausdrücklich
erwähnt, daß die obige Darstellung der friderizianischen
Kriegsverfassung teils auf Boyens Memoiren, teils auf dem
großen, schon mehrfach angezogenen Werke des Generalstabsmajors
Jähns beruht. Andere Quellen, wie das bekannte, von der
preußischen Geschichtsschreibung als tendenziös angefochtene und
jedenfalls nicht in gleichem Maße quellenmäßige Werk von
Mirabeau-Mauvillon sind absichtlich
unberücksichtigt geblieben.
9) Wie der Reichskanzler v. Caprivi
noch nach dem Erscheinen von Boyens Erinnerungen, von allen
anderen urkundlichen Zeugnissen abgesehen, im Reichstage
bestreiten konnte, daß die Soldatenmißhandlungen der Kitt des
friderizianischen Heeres gewesen seien,
ist ein völliges Rätsel. Der Stock gehörte zu diesem Heere, wie
der Schatten zum Körper, und1 wenn er leider auch
noch im deutschen Heere der Gegenwart eine jammervolle Rolle
spielt, so geschieht es deshalb, weil dies Heer eben kein
„Volk in Waffen" ist, sondern mit der allgemeinen Wehrpflicht
wesentliche Teile der friderizianischen Kriegsverfassung
verbindet. Solange es ein bevorrechtetes, als besondere Kaste
von Heer und Volk abgesondertes Offizierkorps, eine besondere
militärische Gerichtsbarkeit, grausame Arreststrafen, die an
gewissem Raffinement fast noch die friderizianischen
Kriegsartikel überbieten, und anderes der Art mehr gibt, werden
auch die Soldatenmißhandlungen nicht aufhören. Mit Verboten ist
dagegen nichts zu machen. Sie sind gar nicht einmal eine
Errungenschaft „moderner Humanität",
sondern auch nur eine Überlieferung des
Söldnerheeres; das erste Verbot der Soldatenmißhandlungen hat
sogar schon der Kurfürst Friedrich Wilhelm am 29. Januar 1688
erlassen. Die Mißhandlungen, die darin gerügt sind, können sich
übrigens nicht entfernt mit den schaudererregenden
Torturen messen, die der bekannte Erlaß des Herzogs Georg von
Sachsen aufzählt.
Editorische Hinweise
*) Die Teilüberschriften stammen nicht
vom Autor.
Franz Mehring: Friedrichs aufgeklärter
Despotismus,entnommen aus: derselbe, Historische Aufsätze zur
preußisch-deutschen Geschichte, 2. Auflage, Berlin 1946, S.
59-70
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