Friedrichs aufgeklärter Despotismus
Teil 1: Die Kompaniewirtschaft (*)

von Franz Mehring

02/12

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Friedrich II. regierte von 1740 bis 1786. Sein aufgeklärter Despotismus gilt als die höchste Form des modernen Absolutismus, und zwar in beiderlei Sinn des Wortes: sowohl nach der Unbeschränktheit der fürstlichen Macht hin, als auch nach der Verwendung dieser Macht für die Wohlfahrt des Volkes. Die eine wie die andere Behauptung bedarf aber der Einschränkung durch den Satz: innerhalb der Grenzen, die durch die ökonomischen Grundlagen dieses Despotismus gegeben waren. Die preußen-freundlichen Mythologen täten nachgerade wohl daran, sich endlich zu dieser wissenschaftlichen Auffassung zu bekehren, denn in dem holden Streite mit ihren preußenfeindlichen Gegenfüßlern müssen sie hundert Niederlagen gegen einen Sieg davontragen, wenn auf Grund der Einbildung gekämpft wird, daß die Macht Friedrichs unbeschränkt und daß es seine Pflicht gewesen sei, diese Macht im Interesse der Volksmasse zu handhaben. Es ist richtig: die Schranken des Despotismus, die beispielsweise in Frankreich und Österreich durch den Hof und die Kirche errichtet waren, bestanden für Friedrich nicht. Aber um so fester steckte er in dem eisernen Hemde des auf feudaler Grundlage erwachsenen Militarismus. Sein beweglicher und lebendiger, obschon etwas flacher Geist war für literarische und philosophische Arbeiten wie geschaffen; Friedrich artete mehr nach der Mutter als nach dem Vater, war mehr Welfe als Hohenzoller, wie denn namentlich in seinen jungen Jahren die fremden Gesandten den „hannoverschen Typus" an ihm hervorheben. Unter den Welfen waren aber literarische Neigungen schon seit dem Mittelalter erblich; am Hofe Heinrichs des Löwen dichteten Vorläufer der höfischen, mittelalterlichen Poesie; Herzog Heinrich Julius von Braunschweig, der Zeitgenosse Shakespeares, hielt an seinem Hofe eine Truppe englischer Schauspieler und schrieb selbst Theaterstücke; Herzog August gründete die Wolfenbütteler Bibliothek; Herzog Anton Ulrich dichtete Kirchenlieder und Romane; dann lebte Leibniz im Schütze des Welfenhauses, und Friedrichs Großmutter, die Königin Sophie Charlotte, im Guten und Schlimmen eine echte Welfin, zog ihn vorübergehend auch nach Berlin. Im Vorbeigehen lohnt es sich auch vielleicht zu bemerken, daß sich unter Friedrichs Urgroßmüttern ein französisches Edelfräulein befand, Eleonore d' Olbreuze, die Gemahlin eines welfischen Herzogs, die einige Tropfen frischen und munteren Blutes in das alte Geschlecht gesprengt hatte. Der schier unnatürliche Haß, mit dem Friedrich und seih Vater einander betrachteten, ein Haß, der sich dann zwischen Friedrich und seinem durchaus nach dem Vater artenden Bruder August Wilhelm, dem Stammvater der späteren Könige, wiederholte, und hier in dem Tode des Bruders tragisch endete, wie dort in der Enthauptung von Friedrichs Freunde Katt, läßt sich kaum anders als auf physiologische Ursachen zurückführen, so wenig damit auf den verleumderischen Hofklatsch über Friedrichs Mutter, dem selbst sein Vater zeitweise zugänglich war, irgend angespielt werden soll. Die wiederholten Heiraten zwischen Hohen-zollern und Welfen ließen nur Friedrich, wie seine Schwester Wilhelmine und seinen Bruder Heinrich, stark auf den welfischen Typus zurückschlagen. Friedrichs Ehrgeiz strebte in erster Reihe nach dem Lorbeer des Dichters lind Schriftstellers; als Mensch hat er sein ganzes Leben danach gerungen; lieber wollte er Racines Athalie gedichtet, als den Siebenjährigen Krieg geführt haben. Aber als König war er sich auch sein ganzes Leben darüber klar, unter welchen Bedingungen er überhaupt nur regieren könne. So führte er jenes Doppelleben, das einen manchmal schier unglaublichen Widerspruch zwischen seinen Taten und seinen Worten aufweist, das ihm so oft den scheinbar im widerleglichen Vorwurf der Heuchelei eingetragen hat und das von seinen Bewunderern nicht minder oft durch die unwürdigsten Sophismen erläutert worden ist. Und doch hat Lessing schon den Sinn dieses Lebens treffend gezeichnet in den von Herrn Erich Schmidt und anderen für byzantinische Zwecke mißbrauchten Worten: „Wenn ich mich recht untersuche, so beneide ich alle itzt regierenden Könige in Europa, den einzigen König von Preußen ausgenommen, der es einzig mit der Tat beweist, Königswürde sei eine glorreiche Sklaverei." In der Tat erkannte Friedrich von Anfang an, daß gemäß der preußischen Verfassung jeder preußische König unweigerlich den alten Kurs zu segeln hat, und darin, daß er auch nicht einmal versuchte, wider den Stachel zu lecken, obgleich ihm nach Anlagen und Neigungen eine solche Versuchung unter allen preußischen Königen weitaus am nächsten lag, wurzelt sein Anspruch auf historische Bedeutung oder — wenn denn einmal das Wort gebraucht werden soll — auf historische Größe.
Aber eben weil dazu ein nicht gewöhnlicher Charakter und ein nicht gewöhnlicher Geist gehörten, liegt es von vornherein auf der Hand, daß jene „Reformen Friedrichs im Innern", von denen Lassalle spricht, niemals bestanden haben und niemals auch nur geplant worden sind. Friedrichs Thronbesteigung wurde ein Tag der Enttäuschungen, wie einer^ der schmerzlich Enttäuschten selber schrieb. Der von seinem Vater so arg mißhandelte „Querpfeifer und Poet", der seine Uniform einen „Sterbekittel" genannt hatte, erließ das kurze und bündige Regierungsprogramm: Alles bleibt auf dem Fuße, auf dem mein Vater es eingerichtet hat; nur das Heer will ich um soundso viel Bataillone und Schwadronen vermehren. Die Mittel dazu gewann Friedrich zunächst durch die Auflösung des Riesenregiments, das sein Vater in einer närrischen Liebhaberei aus menschlichen, durch greuliche Gewalttaten und um wahnsinnige Summen aus allen Enden der Welt herbeigeschafften Kolossen zusammengesetzt hatte. Sonst änderte Friedrich aber nichts oder doch nichts Wesentliches an den Einrichtungen Friedrich Wilhelms I., weil er trotz aller philosophischen und poetischen Schwärmerei und trotz des schroffsten persönlichen Gegensatzes zu seinem Vater sehr wohl wußte, daß er nichts daran ändern konnte, daß der preußische Staat so bestehen mußte, wie er bestand, oder überhaupt nicht bestehen konnte.

Eine einzige wichtige Änderung scheint Friedrich nun aber doch an dem bisherigen Regierungssystem vorgenommen zu haben, nämlich die schon erwähnte Steigerung der fürstlichen Machtvollkommenheit, die in dem geflügelten Worte von dem Fürsten als dem ersten Diener des Staates ihren ideologischen Ausdruck gefunden hat. Da hat anscheinend doch der überlegene Wille eines kräftigen Herrschers einen tiefen Schnitt in die auf ökonomischen Grundlagen beruhende Verfassung des Staates getan. Allein dieser Schein trügt vollständig. Es vollzog sich hier ein ähnlicher Prozeß, wie hundert Jahre vorher unter Friedrichs Urgroßvater. Damals verzichteten die Junker scheinbar auf ihre politischen Vorrechte, indem sie die Errichtung des fürstlichen Absolutismus durch das stehende Heer und die ständige Steuer zugaben, aber was sie in ihren verfallenen Ständetagen preisgegeben hatten, gewannen sie zehnfach durch die ökonomischen, sozialen und militärischen Vorrechte wieder, die ihnen der Absolutismus einräumen mußte, ehe sie ihm ihren Segen gaben. In ganz ähnlicher Weise regierte Friedrich II. mit einigen subalternen Schreibern aus seinem Kabinett den Staat, während tatsächlich unter seiner Regierung jenes Adelsregiment aufwucherte, das bei Jena ein schmachvolles, aber hundertfach verdientes, wenn auch leider noch immer nicht endgültig besiegeltes Schicksal ereilt hat.

Die ideologische Geschichtsschreibung ist bisher unfähig gewesen, die Aufklärung des friderizianischen Despotismus zu analysieren; sie hat nur verstanden, mit preisenden oder scheltenden, mit schmeichelnden oder schimpfenden, aber stets ganz allgemeinen und leeren Redensarten darüber hinwegzutappen. Aber von der materialistischen Geschichtsauffassung wissen wir, daß die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen(1)" ist. Das hatte Friedrich Wilhelm I. in seiner Weise ganz gut begriffen, Friedrich II. aber begriff es nicht. Wenn man unter aufgeklärtem Despotismus das Verständnis für die historische Möglichkeit und damit auch für die historische Berechtigung des Despotismus versteht, so war Friedrich Wilhelm I. ein sehr viel aufgeklärterer Despot als sein Sohn. Indem er der herrschenden Klasse des Junkertums, so gut er es vermochte, den Boden streitig machte, indem er sich ein fürstliches Heer, ein fürstliches Beamtentum zu schaffen suchte, indem er möglichst viel bürgerliche Elemente in die Staatsverwaltung zog, vertrat er den Despotismus, der nach den allgemeinen Zeitverhältnissen möglich und über die feudale Wirtschaft des Mittelalters hinaus ein historischer Fortschritt war. Friedrich dagegen besaß zwar jenes welfische- Herrscherbewußtsein, das dem -hohenzollernschen, wie alte und neue Beispiele zeigen, noch überlegen ist, aber von dem fürstlichen Klassenbewußtsein seines Vaters hatte er viel zu wenig. Friedrich Wilhelm I. witterte mit gutem Klasseninstinkte in der „Hoffahrt" seines Sohnes eine schwere Gefahr für den fürstlichen Despotismus; sie verhieß dem Junkerregimente, das er selbst auszurotten getrachtet hatte, eine neue Blüte. Selbst in seiner Küstriner Gefangenschaft, in einem Leben voll der schwersten Demütigungen, machte Friedrich ungezogene Bemerkungen darüber, daß adlige Landräte an den bürgerlichen Kammerdirektor Hille als an ihren Vorgesetzten berichten mußten, worauf Hille mit treffender Ironie erwiderte, die Welt sei allerdings auf den Kopf gestellt, wie könnten sonst Fürsten, die nicht recht klug wären oder sich nur mit Tand abgäben, vernünftigen Leuten Befehle erteilen? Die derbe Lektion fruchtete so wenig, wie die Schläge des Vaters. Friedrich hat nie begriffen, daß die despotische Macht, die sein Vorgänger ihm vererbte, im Kampfe gegen das Junkertum erobert war und also auch nur im Kampfe gegen das Junkertum erhalten oder gar gesteigert werden konnte.

Dies in der Tat ist der springende Punkt, aus dem sich der Despotismus Friedrichs erklärt, soweit er sich von dem Despotismus seines Vaters unterschied. So töricht war der König nicht, den Selbstherrscher in dem Sinne spielen zu wollen, in dem er ihn nach den heutigen Bewunderern seines aufgeklärten Despotismus gespielt haben soll; um sich mit einem sie volo sie jubeo(2) über die tatsächlichen Machtverhältnisse hinwegzusetzen, dazu war er viel zu einsichtig. Wollte er den ersten Diener des Staats vorstellen, wollte er sich unabhängig machen von dem Mitraten und Mittaten des Beamtentums, so mußte er den Adel bei seiner gnädigen Laune erhalten. Das wußte und berücksichtigte er sehr gut. Er überhäufte den Adel in sehr unphilosophischer, Weise mit allen erdenklichen Begünstigungen und Vorrechten; er förderte die Junkerherrlichkeit in einer Weise, die seinem Vater ganz fremd gewesen war. Während Friedrich Wilhelm die Tüchtigkeit der Beamten an ihrer Widerstandskraft gegen die junkerlichen  Interessen abmaß, empfahl Friedrich dem Generaldirektorium als den Hauptzweck der staatlichen Verwaltung die Erhaltung des Adels. Während Friedrich Wilhelm das Landratsamt den Junkern zu entreißen bemüht war, machte Friedrich das ständische Vorschlagsrecht nicht nur zu einem wirklichen Wahlrecht, indem er seine Bestätigung immer unweigerlich gab, sondern er schloß noch obendrein die Domänen, die Amtsstädte, die Güter in städtischem Besitze von der Wahl der Landräte aus. Und so in allem. Friedrich Wilhelm suchte den Klassenkampf mit dem Adel, Friedrich wich ihm aus. Was jener erkämpfen wollte, das wollte dieser erkaufen. Aber der Vater verstand viel besser, worauf es im Widerstreite der sozialen Interessen ankommt, als. der Sohn. Mochte Friedrich Wilhelm im Kriege gegen das Junkertum verhältnismäßig wenig erreichen, es war tatsächlich viel mehr, als das verhältnismäßig Große, das der berühmteste Selbstherrscher des achtzehnten Jahrhunderts erreicht zu haben schien. Die Steigerung der Souveränität, die Friedrich dem Adel abkaufen wollte, war eben deshalb ein leerer Dunst. Er gab das Wesen der Macht hin für ihren Schein. Es kam hinzu oder vielmehr: es hing mit der Verschiedenheit in dem fürstlichen Klassenbewußtsein der beiden Könige zusammen, daß Friedrich Wilhelm, der über wenig mehr als zwei Millionen Einwohner herrschte, täglich fünf bis sechs Stunden mit seinen Kabinettsräten, mit dem Generaldirektorium arbeitete; Friedrich II. aber, unter dem die Bevölkerungsziffer auf sechs Millionen anwuchs, machte täglich — mit Ausnahme der militärischen Revuen — alles in anderthalb Stunden ab, ohne die Minister zu hören, ja mit geflissentlicher Mißachtung und Mißhandlung des Beamtentums. Menschlich mag es sehr wohl zu verstehen sein, daß ein geistig angeregter Mann sich möglichst schnell aus dem eintönigen und traurigen Räderwerk dieses Staatswesens zu seinen Dichtern, Musikern und Philosophen flüchtete; politisch ist es aber klar, daß Friedrich, der auf diese Weise das ganze staatliche Getriebe bis auf die kleinste Einzelheit zu übersehen und zu leiten glaubte, tatsächlich gar wenig übersah und leitete. Die wirkliche Regierung fiel dem Adel um so sicherer zu, als Friedrich ihm auch, abermals in scharfem Gegensatz zu seinem Vater, alle maßgebenden Stellen der bürgerlichen Verwaltung eingeräumt hatte. Der glänzende Schein seines aufgeklärten Despotismus verhüllte einzig ein wucherisches Junkerregiment. So setzt die Dialektik der ökonomischen Entwicklung, je „genialer" sie mißachtet wird, sich um so rücksichtsloser und verhängnisvoller durch.

Nach alledem kann von „Friedrichs Reformen im Innern" so wenig gesprochen werden, daß im Gegenteil unter seiner Regierung der preußische Militärstaat schon von der Höhe herabsank, die er unter Friedrich Wilhelm erreicht hatte. Als Friedrich den Thron bestieg, hatte er sich mit allerlei literarischen und philosophischen Fragen befaßt, aber seine staats-

und volkswirtschaftlichen Kenntnisse waren selbst für den Maßstab seiner Zeit sehr lückenhaft und unvollständig; die patriotische Fabel von dem praktischen Kursus, den er während seiner Küstriner Gefangenschaft in diesen Dingen gemacht haben soll, ist gegenüber den urkundlichen Zeugnissen selbst von den loyalen Geschichtsschreibern aufgegeben worden. Den Kleinbetrieb der Verwaltung, den er nach dem Willen seines Vaters in Küstrin lernen sollte, hat er nicht gelernt, nicht einmal lernen wollen; darüber sind die Klagen der Küstriner Behörden unerschöpflich, und der Kammerdirektor Hille tröstete sich mit der Hoffnung, daß er als Regent sich um die kleinen Einzelheiten nicht kümmern werde.(3) Aber bekanntlich kümmerte sich Friedrich als erster Diener des Staates um jeden Quark, und dazu verknöcherte die Art seines Selbstherrschertums noch die sehr unreifen Ansichten, mit denen er die Regierung angetreten Hatte. Mit Recht liebt ein bürgerlicher Ökonom hervor, daß Friedrich, wie er selbst und seine Dienerschaft im Jahre 1786 nicht anders gekleidet gingen, wie im Jahre 1740, so auch in anderen „wichtigeren Dingen zeitlebens bei den Anschauungen beharrte, die er als Kronprinz gewonnen hatte(4)". In den zwölfhundert Kabinettsordres, deren Wortlaut Preuß in den Urkundenbüchern zu Friedrichs Lebensgeschichte veröffentlicht, kann man von Jahr zu Jahr verfolgen, wie der König nicht eigentlich beschränkter — denn die Beschränktheit blieb immer dieselbe —, wohl aber eigensinniger und höhnischer gegen die fortschreitende Erkenntnis der Zeit wurde, und der vielgepriesene „Geist" dieser Verordnungen besteht tatsächlich nur in bald guten, bald schlechten, aber immer gleich peinlichen Witzen, worüber schon Lessing das erschöpfende Urteil gefällt hat: „Gott hat keinen Witz und die Könige sollten auch keinen haben, denn hat ein König Witz, wer steht uns für die Gefahr, daß er deswegen einen ungerechten Ausspruch tut, weil er einen witzigen Einfall dabei anbringen kann?" Dieser Gefahr ist Friedrich immer wieder erlegen, und nicht zum wenigsten deshalb ging bei seinem Tode ein frohes Aufatmen durch die ganze Bevölkerung, weil sein Despotismus, wie in den Grundsätzen beschränkt und zäh, so in ihrer Handhabung launenhaft und willkürlich war. Goethe hörte bei einem Besuche in Berlin „über den großen Menschen seine eigenen Lumpenhunde räsonieren"; schade, daß er nicht ein paar Jahre unter dem Szepter Friedrichs lebte, um zu einem gründlichen Verständnisse dessen zu gelangen, was es mit den „Lumpenhunden" einer- und den „großen Menschen" andererseits auf sich hat.

In erster Reihe das Heer, das Rückgrat des Militärstaates, verfiel unter Friedrich. Es ist lehrreich zu sehen, wie es ihm auch hier im Gegensatze zu seinem Vater mehr auf den Schein, als das Wesen der Macht ankam. Während Friedrich Wilhelm I. die ökonomische Ausbeutung des Heeres durch die ]unker nach Kräften hinderte, aber die Offiziere als seine Kameraden behandelte und den kameradschaftlichen Geist unter ihnen pflegte, ließ sein Sohn dem ausbeuterischen Treiben der Junker die Zügel schießen, während er sich nach dem Satze: Teile und herrsche! über die Offiziere als unnahbarer Kriegsherr aufzuschwingen und sie in jeder Weise zu schikanieren suchte. Gleich nach seiner Thronbesteigung stellte Friedrich dem Feldmarschalle seines Vaters, dem Fürsten von Dessau, einen anderen Feldmarschall in dem Grafen Schwerin entgegen, und indem er bald den einen, bald den ändern vorzog, bald den einen, bald den ändern zurücksetzte, verhetzte er sie mit so glücklichem Erfolge, daß sich durch das ganze Offizierskorps eine anhaltinische und eine schwerinische Partei bildete, die dann auch nach dem Tode ihrer Häupter sich zu befehden fortfuhren. Ein ähnlicher Zwiespalt, wie an der Spitze des ganzen Heeres, wiederholte sich an der Spitze jedes einzelnen Regiments, indem Friedrich die Beziehungen zwischen Chef und Kommandeur in „einer nicht genau bestimmten Mischung von Subordinations- und sogenannt kollegialischem Verhältnisse(1)" beließ. Bekannt ist der eifersüchtige Neid, womit Friedrich im Kriege jeden General verfolgte, der ihn selbst verdunkelte oder auch nur zu verdunkeln schien; wie oft haben Schwerin und Seydlitz seine „Ungnade" erfahren müssen! Aber die Verehrer des Königs tun ihm zu viel, wenn sie als eine Schwäche seines persönlichen Charakters zu beschönigen suchen, was tatsächlich nur eine Schwäche seiner sozialen Stellung war. Friedrich war durchaus kein miles gloriosus; in seinen Schriften spricht er mit anständiger Bescheidenheit von seinen kriegerischen Erfolgen, mit anständiger Offenheit von den Mißgriffen seiner Feldherrnlaufbahn. Aber er glaubte den unumschränkten Kriegsherrn nur so spielen zu können, daß er keinen Junker zu einer überragenden Stellung im Heere kommen ließ. Nach dem Siebenjährigen Kriege ernannte er überhaupt keinen Feldmarschall mehr und kaum zwei oder drei Generale; bei seinem Tode war unter den aktiven Offizieren des Heeres nur ein einziger, auch schon halb abgedankter General, der alte Tauentzien, Lessings bekannter Freund. Während der König aber auf diese Weise die militärische Tüchtigkeit des Offizierskorps verringerte, Jleß er seiner ökonomischen Entartung den freiesten Spielraum. Er verstand nicht seines Vaters Meinung, daß des Königs Kriegsknecht es .besser haben müsse als des Gutsherrn Ackerknecht; er gestattete dem Offizier den Kriegsknecht auszubeuten, wie nur immer der Junker den Ackerknecht ausbeuten mochte. In der ersten Hälfte von Friedrichs Regierung hielt die alte Überlieferung, die ewige Kriegsnot, vielleicht auch die frischere Kraft des Königs das Gefüge des Heeres noch einigermaßen aufrecht trotz aller Mißbräuche, die auch damals schon eingerissen  waren. Nachdem aber der Siebenjährige Krieg das alte Heer verschlungen hatte, wußte Friedrich nur ein neues Heer zu schaffen, das schon bei der ersten Probe, im Bayerischen Erbfolgekriege von 1778, vollständig versagte. Tn dem einen Feldzuge verlor es mehr Mannschaften durch Desertion, als im ganzen Siebenjährigen Kriege. Friedrich war überrascht, aber er wurde keineswegs durch den argen Mißerfolg belehrt. Er war wohl flink bei der Hand, mit dem Kassieren einzelner Offiziere, aber er änderte nichts an seinem falschen System. Während schon zu seiner Zeit scharfsichtige Beobachter erkannten, daß dies Heer verfallen mußte, weil es mehr und mehr von einer bevorzugten Klasse ausgebeutet wurde, warf Friedrich die bürgerlichen Offiziere, die er in den letzten Notjahren des Siebenjährigen Krieges hatte ernennen müssen, nach dem Frieden trotz aller Verdienste einfach aufs Pflaster und füllte die Lücken lieber durch adelige Abenteurer aus der Fremde, denn er sah nun einmal „den ersten Schritt zum Verfalle des Staates" in der Anstellung bürgerlicher Offiziere(6).

Hier aber lag die Wurzel des Übels. Die Kompaniewirtschaft der Junker, die Friedrich Wilhelm möglichst in Schranken zu halten suchte, nahm unter Friedrich zunächst folgende Gestalt an. Der König zahlte Jahr für Jahr die Monatslöhnung von drei Talern fünf Groschen auf den Gemeinen für die gesamte Kopfstärke der Kompanie. Die Exerzierzeit war aber schon von drei Monaten auf zwei zusammengeschrumpft; während zehn Monaten des Jahres durften die Hauptleute 50 bis 60 von den etwa 70 Inländern der Kompanie beurlauben und den entsprechenden Betrag der Gesamtlöhnung in die Tasche stecken. Dafür waren sie verpflichtet, den Bestand der Ausländer, 50 bis 60 Mann auf die Kompanie, vollständig zu erhalten, und zwar in bestimmten Größen - nicht unter fünf Fuß zehn Zoll. Im allgemeinen rechnete man den jährlichen Abgang von Ausländern bei einer Kompanie auf vier Mann, zu deren Ersatz ungefähr 500 Taler nötig waren. Ferner hatten die Kompaniechefs für die Instandhaltung der gelieferten und den Ersatz der fehlenden kleinen Montierungsstücke zu sorgen. Immer aber blieb ihnen ein bedeutender Reingewinn(7). Die Beschaffung der großen Montierungsstücke (Rock, Hose, Weste, Hut oder Mütze, Strümpfe und Reiterstiefel) besorgte die Kleiderkasse des Regiments, für die jedem Unteroffizier und Gemeinen ein Teil der Löhnung abgezogen .wurde; von dem monatlichen Solde gingen ein Taler fünf Groschen für Kleider und sonstige Regimentsunkosten drauf.

Diese Kompaniewirtschaft rührte im wesentlichen noch aus Friedrich Wilhelms Zeit her, so sehr sie unter Friedrich auch schon dadurch verschlechtert worden war, daß jedes Gegengewicht gegen die durch diese ganze Wirtschaft immer wieder angereizte Ausbeutungslust der Junker fehlte. Nach dem Siebenjährigen Kriege entschloß sich der König aber zu einer „Reform", die dem Fasse den Boden ausschlug.. Er entzog nämlich einem großen Teil der Regimenter, besonders denen, die im Kriege seine Unzufriedenheit erregt hatten, die eigene Werbung. Er ließ den betreffenden Kompaniechefs etwa noch 30 oder 20 oder auch nur 10 Beurlaubte zugute kommen, den Rest nahm er auf eigene Rechnung, wofür aus der sogenannten „großen Werbung", die er selbst betrieb, die abgehenden Ausländer ersetzt wurden. Zunächst ergab sich daraus eine erhebliche Verschlechterung des Menschenmaterials. Bei der eigenen Werbung hatten die Kompaniechefs immerhin ein gewisses Interesse, auf einen möglichst starken und zuverlässigen Menschenschlag zu sehen; je weniger Abgang von Ausländern sie hatten, um so größer war ihr Profit. Des Königs Werbeoffiziere hatten gerade im Gegenteile das Interesse, den verrufensten Menschenkehricht aus aller Herren Länder auf zutreiben, denn der war am billigsten zu haben, und je billiger sie warben, um so mehr profitierten sie an den Werbegeldern. „Es gibt Offiziers, die den Menschenhandel so gut verstehen wie die Juden, welche den Engländern und Franzosen ihre Sklaven für die Kolonien liefern", schrieb der preußische Leutnant Rahmel, nachdem er in den amerikanischen Dienst übergetreten war. Boyen aber schreibt von den Ergebnissen der „großen Werbung", man könne ohne Übertreibung sagen, daß von den jährlich in die Armee eintretenden ausländischen Rekruten höchstens die Hälfte leichtsinnige, aber nicht durchaus verdorbene Menschen waren, während die andere Hälfte aus nichtsnutzigen Wesen bestand, die das Desertieren aus einem Dienste in den anderen, um sich im neuen Handgeld berauschen zu können, zum Gewerbe ihres Lebens machten, in der Zwischenzeit aber durch Betrug und Diebstahl sich eine Zulage in ihrer Garnison zu erhaschen suchten(8). Um dies Gesindel, dessen unausgesetzte Exzesse den Soldatenstand in den übelsten Ruf brachten, einigermaßen bändigen und an die Fahne fesseln zu können, war die gewaltsamste Behandlung notwendig, und diese wirkte dann wieder im höchsten Grade demoralisierend auf die besseren Elemente der Truppe zurück. Um nur eins zu erwähnen: man legte den schlechten Soldaten, namentlich zur Überwachung während der Nacht, zu einem guten ins Zimmer; gelang dem schlechten dennoch die Desertion, so mußte der gute unbarmherzig Spießruten laufen. Die Soldatenmißhandlungen stiegen ins Unerträgliche; die „abscheulichen Stubenexekutionen" gewannen damals zuerst ihren unheimlichen Ruf; Selbstmord und Wahnsinn rafften die noch nicht jeden Ehrgefühls baren Rekruten dahin(9). Und mit alledem noch nicht genug. Die inländische Rekrutierung verdarb auf diese Weise auch vollständig. Der Kriegsdienst war die entehrendste und peinvollste Strafe in preußischen Landen geworden und wurde zuletzt vom Könige auch als solche verhängt,' so über Preßvergehen, wie wir schon gesehen haben. Die natürliche Folge davon war, daß alle Bevölkerungsklassen, die überhaupt noch etwas zu verlieren hatten, vom Kriegsdienste „eximiert" werden mußten. Man durfte gar nicht daran denken, den höherentwickelten westlichen Landesteilen mit der Kantonpflicht zu nahen, eine ökonomische Notwendigkeit, deren bitteren Beigeschmack sich Friedrich durch die Behauptung versüßte, daß der rheinisch-westfälischen Bevölkerung „Treue und Ausdauer im militärischen Dienstverhältniss fehle". Aber auch in den ostelbischen Provinzen reichten die „Exemtionen" herab bis auf die Arbeiter, die „nützliche Gewerbe trieben". Für die Enrolierung blieb nur übrig einerseits landstreicherisches und verbrecherisches Gesindel, andererseits die — ärmste Armut, der jedes Mittel zur Flucht und zum Widerstande fehlte, es sei denn, daß die Einen sich den Daumen verstümmelten, was den König zu besonderen verbietenden Edikten veranlaßte, oder daß die Anderen sich für Schinder- und Scharfrichterknechte ausgaben, welche erdichtete Infamie sie im Bayerischen Erbfolgekriege aber auch nicht vor Aufnahme in die Freikorps schützte. Treffend nennt Boyen die Rekrutierung unter Friedrich eine „an der Armut ausgeübte Gewalttat".

Ferner aber hatte die „Reform" des Königs noch eine andere verhängnisvolle Seite. Wenn er die Einkünfte der Junker-Offiziere durch die „große Werbung" schmälerte, so waren diese braven Patrioten keineswegs geneigt, sich ihren Profit schmälern zu lassen. Für das, was ihnen der Kriegsherr nahm,. erholten sie sich an dem Kriegsknechte. Die Kompaniechefs bewirtschafteten ihre Aushebungsbezirke wie eine Art Eigentum; das Grauen der Bevölkerung vor dem Kriegsdienste gab ihnen trotz aller „Exemtionen" willkommenen Anlaß zu allerlei Erpressungen; mit barem Gelde mußten sich -die Kantonisten, auch wenn sie gar nicht zum Kriegsdienste herangezogen werden durften, die Erlaubnis zur bürgerlichen Niederlassung und zur Verheiratung einhandeln. Dann aber wurde eine neue Form der Beurlaubung erfunden. Der König hatte 1763 bestimmt, daß wenigstens 76 sogenannte Diensttuer auf die Kompanie beständig bei den Fahnen bleiben sollten, aber bald mußte er nachgeben, daß auch von diesen 76 noch 26 Mann als Freiwächter, d. h. da es sich zumeist um Ausländer handelte, innerhalb der Garnisonmauern beurlaubt werden konnten. Aus den 26 machten die Hauptleute aber oft 40 und noch mehr, so daß für zehn Monate des Jahres höchstens 30 bis 40 Mann auf die Kompanie bei den Fahnen standen; der Sold der Freiwächter, die selber sehen mochten, wo sie Beschäftigung fanden, fiel in die Tasche der Hauptleute. In dasselbe Gebiet gehört es auch, daß die inländischen Rekruten, die bei ihrem Eintritt in das Heer zunächst ein Jahr unter den Waffen bleiben sollten, schon nach einmaliger Exerzierzeit ohne jede Rücksicht auf ihre militärische Ausbildung beurlaubt wurden. Weiter wurden die Kleiderkassen wahre Goldgruben für die Junker-Offiziere. Sie verschlechterten die Montierungsstücke, um in ihren eigenen Geldbeutel zu wirtschaften. Sie kürzten den Schnitt der Röcke, wodurch eine bedeutende Anzahl Ellen des Zeuges gespart wurden. Die Weste der Soldaten wurde nach und nach von der junkerlichen Profitwut ganz verspeist; man begann damit, ihre Ärmel abzuschneiden und endete damit, sie durch einen zwischen den vorderen Rockklappen angenähten Lappen zu markieren. Ein leckeres Gericht für die Hauptleute war auch das Schuhzeug der Mannschaft; „wenn Dido", so schreibt der schon erwähnte Leutnant Rahmel, „aus einer Kuhhaut den Platz zur Erbauung einer Stadt schnitt, so wollen die Kapitäns aus den Schuhsohlen ihrer Kompanie den Plan zu ei« paar Rittergütern schneiden". Anderes, beispielsweise wie bei der Lieferung der Fourage für die Kavallerie die Bauern übers Ohr gehauen wurden, wie in den Listen gestorbene Soldaten als lebend fortgeführt, wie bei den Revuen die Lazarette ausgeleert wurden, um die Rotten zu füllen, und sonstige Einzelheiten dieses höchst raffiniert ausgebildeten Gaunersystems übergehen wir; die angeführten Tatsachen genügen zur Erklärung dafür, daß Boyen die Offiziere dieses friderizianischen Heeres nicht mehr,Soldaten, sondern „wuchernde Krämer" nennt.

All dem Unwesen sah der König ruhig zu. Höchstens daß er mal eine Order gegen das Überhandnehmen der Freiwächter erließ, aber wenn sie nicht half, so gab er sich auch zufrieden. In dem Heere selbst fehlte jede Kontrolle, denn auch, wenn der Hauptmann zum Obersten oder General aufrückte, behielt er eine Kompanie; diesen Fleischtopf nahm er bis zu den höchsten Chargen mit, und da somit alle höheren Offiziere Krähen waren, so hackte keiner dem ändern die Augen aus. Was dabei aus dem kriegerischen Geiste dieser Offiziere wurde, liegt auf der Hand. Die preußischen Historiker pflegen, wenn sie das friderizianische Heer feiern, als drastischen Gegensatz die Kriegsknechte des Bischofs von Hildesheim anzuführen, an deren Hüten geschrieben stand: Gib Friede, Herr, in unsern Tagen! Nun, an den Hüten der preußischen Hauptleute und Obersten war das freilich nicht zu lesen, aber um so breiter stand'das friderizianische Offizierkorps nach dem Siebenjährigen Kriege auf diesem frommen Wunsche. Denn da die „wuchernden Krämer" nur im Frieden ausbeuten konnten, so begreift man leicht, wie anfeuernd der Krieg auf den „Heldengeist" dieses „Heldenheeres" wirkte. Erst die ökonomischen Voraussetzungen des friderizianischen Heeres erklären die ganze Schmach* von 1806, erklären den feigen Verrat der Junker-Offiziere, erklären das frohe Aufatmen, womit viele Tausende von Soldaten nach der Niederlage die Fahnen verließen, erklären endlich die ingrimmige Freude der Bevölkerung über die zermalmenden Schläge, mit denen die „Federbüsche" für den scheußlichen Wucher von Jahrzehnten gestraft worden waren. Aber es ist fraglich, ob das Heer zur Zeit von Jena noch ganz so schlecht war, wie in den letzten Jahrzehnten des Königs Friedrich. Denn etwas von dem Hauche der Französischen 'Revolution war doch über die Elbe gedrungen, und einzelne Offiziere, wie Scharnhorst, Blücher, Gneisenau, auch tüchtige Junker, wie York, hatten gar manches an der Heeresverfassung gebessert.
 

Anmerkungen:

1) K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 3, Berlin 1946.

2) So will ich und so befehle ich. Die Red.

3) Koser, Friedrich der Große als Kronprinz, 91 f.

4) Röscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland, 414.

5 Fouqué, Lebensbeschreibung des Generals Fouqué, 55.

6) Oeuvres 9, 186.

7) Jähns 3, 2259. Nach Pertz, Gneisenau l, 51, bezog selbst Gneisenau. an dem kein Verdacht unredlichen Gewinns haftet, von seiner Kompanie bis 2000 Taler jährlich.

8)  Erinnerungen aus dem Leben des General-Feldmarschalls Hermann v. Boyen 1. 195 ff. Boyen ist der berühmte Schüler von Scharnhorst, der Freund und Gesinnungsgenosse von Gneisenau, Grolman, Clausewitz, der preußische Kriegsminister von 1814 bis 1819, der nach dem endgültigen Siege der junkerlichen Reaktion in den Karlsbader Beschlüssen sein Amt niederlegte. Seine Memoiren sind ein höchst bedeutendes Werk, das unter der preußischen Legende die fürchterlichsten Verheerungen anrichtet, worauf hier leider nicht näher eingegangen werden kann. Es sei aber ausdrücklich erwähnt, daß die obige Darstellung der friderizianischen Kriegsverfassung teils auf Boyens Memoiren, teils auf dem großen, schon mehrfach angezogenen Werke des Generalstabsmajors Jähns beruht. Andere Quellen, wie das bekannte, von der preußischen Geschichtsschreibung als tendenziös angefochtene und jedenfalls nicht in gleichem Maße quellenmäßige Werk von Mirabeau-Mauvillon sind absichtlich unberücksichtigt geblieben.

9) Wie der Reichskanzler v. Caprivi noch nach dem Erscheinen von Boyens Erinnerungen, von allen anderen urkundlichen Zeugnissen abgesehen, im Reichstage bestreiten konnte, daß die Soldatenmißhandlungen der Kitt des friderizianischen Heeres gewesen seien, ist ein völliges Rätsel. Der Stock gehörte zu diesem Heere, wie der Schatten zum Körper, und1 wenn er leider auch noch im deutschen Heere der Gegenwart eine jammervolle Rolle spielt, so geschieht es deshalb, weil dies Heer eben kein „Volk in Waffen" ist, sondern mit der allgemeinen Wehrpflicht wesentliche Teile der friderizianischen Kriegsverfassung verbindet. Solange es ein bevorrechtetes, als besondere Kaste von Heer und Volk abgesondertes Offizierkorps, eine besondere militärische Gerichtsbarkeit, grausame Arreststrafen, die an gewissem Raffinement fast noch die friderizianischen Kriegsartikel überbieten, und anderes der Art mehr gibt, werden auch die Soldatenmißhandlungen nicht aufhören. Mit Verboten ist dagegen nichts zu machen. Sie sind gar nicht einmal eine Errungenschaft „moderner Humanität", sondern auch nur eine Überlieferung des Söldnerheeres; das erste Verbot der Soldatenmißhandlungen hat sogar schon der Kurfürst Friedrich Wilhelm am 29. Januar 1688 erlassen. Die Mißhandlungen, die darin gerügt sind, können sich übrigens nicht entfernt mit den schaudererregenden Torturen messen, die der bekannte Erlaß des Herzogs Georg von Sachsen aufzählt.

Editorische Hinweise

*) Die Teilüberschriften stammen nicht vom Autor.

Franz Mehring: Friedrichs aufgeklärter Despotismus,entnommen aus: derselbe, Historische Aufsätze zur preußisch-deutschen Geschichte, 2. Auflage, Berlin 1946, S. 59-70

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