trend spezial:  Die Aufstände in Nordafrika

Die Massen halten es nicht aus in Eurafrika
Revolten in Algerien, Tunesien und Ägypten

von der Gruppe "vonmarxlernen"

02/11

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Angesichts des Aufstands in Nordafrika lernen wir täglich, dass Demokratie eine komplizierte Sache ist. Die Rede von der Herrschaft des Volkes heben sich europäische Politiker lieber für die heimischen Nationalfeiertage auf. Wenn die Massen, wie in Tunesien und Ägypten auf die Straße gehen, um ihre Regierungschefs zum Teufel zu jagen, hüten sich Merkel, Sarkozy und Obama vor falscher Parteilichkeit: Niemals würden sie den zornigen Massen einfach Recht geben und Ben Ali oder Mubarak ihrerseits auffordern, das Land zu verlassen. Denn diese Figuren sind ihre Kreaturen und Europas schöne demokratische Ordnung ist untrennbar verbunden mit dieser Herrschaft. Auch wenn sie das gar nicht so wahrnehmen, rennen die Aufständischen dort unten insofern auch gegen europäische  und amerikanische Interessen an.  Deshalb steht für Europa und den Westen  viel auf dem Spiel, wenn ein „Diktator“ wie in Tunesien die Staatsmacht einfach aus der Hand gibt – denn die ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in diesen Ländern sind in Absprache mit und unter Anleitung der EU und der USA zustande gekommen.

Deshalb bemühen sie sich jetzt auch krampfhaft um den richtigen Ton: Den Aufstand haben sie ganz und gar nicht bestellt, Demokratie gepredigt dagegen sehr wohl: Also rufen sie jetzt beide Seiten dazu auf, Gewalt zu unterlassen. Das sollten sich die Demonstranten überall auf der Welt merken – von der Durchsetzung des Volkes gegen eine verhasste Staatsmacht halten die westlichen Ordnungspolitiker gar nichts. Außer sie haben den Aufstand selber bestellt, mit viel Geld, CIA und Konrad-Adenauer-Stiftung aus der Taufe gehoben wie damals im Fall der ukrainischen „orangenen Volksrevolution“ gegen den Einfluss Russlands. Oder wenn es gegen das zum Abschuss freigegebene Regime im Iran geht, wo Obama und Merkel nichts lieber sähen als einen Volksaufstand nach ägyptischem Vorbild.
In diesem Fall würden sie den Massen bedingungslos Recht geben – in den aktuellen Fällen lieber nicht.
Jetzt überschlagen sich die westlichen Journalisten dabei, in Ägypten und Tunesien die Kandidaten für eine alternative Machtübernahme zu finden und vor die Mikrofone zu bekommen, denn sie wissen, nichts ist gefährlicher als ein „Machtvakuum“. Die Einführung von demokratischen Verfahrensweisen in Arabien braucht nämlich als Voraussetzung die Fortführung der „stabilen Herrschaft“. Alle, die glauben, der künftige Souverän sei das Volk, täuschen sich und müssen lernen, dass die Staatsmacht sich niemals von den Massen abhängig machen darf. Denn diese haben jetzt einen Anspruch darauf, von kompetenten, unbelastetem politischem Personal – die Faz vermisst „einen natürlichen Anwärter auf eine Führungsrolle“ (Faz 14.1.) - und unterstützt von vielen europäischen Ratgebern wieder zur Ruhe, von der Straße weg gebracht und ordentlich regiert zu werden. Dass die Kämpfe und Plünderungen auf der Straße weitergehen, zeigt ja jetzt, wie wichtig es ist, dass wieder „Stabilität“ einkehrt.

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Die EU-Politiker haben Ben Ali, Mubarak  und seinen Kollegen jahrelang das europäisch zertifizierte Attest ausgestellt, ökonomisch alles richtig gemacht zu haben. Genau die Verhältnisse, die die Massen in Algerien und Tunesien, Marokko, Jordanien und Ägypten nicht ausgehalten haben, sind Zustände, die in engster Absprache mit unseren EU-Politikern und in Verträgen hergestellt und herbei regiert wurden. Mit ihren Verträgen hat die EU durchgesetzt, dass Agrar- und Industrie-Subventionen in Algerien, Ägypten und Tunesien, die zum nationalen Aufbau beitragen sollten, beendet wurden. Auch dort sollte mit aller Konsequenz der Kapitalismus, wie er in Europa und im Rest der Welt herrscht, freigesetzt werden.

Diese Anpassung Nordafrikas an den EU-kontrollierten Weltmarkt war erfolgreich, davon zeugen die Stellungnahmen der Investoren. Die Hungeraufstände haben diesmal nicht in den notorisch dafür in Frage kommenden Staaten  des Kontinents stattgefunden, sondern in den nordafrikanischen Musterländern der EU. Und man kann sie auch nicht als Krisensymptome abtun, denn sie fallen ausgerechnet in die Zeit des „größten Wachstumsschubes“ den die Region je gesehen hat.
„Viele Firmen, die sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus Kostengründen in Osteuropa niedergelassen haben, setzen jetzt auf das nordwestliche Afrika. Die Karawane hat Tunesien, Algerien und Marokko entdeckt....Der früher kaum beachtete Markt von 80 Millionen Menschen gilt als interessanter Standort: Seit 2003 sind 50 Milliarden Euro an ausländischen Direktinvestitionen in die drei Länder geflossen, wobei Marokko die Nase vorne hat....Tunesien holt auf ...Im vergangenen Jahr ging es rund: Ausländische Bankinstitute wie BNP Paribas stockten lokale Beteiligungen auf. Handelsgiganten wie Carrefour eilten scharenweise nach Nordafrika. Energieriesen wie Gazprom unterzeichneten lukrative Explorationsdeals. Immobilienprofis aus aller Welt standen Schlange, um beim Bau von Hotelresorts, Shopping-Palästen und Bürokomplexen mitzumischen. Telekom-Firmen wie die französische Orange kämpften erfolgreich um Lizenzen. Schließlich sicherten sich Baukonzerne wie die österreichische Strabag fette Aufträge. Am laufenden Band siedeln sich internationale Industriekonzerne im neuen Dorado der Niedriglöhne an: Die französische Lafarge etwa investierte in ein Zementwerk in Algerien. Der indische Stahlkonzern ArcelorMittal erweiterte ebendort seine Produktion. Renault baut eine nagelneue Fabrik im marokkanischen Tanger. Die Modefirma Benetton weitet ihre Fertigung in Tunesien zügig aus. Erst Anfang Oktober eröffnete der Hutchinson-Konzern aus Hongkong in Sousse eine Niederlassung. Und wo regelmäßige Öleinnahmen sprudeln, sind nicht nur Verträge mit hiesigen Energieunternehmen interessant, sondern auch die Verwendung der Einnahmen verspricht gute Geschäfte. Bis 2014 will Algerien gemäß einem Fünf-Jahres-Plan 286 Milliarden Dollar in die Infrastruktur stecken – in Eisenbahnen, die Metro in Algier, Autobahnen, Spitäler, Wasseraufbereitung und -speicher, aber auch in den Bau von einer Million Wohnungen sowie in den Agrar- und Bildungsbereich. Die ehrgeizigen Vorhaben sollen laut Präsident Abdelaziz Bouteflika, der auf soziale Marktwirtschaft schwört, ohne Auslandskredite, sondern aus eigenen Mitteln finanziert werden.“ (Wienerzeitung 27.10. 2010)
Die guten Geschäftsaussichten in der Region und die Entwicklung der Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung scheinen sich in entgegen gesetzte Richtungen zu bewegen. Dabei beziehen die zufriedenen Investorenstimmen explizit die Landwirtschaft in ihre positive Bilanz ein, denn in diesem Bereich lassen sich in Algerien und Tunesien glänzende Geschäfte machen, ist es doch der ideale Erweiterungsmarkt der EU-Agrarunion, die sich selbst in den letzten Jahren aufgemacht hat, zum global Player im Weltagrargeschäft zu werden. „Positiv ist, dass sich der Bruttoproduktionswert in der Landwirtschaft von 2000 bis 2007 (in Algerien) auf etwa zehn Milliarden US-Dollar verdoppelt hat und die jährlichen Wachstumsraten im Agrarsektor im Durchschnitt auf 6,5 Prozent gestiegen sind.“ (www.backnetz-eu, 16.2.2009)
Die europäischen Journalisten wissen durchaus, dass es die für und mit der EU „liberalisierte“ Landwirtschaft ist, die den Leuten das Überleben schwer macht. Die absehbaren Folgen sind seit Jahren bekannt: „Auswirkungen der Liberalisierung (in Tunesien) bedrohen den einheimischen Agrarsektor, verursachen Preisänderungen und erhöhen den Importbedarf an Nahrungsmitteln. Mehrere Faktoren machen gerade den Agrarsektor der Maghrebländer für die Folgen der Wirtschaftsliberalisierung besonders sensibel: Die Rolle der Landwirtschaft für die Sicherung der Beschäftigung, der Anteil der Agrarerzeugnisse an den Exportprodukten und die soziopolitischen Implikationen der Preise von Grundnahrungsmitteln. Die Liberalisierung wirkt sich in verschiedener Hinsicht auf den Agrarsektor aus: In der Verminderung bzw. Abschaffung der Subventionen der landwirtschaftlichen Produktion... und der Öffnung der Märkte für auswärtige Produkte (Reduzierung bzw. Verminderung der Einfuhrzölle etc.). Innerhalb der unterzeichneten Vereinbarungen haben Marokko und Tunesien wie auch die EU Sonderabkommen abgeschlossen, die spezielle Konditionen für den landwirtschaftlichen Sektor vorsehen. Vor allem die Getreide-, aber auch die Zuckerproduktion werden von der erhöhten Konkurrenz betroffen sein....“ (http://inef.uni-due.de/page/documents/Houdret_Maghreb.pdf Uni Duisburg Gtz Juni 2008)

„Die Landwirtschaft zeigte 2007 eine wenig zufriedenstellende Entwicklung. Die Konzentration auf bestimmte landwirtschaftliche Produkte für den Export, wie Olivenöl und Datteln, hat dazu geführt, dass der tunesische Agrarsektor gegenüber internationalen Preisschwankungen empfindlich geworden ist. Getreide, Fleisch und Milch müssen inzwischen in relativ hohen Mengen importiert werden und gerade bei diesen Produkten wurden 2007 starke Preissteigerungen registriert. Die Handelsbilanz für den Bereich Grundnahrungsmittel, die in den drei Jahren von 2004 bis 2006 einen Überschuss ausgewiesen hatte, ist 2007 ins Minus geraten.“ (Germany Trade & Invest  2008)

Jeder Versuch, die „heimische“ Landwirtschaft durch hohe Einfuhrzölle (üblich waren bis zu 30%) vor der Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen, ist ein Angriff auf das wesentliche Geschäftsmittel von Agrarunternehmen, nämlich durch die freie Kalkulation von Einkaufs- und Verkaufspreisen den Absatz der eigenen Waren zu sichern. Wenn sich die Ländereien in Nordafrika für Spekulation auf Rendite eignen, dann als Hinterland der EU: Schon wegen der Nähe zum potentiellen Absatzmarkt. Und genau so, als Nutzung eines benachbarten Marktes mit zahlungskräftigen Kunden, haben sich die  Reformprogramme die Entwicklung ihrer heimischen Landwirtschaft ins Visier genommen.
Um den interessierten, kapitalkräftigen landwirtschaftlichen Unternehmen Perspektiven zu eröffnen, galt es, ihnen einen lukrativen Absatzmarkt zu schaffen, denn Export heißt die Devise, mit der das moderne Agrargeschäft voran kommt – und dieser Weg eröffnet sich nur auf Gegenseitigkeit: Erst, wenn Tunesien, Ägypten und Algerien ihrerseits die Zölle auf industrielle und agrarische Produkte fallen lassen, öffnet die EU ihre Grenzen – diese „Anpassung“ und „Öffnung“  ist mittlerweile in allen drei Ländern weit fortgeschritten. Und mit dieser Öffnung haben die nordafrikanischen Staaten es geschafft, eine gänzlich freie Sortierung durch die geschäftstüchtigen Unternehmen einzuleiten, was zu produzieren sich in ihren Ländern lohnt und was nicht. Wein und Olivenöl lassen sich auf den neuen EU-Märkten am besten absetzen – und hier finden sich auch am besten europäische Partnerunternehmen, die Kapital und Kredit hereinbringen, um das nötige Land zu erwerben und die Produktion zu sichern. Weizen war ein Produkt, das man in Algerien, Tunesien und Ägypten gut anbauen konnte - in früheren Jahren sogar ein Exportartikel. Mittlerweile schrumpfen die Flächen, auf denen Getreide angebaut wird, die Weizenproduktion braucht riesige Äcker, die nordafrikanischen  Böden lassen sich rentabler für den Anbau von Wintergemüse für Europa nutzen.
Ernährung der Bevölkerung mit Lebensmittelanbau auf den vorhandenen Böden – das ist jetzt kein selbstständiger  Zweck des Staates mehr – der geht davon aus, dass dies in einer modernen Marktwirtschaft Abfallprodukt des internationalen Geschäfts mit dem Abbau sowie dem Ex- und Import von Lebensmitteln zu sein hat – abhängige Variable des  Weltagrarmarktes eben. So ist es sehr modern und systemgerecht, wenn in Tunesien, Algerien und Ägypten die Leute mitten in einem Wirtschaftsboom hungern. Nicht weil es keine Produkte gibt im Lande – das ist nur eine Frage des lohnenden Im- und Exports und der sachgerechten Spekulation mit den und auf die zu erwartenden Preise - sondern weil sie sie nicht bezahlen können.

Die Befolgung des Gebotes, alle Schranken des Privateigentums nieder zu reißen, hat auch in den Bereichen Industrie und Dienstleistungen gewaltige Gegensätze hervor gebracht: denn Algerien verfügte über eine relativ weit entwickelte Grundstoffindustrie (Stahl- und Zementproduktion), die in den 60er Jahren aufgebaut wurde. Tunesien glänzte mit einem hoch entwickelten Gesundheitssystem aus realsozialistischen Zeiten, das nun  zur Privatisierung frei gegeben wird und vielen Medizinunternehmen zu neuen Geschäften verhelfen wird (schon jetzt gibt es einen Medizintourismus, der die günstigen Operationspreise in diesem Land ausnutzt).

„Die Privatisierung staatlicher Unternehmen (in Tunesien) hat darüber hinaus in vielen Fällen zur Entlassung oder Frühpensionierung von Angestellten geführt; in Algerien hat so bereits eine knappe Million Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlassen müssen. ....überall laufen Privatisierungen der Betriebe an....“ (ebd)
Gerade weil die Musterschüler Europas ganze Arbeit geleistet haben und die kapitalistische Devise einlösten – nur lohnende Arbeitsplätze sollen überleben! – gibt es einerseits für die internationalen Investoren so viel zu jubeln: Nur wenn die „Unsitte“ aufhört, „marode Staatsunternehmen zu subventionieren“ und „künstlich am Leben zu halten“, eröffnet sich ein freies Geschäftsfeld für Anleger aller Art. Das andere Resultat – der Aufbau einer neuen Reservearmee aus teilweise gut ausgebildeten Menschen ohne Arbeit – wird dann allseits bejammert.

Die europäischen Journalisten wissen um den Zusammenhang zwischen der Zurichtung der Wirtschaft in den nordafrikanischen Ländern für die EU und der Verarmung der Bevölkerung, also dem Anwachsen von „Protestpotential“. „In Ägypten lebt die Hälfte der Menschen an der Armutsgrenze. ...Es fehlen (immer) mehr Jobs, die Preise steigen immer weiter...als Folge von Mubaraks Wirtschafsliberalisierung“ (Avenarius, SZ, 27.1.2011)  
Und  „Das tunesische Wirtschaftswunder ...beruhte auf Ansiedlung von Zulieferindustrie für Europa, Billigtourismus und Assoziierung mit der EU. Wie sich jetzt zeigt, war dieses Modell nicht die Lösung des Problems sondern langfristig eine ihrer Ursachen..“ (Chimelli, SZ 13.1.2011)
Und was ist da zu tun?  Wie der letzte Rettungsvorschlag des scheidenden Präsidenten Ben Ali zu beurteilen ist, dazu mussten sich die internationalen Kommentatoren ja nicht mehr äußern: 300 000 Arbeitsplätze zu schaffen, wäre das nicht gerade die Rücknahme des Reformprogramms gewesen, unerlaubte Subventionen zu streichen? Nur wegen den Hungeraufständen genau das wieder einzuführen, was als Todsünde eingesehen wurde: Arbeitsplätze schaffen, die nach dem Maßstab des marktwirtschaflichen Geschäfts gar keine sind – dazu darf es ja nach den Prinzipien von IWF und EU nie wieder kommen. So hat der zuständige Mann von der SZ denn auch die eigentliche Ursache der Krise gefunden:
Sie liegt in einem Prozess namens „Bevölkerungsdruck“, der für ein unlösbares Dilemma sorgt: „Als Tunesien 1956 unabhängig wurde, hatte es 5 Mio Einwohner, jetzt sind es gegen 11 Mio. So viele Jobs gibt es nicht.“ (SZ, Chimelli,  13.1.2011)

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Dass die Presse den Institutionen der EU und den Regierungen in Berlin und Paris jetzt vorwirft, sich „nicht genügend um die Entwicklung im Maghreb und in Ägypten gekümmert“ zu haben, ist also ein Hohn. Was dort in Sachen „Wirtschaftsentwicklung“ passiert, ist ihr Projekt. Die Anpassung von Landwirtschaft und Industrie an den in Europa herrschenden Status politökonomischer Verwaltung ist eingebettet in eine Reihe von Verträgen. Da gibt es die Union für das Mittelmeer, die den Barcelona-Prozess ersetzt, das Europäische Partnerschaftsabkommen, (das für ganz Afrika vorgesehen ist) und bilaterale Verträge von Marokko, Algerien, Tunesien und Ägypten mit der EU: die Assoziationsabkommen, sowie die Festlegung von Freihandelszonen.
Einfach die Erpressbarkeit der nordafrikanischen Staaten nutzen und ihnen Bedingungen abzuhandeln, die dem europäischen Kapital Freiheit in der Region verschaffen und sie ansonsten in Ruhe zu lassen, kommt für EU-Politiker nicht in Frage. Sie arbeiten an einem Ordnungsprogramm, das die ganze Region unter politische Vorgaben stellt. Sarkozy hat die Parole „ Europas Zukunft liegt im Süden“ ausgegeben und gleich den großen Wurf einer Union für das Mittelmeer hingelegt. Europa lässt alle Anrainerstaaten in Paris zur Unterschrift antreten. Jetzt gilt ein Vertrag, der beides schafft: Den südlichen Staaten des Mittelmeeres mit ihren nationalen Ambitionen ein Angebot zu machen, das diese nicht ausschlagen können und die Staaten mit der Erfüllung eines Aufgabenkatalogs zu beglücken, der zeigt, wie moderne politökonomische Subsumtion Nordafrikas unter die Ordnungsmacht EU voranzubringen ist, die den Kolonialismus wirklich hinter sich lässt.
„Europa und die Mittelmeeranrainer sind durch ein gemeinsames Ziel verbunden: gemeinsam eine Zukunft des Friedens, der Demokratie, des Wohlstands und des sozialen und kulturellen Verständnisses zu bilden.“ (Präambel UfMM) Nur Gaddafi weigert sich, zu unterschreiben, weil er, obwohl von Wohlstand die Rede ist, alte, imperialistische Pläne am Werk sieht.
Alt sind die Pläne sicher nicht, denn die verlangen nie Dagewesenes von den Anrainerstaaten, die Staaten im Norden müssen sich nicht ändern, sie sind bestimmende Elemente der Ordnung, die die südlichen erst noch heraus bilden müssen.
Nicht von ungefähr heißt der Obertitel der UfMM und auch der Assoziationsverträge „Demokratisierung“. Und diesem Maßstab kann man angesichts der laufenden Unruhen entnehmen, was die EU an „Umbau“ der Gesellschaften bestellt hat und was nicht:
Mit dieser Festlegung auf Einführung von Demokratie, von den Anrainerstaaten unterschrieben, verschafft sich die EU einen bleibenden Einspruchtitel und eine politmethodische Verpflichtung jedes einzelnen Landes gegenüber den europäischen Institutionen.
Es sollen keine anderen Ziele für die Politik gelten, als die abstrakten, im Aquis Communitaire, festgelegten. Das heißt durchaus etwas Materielles und da überlässt der unterschriebene Assoziationsvertrag nichts mehr dem Zufall:
„Das vorliegende Länderstrategiepapier (LSP) legt einen strategischen Rahmen für die Zusammenarbeit der EU mit Tunesien im Rahmen des Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments (ENPI) für den Zeitraum 2007-2013 fest (nationale Zuweisung). Im Nationalen Richtprogramm (NRP) wird die operationelle Antwort der Kommission für  den Zeitraum 2007-2010 dargelegt, wobei insbesondere die Ziele, die erwarteten Ergebnisse und die in den wichtigsten Bereichen der Zusammenarbeit
einzuhaltenden Bedingungen behandelt werden.“
„Tunesien verzeichnet seit 15 Jahren ein jährliches Wirtschaftswachstum von 4 bis 5%und führt unter Wahrung des sozialen Zusammenhalts Wirtschaftsreformen durch. Die wirtschaftlichen und sozialen Erfolge haben zur Herausbildung einer bedeutenden Mittelschicht geführt, die eine größere Beteiligung an den Entscheidungsprozessen sowie eine höhere Transparenz und politische Verantwortlichkeit wünscht (wachsende Bedeutung von Zivilgesellschaft und Privatsektor). Diese Entwicklung wird für eine dynamischere Staatsführung in einem offeneren Umfeld von entscheidender Bedeutung sein. Des Weiteren setzt eine Steigerung der privaten Investitionen, die unabdingbar ist für die Aufrechterhaltung des raschen Wirtschaftswachstums, eine Verbesserung des Geschäftsklimas und des Justizapparates voraus. ...Tunesien hat im politischen Bereich Nachholbedarf, auf manchen Gebieten erheblichen– etwa auf dem der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.“ (EU Assvertrag Tunesien, 2007)

Wohlgemerkt: Das ist keine Aufforderung an die Massen, auf die Straße zu gehen. Hier bekommen die amtierenden Regierungen eine Road-Map vorgelegt, wie sie für „Stabilität“ zu sorgen haben – und zwar angeleitet durch und kontrolliert von den Institutionen der EU. Das ist die politische Absicherung des in Gang gesetzten ökonomischen Umbaus – Europa ist darauf bedacht, eine „Bürgergesellschaft“ zu schaffen, die sich als stabile Stütze der Herrschaft erweist.
Die Elemente dieses Aquis sind Vorgaben in Sachen Good Governance, die die Herrschaftsmethode betreffen: Die „größere Beteiligung der Menschen an den Entscheidungsprozessen“ ist dann freilich so vorgesehen, dass die Bürger ihre Regierung wählen dürfen. Damit diese dann ermächtigt ist und einige Jahre freie Hand hat, das Notwendige durchzusetzen. Statt auf der Straße Unruhe zu stiften, können die Bürger derweil ihre Sorgen einer im Parlament vertretenen Oppositionspartei überantworten – und ihre Entscheidungsmacht an das schöne System des Ausgleichs der Interessen abgeben. So ist gewährleistet, dass regelmäßig eine legitime Ermächtigung der Regierung herauskommt und sie ihre Gesetzgebung ohne Beeinträchtigung durch Widerstand fortsetzen kann. Was die EU an demokratischen Verfahren vorsieht und wo sie Reformbedarf einklagt, verrät sehr schön, dass sie gegen den Herrschaftszweck der amtierenden Diktaturen keinen Einwand hatte. Sie machen ihre Sache sehr gut, nur sollen sie die Bürger besser einbeziehen, um potentiell reibungsloser, weil besser legitimiert ihren Geschäften nachgehen zu können. Anders gesagt: Demokratie ist einfach langfristig stabiler – das loben die hiesigen Regierungen an ihr, und sie müssen es ja wissen!

Dabei hat die EU freilich gleich mit daran gedacht, dass in Zukunft Staats- und Privateigentum besser getrennt werden muss. Denn das Problem der Korruption ist ihr ja nicht unbekannt. Die angesagten Reformen betreffen hier ein weites Feld, nämlich das der Investitionsschutzabkommen, das Banken- und Gesellschaftsrecht, Steuerrecht, Konkursrecht.. usw. Das alles fällt unter das Stichwort: „wirtschaftspolitische Steuerung, Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz mit der EU“
„Artikel 8 der tunesischen Verfassung gewährleistet Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Trotz  dieser verfassungsmäßigen Garantie stellen Beobachter in der Praxis gravierende Behinderungen dieser Freiheiten fest. Internationale Beobachter und internationale Organisationen haben regelmäßig die Praxis der Belästigung von Menschenrechtsaktivisten verurteilt und machen auf die Notwendigkeit aufmerksam, 13 dass auch im Kampf gegen den Terrorismus die Meinungsfreiheit gewahrt bleiben muss.“ (Assozvertrag 2007)

Angesichts der Ereignisse bekommen die hier niedergelegten Gebote einen schönen Klang:  Ben Ali hätte sich Demonstrationen, Protestversammlungen und böse Kundgaben abweichender Meinungen ersparen können, wenn er sie erlaubt hätte. Denn der einzig aus den Assoziationsverträgen herauslesbare Grund für Opposition ist ja, dass man den Bürgern eine solche nicht als Recht gewährt. Die oben abgehandelten materiellen Reformen haben Ben Ali und Konsorten ja aufs genaueste erledigt – so dass die EU als vorstellbaren Grund für Instabilität nur vermeidbare, der Sache nach und gemessen an den eigentlich grundguten Absichten der Regierung gar nicht nötige Einsprüche kennt. Hätte man die wachsende „Zivilgesellschaft“ also eingebunden, würde auch die gewünschte Stabilität  einkehren – so sieht die EU die nordafrikanischen Völker.
Allerdings nicht ganz: Denn mitten in die Forderungen nach Einführung von Demokratie verweist die EU auf Leistungen der amtierenden Diktaturen, die einen Aufschub der Bürgerbeteiligung rechtfertigen können: Terrorismusbekämpfung kann wichtiger sein als unkluges Beharren auf Einführung von freien Wahlen zur Unzeit. In Algerien hat die EU schon einmal vorgeführt, dass sie im Prinzip das Ausrotten einer islamistischen Partei (FIS) befürworten muss, wenn die bei den Wahlen doch glatt eine unerwünschte Mehrheit erhält. Einen zweiten Iran wollte die EU natürlich nicht bekommen. Deshalb betrachtet sie die laufenden Ereignisse mit großer Skepsis.

In Tunesien konnte sich die EU zu allem noch auf einen Verfassungsparagrafen berufen, wenn sie dem mittlerweile per Haftbefehl gesuchten Ben Ali jedes Jahr aufs neue bescheinigte, Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie gemacht zu heben:
„In Artikel 8 untersagt die tunesische Verfassung, dass sich eine politische Partei in ihren Grundsätzen, Zielen, Aktivitäten oder Programmen grundlegend auf eine Religion, eine Sprache, eine Rasse, ein Geschlecht oder eine Region stützt.“

Schön, wenn in der Freiheitsgewährung der Islamismus gleich mitbekämpft wird. Im Fall Ägypten hat den EU-Politikern und den Kommentatoren immer schon eingeleuchtet, dass man Mubarak ein paar Zugeständnisse machen muss, weil Demokratie ja eine Form der Herrschaft ist und niemals Selbstzweck. Schon Ende 2010, angesichts des schönen Wahlergebnisses, schrieb der SZ-Reporter:
„Das Land ist ein unverzichtbarer militärischer und politischer Verbündeter in der notorisch instabilen Nahost-Region. Dafür, dass Ägypten selbst ruhig bleibt,...bekommt das Land Militär- und Wirtschaftshilfe in Milliardenhöhe aus den USA. Deshalb schweigen europäische Regierungen höflich, wenn Wahlen erwartungsgemäß gefälscht und jede Art von Opposition geschurigelt wird. Diese realpolitische Doppelmoral ist in Teilen nachvollziehbar.“ (Avenarius, SZ, 3.12.2010)

In einer der wichtigsten Menschenrechtsfragen gab es schon seit Jahren keinen Millimeter Differenz zur Regierung Ben Ali (und zu den anderen Staatschfes).
„Tunesien ist ein Land der Auswanderung und des Transits in Richtung Europa (Anhang 3 – Migrationsprofil). Die tunesische Rechtslage weist ein rechtliches Vakuum hinsichtlich der Feststellung des Flüchtlingsstatus auf, was Staatsangehörige aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara daran hindert, sich in Tunesien niederzulassen. Obwohl Tunesien die Konvention von 1951 unterzeichnet hat, gibt es nur wenige Flüchtlinge im Land.  Das Flüchtlingshochkommissariat führt ca. 100 Akten im Zusammenhang mit Asylbewerbern und Flüchtlingen. Die Landesgrenzen werden von der Polizei überwacht. Die tunesischen Behörden arbeiten eng mit den italienischen Behörden zusammen und führen immer effizientere Patrouillen an der Küste durch.“ (Assvertrag 2007)
In dieser Frage ist Tunesien, wie Marokko und Algerien, eine Dependance europäischer Innenpolitik geworden. Einen schöneren Ausweis gelungener Demokratisierung gibt es wohl nicht.

Zusammen genommen sind diese Selbstverpflichtungen, auf die sich der tunesische und die anderen nordafrikanischen Staaten in Assoziationsverträgen festgelegt haben, allerdings nicht nur Maßstäbe, an denen die amtierende Regierung sich zu bewähren hat und in regelmäßigen Überprüfungsverfahren messen lassen muss.
Es sind Verpflichtungen der ganzen Gesellschaft gegenüber, also auch an die politische Klasse gerichtet, die möglicherweise Ideen hervorbringt, die mit diesen Geboten nicht unter einen Hut zu bringen sind – wie der politische Islamismus oder Bestrebungen, einen arabischen Nationalismus und Volksstaat voran zu bringen.
Trotz ihres Drängens auf Demokratie hat die EU bisher auch eine gewisse Rücksicht darauf genommen, was überhaupt mögich war. Und da konnten Ben Ali und Mubarak bis gestern immer noch auf anerkannte Hindernisse verweisen, die für deren Administratoren auch einen Notstandsfall rechtfertigen: Wenn und solange Islamisten, arabische Nationalisten oder Kommunisten eine gewichtige Rolle in der Gesellschaft spielen, bestätigte die EU dem Diktator alle Gewaltmassnahmen als Wege zur Demokratie, die solche Tendenzen mit Strafen, Gefängnis, Folter und Schikane verhindert.
So wird ja gerade praktisch sichtbar, ob Ben Ali und Mubarak es in den vergangenen Jahren geschafft haben, genug Kommunisten und Islamisten aus dem Weg zu räumen und dem Volk  klarzumachen, dass es sich nicht lohnt, in jenen eine erfolgreiche Alternative zu sehen. Denn das ist der von der EU nicht bestellte und und eben deshalb auch „gefährliche“ Erfolgstest auf die Reife zur Demokratie, die Tunesien gerade durchläuft. Er wird in hundertfachen Bemerkungen der „Realisten“ sichtbar, die sich nicht vom Feiern des ein paar Wochen alten Sieges davon ablenken lassen, die beglückwünschten Tunesier auf ihre demokratietauglichen Qualitäten zu befragen: 

Ist die Lage und die Konkurrenz der neu antretenden Parteien Gewähr für Stabilität, also dafür, dass der Umsturz als Revolution ein Witz bleibt, weil

• alle vorher eingerichteten Fragen von Eigentum, von EU-Recht in Sachen Bewegungsfreiheit fürs Kapital unangetastet bleiben,

• der Umsturz  an der ökonomischen Lage der Massen, die  Ben Ali ja gerade erst für den Kapitalismus von staatlicher, sozialistischer Gängelei befreit hat, nichts ändern,

• die Lebenslage der Massen weiter nichts als eine abhängige Variable der Spekulation von freien Investoren bleibt, dann wird der Aufstand von der EU gleich gebilligt werden. Sonst aber sicher nicht.

Editorische Anmerkungen

Der text wurde erstveröffentlicht auf der Website www.vonmarxlernen.de
Wir wurden um Spiegelung gebeten.