trend spezial:  Die Aufstände in Nordafrika

RIO: Für ein neues Ägypten! Für ein neues Tunesien!
 

02/11

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Welche Perspektiven gibt es für die Revolutionen in arabischen Ländern?

In den letzten zwei Monaten sind Millionen Menschen in Tunesien, Ägypten, Jordanien, dem Jemen, Algerien und anderen arabischen Ländern gegen ihre diktatorischen Regime auf die Straßen gegangen. Diese Regime, welche für Jahrzehnte an der Macht waren (23 Jahre im Fall von Tunesien, 29 Jahre im Fall von Ägypten), sind nun erschüttert worden. Massive Polizei und Geheimdienstapparate (180.000 PolizistInnen und Spitzel im Fall von Tunesien, 1,8 Millionen im Fall von Ägypten) waren nicht in der Lage, die Revolte einzudämmen. Der tunesische Präsident Zine El Abidine Ben Ali wurde am 14. Januar gezwungen, aus dem Land zu fliehen, während der ägyptische Präsident Mubarak am 11. Februar zurücktreten musste.

Die imperialistischen Mächte, die seit Jahrzehnten über die Halbkolonien in Nordafrika und dem Nahen Osten geherrscht haben (1), wollen eine sogenannte “Stabilität” sicherstellen, d.h. die Wahrung der alten Regime mit geringen Änderungen im Personal. Aber besonders in Ägypten hat die ArbeiterInnenbewegung in der letzten Woche mit Streiks und zunehmenden, radikalen Forderungen eine immer zentralere Rolle gespielt. Das wirft die Frage auf: Wie können die Forderungen der Massen nach demokratischen und sozialen Rechten erfüllt werden? Wir möchten von einem revolutionär-marxistischen Standpunkt aus Perspektiven für die Revolution in den arabischen Ländern präsentieren.

Illusionen in die Demokratie

Die Proteste in der arabischen Welt sind im Wesentlichen Hungerrevolten, die durch die hohe Arbeitslosigkeit und die extreme Armut angestoßen wurden. Dennoch bestimmen demokratische Illusionen die Proteste. Nach Jahrzehnten diktatorischer Herrschaft glauben viele Menschen, dass die Demokratie alles zu ändern vermag. Die westliche Presse zitierte einen Protestierenden wie folgt: “Die Demokratie könnte Ägypten aus der Armut führen.” (2) Jedoch ist die Armut der arabischen Länder ein Ergebnis der Vorherrschaft der imperialistischen Mächte, nicht der Korruption der lokalen Regierungen. Die Einführung der bürgerlichen Demokratie, ohne wesentliche Änderungen in den wirtschaftlichen Strukturen, wird Arbeitslosigkeit und Hunger nicht beseitigen – die hungernden Massen können keine Stimmzettel essen!

Die USA und verschiedene europäische Länder versuchen, die demokratischen Forderungen auf ihre eigene Weise zu erfüllen, in dem sie neue Marionetten installieren, die ihrer imperialistischen Herrschaft eine “demokratischere” Fassade geben könnten. Das ist in Ägypten besonders wichtig, wo das Mubarak-Regime “pax americana” (eine geopolitische Ordnung im Interesse des US-Imperialismus) mit seiner vorbehaltlosen Unterstützung für den zionistischen Staat Israel garantiert hat. Aber die Großmächte sind noch unsicher darüber, wie sie diese Art vom “Übergang zur Demokratie” vollbringen sollten.

In Tunesien haben die Großmächte immer noch keine Repräsentationsfigur gefunden, die für die Bevölkerung annehmbar wäre, aber auch die imperialistischen Interessen in der Region absichern könnte. In Ägypten schwankte das Weiße Haus wochenlang zwischen Unterstützung für Mubarak (oder Mitglieder der Mubarak-Clique wie den Vizepräsidenten Omar Suleiman) einerseits und für neue Gesichter (”demokratischere” aber ebenso pro-imperialistische Figuren wie Mohamed ElBaradei) anderseits. Erst, als es klar war, dass Mubarak die Macht nicht halten konnte, stemmten sie ihr Gewicht hinter das ägyptische Militär. Dieser “Übergang zur Demokratie” bedeutet, dass sie das korrupte und repressive Regime selbst auffordern, die Verfassung zu reformieren!

Gegen diese Art des “Übergangs”, der kosmetische Änderungen durchführen soll, um die Regime intakt zu lassen, fordern MarxistInnen, dass eine verfassungsgebende Versammlung das politische System des Landes neu gestaltet. Jedoch ist es absolut klar, dass jede Art der wirklichen Demokratie nur auf den Ruinen des alten Regimes und seines Repressionsapparats aufgebaut werden kann. Nur wenn die arbeitenden Massen die politische Macht und auch die Reichtümer ihrer Länder in ihre eigenen Hände nehmen, werden sie im Stande sein, ein “neues Ägypten”, ein “neues Tunesien” usw. zu schaffen. Deshalb können nur verfassunggebende Versammlungen, die sich auf die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen stützen, der Armut und der Abhängigkeit von den imperialistischen Mächten ein Ende setzen machen. Natürlich würden verfassunggebende Versammlungen und neue Verfassungen alleine die gesellschaftlichen Verhältnisse in den arabischen Ländern nicht fundamental ändern – aber sie könnten eine zentrale Erfahrung für die Massen sein, um zu diskutieren, wie ihre Länder funktionieren und auf diese Weise ihre Illusionen in die bürgerliche Demokratie zu prüfen und zu überwinden.

Illusionen in das Militär

Viele Menschen in Ägypten haben starke Illusionen das Militär, das als “professionell” und “unpolitisch” gesehen wird. Die Nachricht, dass das Militär nach dem Rücktritt von Mubarak die Macht übernehmen würde, wurde mit Jubel begrüßt, besonders durch bürgerliche Führungsfiguren der Protestbewegung wie ElBaradei und den Google-Manager Wael Ghonim. Die ägyptische Armee nahm, um ihre Legitimität in den Augen der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, allgemein von Massakern während der Demonstrationen Abstand. Das ist teilweise dadurch begründet, dass in vielen Fällen normale Soldaten (von den Hunderttausenden von Wehrpflichtigen, die die Masse der ägyptischen Armee bilden) sich den Demonstranten anschlossen und sogar Anti-Mubarak-Slogans auf ihre Panzer schrieben. Die Generäle ihrerseits hatten Angst, dass ein Schießbefehl Meutereien provoziert hätte.

Im Unterschied zu den einfachen Soldaten, ist Ägyptens Offizierskaste durch tausende Fäden mit dem Pentagon in Washington verbunden. Im Laufe der letzten 30 Jahre haben sie ungefähr 60 Milliarden Dollar vom US-Imperialismus erhalten. Die Generäle, genauso wie Mubarak, haben Milliarden durch korrupte Geschäfte mit den imperialistischen Mächten verdient. Sie waren bereit, Mubarak zu opfern – als ihnen das Ausmaß der Proteste keine andere Wahl gab – aber sie werden alle notwendigen Maßnahmen treffen, um das System zu verteidigen, das ihre Privilegien sichert. Deshalb sollten die Protestierenden kein Vertrauen ins Militär und dessen Versprechungen zeigen, dass es einen “allmählichen Übergang zur Demokratie” organisieren würde. Stattdessen müssen sie systematisch Selbstverteidigung organisieren, um die Macht der reaktionären Offiziere zu brechen. Marxistinnen rufen die einfachen Soldaten zur Bildung von Räten auf, damit sie ihre Kommandeure selbst wählen können. Soldaten, die Unterstützung für die Protestbewegung ausdrücken, müssen aufgefordert werden, ihre Waffen in den Dienst von gewählten Strukturen der Protestierenden zu stellen.

Leider drangen die Illusionen in die Armee bis in die radikal Linken hinein – manche Linksradikale sehen die Armee von vor einigen Jahrzehnten als eine progressive Kraft oder eine “Volksarmee” (3). Die ägyptische Armee unter Gamal Abdel Nasser, die die Verstaatlichung von einigen imperialistischen Eigentümern wie dem Suez-Kanal durch kontrollierte Mobilisierungen und ein Bündnis mit der stalinistischen UdSSR verteidigte, war aber nie eine “Volksarmee”. Die Regierung von Nasser stellte eine Form des Bonapartismus dar: Eine bürgerliche Regierung, die Verstaatlichungen durchführte, nicht um die Bourgeoisie zu enteignen, sondern um mehr Spielraum gegenüber dem Imperialismus zu gewinnen und Bedingungen zu schaffen, unter denen eine nationale Bourgeoisie aufblühen konnte (4). Illusionen in den Nasserismus und seine bürgerliche Ideologie des “arabischen Sozialismus” können die Protestbewegung nur in eine Sackgasse führen. Eine echte “Volksarmee”, die absolut notwendig ist, um das alte Mubarak-Regime zu zerschlagen, kann nicht auf einem “nationalistischen” oder “patriotischen” General basieren, sondern nur auf der Bewaffnung der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen in Form einer Miliz unter demokratischer Kontrolle der Massen.

ArbeiterInnen in Bewegung

Der revolutionäre Prozesse in Tunesien und Ägypten wird in der bürgerlichen Presse als die Arbeit von jungen Facebook-BenutzerInnen und islamistischen Untergrundgruppen dargestellt. Die meisten DemonstrantInnen, die in den westlichen Medien zitiert werden, stammen aus dem gebildeten, städtischen Kleinbürgertum. Doch das Klima für die Revolte wurde durch die ArbeiterInnenbewegung geschaffen. Seit 2008 gab es einen Aufschwung der ArbeiterInnenkämpfe – einschließlich Massenstreiks in Tunesien und Ägypten (5). In der letzten Woche ist die ArbeiterInnenbewegung Ägyptens in die erste Reihe der Proteste gelangt, und soziale Forderungen nach Arbeitsplätzen oder besseren Löhnen ersetzen allmählich abstrakte Forderungen nach Demokratie (6). Ein bürgerlicher Kommentator aus Deutschland sagte dazu: “Diese Revolution verwandelt sich gerade von einer politischen in eine soziale.” In den letzten Tagen hat Ägypten Streiks in Textilfabriken, bei der Bahn, in Zeitungsredaktionen, sogar beim Suez-Kanal erlebt! Angesichts dessen droht die “demokratische”, militärische Regierung mit Repression und sogar mit einem Ausnahmezustand (7).

Die ArbeiterInnenklasse ist bis jetzt den “Demokratie”-Bewegungen und ihren bürgerlichen Führungen untergeordnet gewesen, die sich nur für die Schaffung neuer Modelle der imperialistischen Herrschaft interessieren. Aber die ArbeiterInnenklasse muss eine unabhängige politische Kraft werden, mit eigenem Programm und eigener Organisation, da nur sie die arabischen Länder fundamental verändern kann. ArbeiterInnen halten die Wirtschaft aufrecht – die Fabriken, Hotels, Minen usw., die in den Händen der imperialistischen Mächte und ihrer lokalen Lakaien sind – und das gibt ihnen die Macht, dem Imperialismus entschiedene Schläge zu versetzen; durch Streiks und Betriebsbesetzungen. Gerade mal ein paar tausend ArbeiterInnen in Ägypten haben die Macht, einen der wichtigsten Schifffahrtswege in der Welt zum Stillstand zu bringen! Um ihre Forderungen durchzusetzen, müssen sie Streikkomitees wählen und einen Generalstreik gegen die untrüglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie gegen die Militärregierung organisieren. Das könnte zur Bildung von ArbeiterInnenräte als Grundlage für die Macht der Arbeiterklasse in den arabischen Ländern führen.

Die demokratische Revolte muss in eine soziale Revolution weiterentwickelt werden! Nur die Enteignung der korrupten Herrscher und aller imperialistischen Mächte kann ein Ende der Arbeitslosigkeit, der Armut und des Hungers ermöglichen. Der immense Reichtum der arabischen Länder muss unter einem demokratischen Plan verwaltet werden. Natürlich kann das nicht vom existierenden Staatsapparat gefordert werden – dieser muss zerschlagen und von einer ArbeiterInnenn- und Bauern/Bäuerinnen-Regierung ersetzt werden, die sich auf Räte der ArbeiterInnen in Verbindung mit den Bauern/Bäuerinnen und einfachen Soldaten stützt. Kurz gesagt: Ein Programm der permanenten Revolution ist unumgänglich!

Um solch ein Programm durchzuführen, ist es notwendig, eine revolutionäre, marxistische Partei zu bilden, die die Vorhut der ArbeiterInnen und der Jugend organisiert. Solch eine Partei könnte die demokratischen und sozialen Forderungen der ArbeiterInnen und Jugend mit einer Strategie der sozialistischen Revolution verbinden, in dem sie durch ein System von Übergangsforderungen aufzeigt, dass nur die Macht der ArbeiterInnen die Probleme der Massen lösen kann. Das ist der Grund, warum wir für eine revolutionäre Internationale kämpfen, die auf den Traditionen der ersten vier ArbeiterInneninternationalen basiert, insbesondere auf der Vierten Internationale und ihrem Programm der Übergangsforderungen und der permanenten Revolution.

Wir fordern alle ArbeiterInnen- und linken Organisationen weltweit, besonders die Gewerkschaften, dazu auf, aktive Solidarität mit unseren kämpfenden Klassengeschwistern in der arabischen Welt zu organisieren. Die reformistischen Organisationen müssen zeigen, auf welcher Seite sie stehen: Auf der Seite der imperialistischen Regierungen mit ihrem Programm “des Übergangs” oder auf der Seite der arbeitenden Massen mit ihren Forderungen nach wirklicher Veränderung. Wir fordern alle diese Organisationen auf, aus Solidarität mehr als nur ein Wort zu machen: Sie müssen Demonstrationen, Spenden für ägyptische Gewerkschaften, Öffentlichkeitskampagnen, Solidaritätskomitees und weiteres organisieren. Um die bürokratischen Führungen dieser Organisationen zu zwingen, ihrer grundlegenden, internationalistischen Verantwortung nachzukommen, ist eine revolutionäre Opposition an der Basis der Gewerkschaften notwendig.

Die Situation in der arabischen Welt nach dem revolutionären Sturz von Ben Ali und Mubarak bleibt offen, selbst wenn die Protestbewegungen zahlenmäßig momentan zurückgegangen sind: Das traditionelle Herrschaftsmodell der imperialistischen Mächte ist erschüttert worden, und sie haben keinen klaren Plan, wie es wieder herzustellen ist. Die Massen setzen ihre Proteste fort und die ArbeiterInnenbewegung erhebt ihr Haupt. Die ägyptischen und tunesischen Revolutionen sind eine reale Möglichkeit.

  • Nein zu einem “geordneten Übergang”! Für revolutionäre verfassunggebende Versammlungen!
  • Nieder mit allen pro-imperialistischen Regimen in den arabischen Ländern!
  • Für die Bildung von ArbeiterInnenregierungen und ArbeiterInnenmilizen!
  • Für die Verstaatlichung des imperialistischen Eigentums unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für eine sozialistische Föderation Nordafrikas und des Nahen Ostens!

Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), 16. Februar 2011
Übersetzung: systemcrash, für RIO

Fußnoten
(1) Für mehr Infos über die marxistische Theorie des Imperialismus, siehe: Ali Hassan: “Was ist Imperialismus?
(2) Süddeutsche Zeitung, 31. Januar 2011
(3) Zum Bespiel sehen wir eine Erklärung der “Revolutionären SozialistInnen Ägyptens” sehr kritisch. Während ihr Aufruf zur Bildung von ArbeiterInnenräten und einer revolutionären Partei absolut richtig ist, ist es gefährlich zu sagen, dass die ägyptische Armee “nicht mehr die Armee des Volkes ist” – als ob sie das unter Nasser je war. Die Gruppe “Revolutionäre SozialistInnen” steht der Socialist Workers’ Party Großbritanniens und der Internationalist Sozialist Tendency nah.
(4) Für eine Analyse von “linkem” oder “populistischem” Bonapartismus, siehe den Artikel von Wladek Flakin über die Regierung von Hugo Chávez in Venezuela, die mit dem Nasser-Regime in Ägypten verglichen werden kann.
(5) Für einen Überblick der ArbeiterInnenproteste im Jahr 2008, siehe Juan Chingo: “Ascenso obrero en Egipto y la emergencia de los trabajadores inmigrantes de los países del Golfo“.
(6) Kareem Fahim and David Kirdpatrick: “Labor Actions in Egypt Boost Protests“. Dieser Artikel stützte sich auf einen in der Zeitung Al-Masry Al-Youm: “Tahrir demos accompanied by 5 labor protests to demand higher wages“.
(7) The Guardian: “Egypt’s army calls for end to strikes as workers grow in confidence“.

Editorische Anmerkungen

Wir bekamen den Hinweis auf Spiegelung von den AutorInnen.
Erstveröffentlicht wurde der Text auf: http://www.onesolutionrevolution.org