trend spezial:  Die Aufstände in Nordafrika

Tunesien: eine politische und soziale Bewegung
Wildcat-Interview mit zwei aktiven tunesischen Genossen

02/11

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Die ganze Welt hat den ersten Sturz eines arabischen karikaturhaft autokratischen und korrupten Regimes miterlebt, den man nicht mehr für möglich gehalten hat. Trotz der latenten Unzufriedenheit und punktuellen Erhebungen in den letzten Jahren hat der Aufstand alle Leute überrascht, auch diejenigen, die noch am meisten Kontakt mit der sozialen Realität hatten. Warum? Und wie schätzt Ihr die Ereignisse ein?
  • Den Aufstand hat praktisch niemand vorhergesehen, aber er war für viele, auch uns, keine Überraschung.
     
  • Wir können das, was passiert ist, als Volkserhebung charakterisieren: das ist keine Revolution in traditionellen, strengen und umfassenden Sinn. Was geschehen ist, ist mit den Intifadas vergleichbar, den Erhebungen, den Revolten, die sich in den besetzten Gebieten in den 1990er Jahren abgespielt haben. Eine Volksbewegung für Demokratie, grundlegende Freiheiten und mit sozialen Forderungen: politische und soziale Forderungen überschneiden sich und gehen durcheinander.
    Man kann sagen, dass die Situation für diesen Sprung, diese Erhebung reif war, besonders seit den Vorkommnissen in der Region der Phosphatminen rund um Gafsa 2008. Die Bestandteile waren also schon vorhanden, und der junge Mann aus Sidi Bouzid, der sich am 17. Dezember verbrannt hat, war der Funke, der die gesamte Situation in Brand gesetzt hat. So lassen sich die Ereignisse charakterisieren. Das ist keine Revolution im Sinne einer politischen Bewegung, die eine besondere gesellschaftliche Kraft, eine gesellschaftliche Klasse, eine oder mehrere politische Gruppierungen an die Macht bringt. Eine solche Interpretation sollte man absolut vermeiden, sie schränkt nur den allgemeinen Rahmen der Analyse ein.

Diese Erhebung war im Wesentlichen gegen eine personifizierte Diktatur gerichtet und bestand im Grunde genommen aus einer antiautoritären Mobilisierung. Ben Alis Flucht am 14. Januar regelt natürlich nicht alle Probleme der tunesischen Gesellschaft: Denkt ihr, die Situation könnte in eine Revolution münden, so wie ihr sie definiert?

  • Die Linken denken das ... Sie sagen, man muss weitermachen, man muss die Bewegung bis zum Endsieg fortsetzen – mit Untertönen, die an die Bolschewiken erinnern ... Und das machen sie zur Zeit. Aber das ist keine Revolution, es ist ein Volkserhebung, die etwas erreicht hat: die Ausschaltung des großen Diktators und seiner Familie, die Aufdeckung des Ausmaßes der Korruption, die für die tunesische Regierung charakteristisch war, Kämpfe in den Betrieben, um die korrupten Funktionäre loszuwerden. Es gibt also eine allgemeine Bewegung zur Eroberung der Freiheit, die sich auf freie Wahlen und Pressefreiheit usw. beschränkt, es geht auch um Freiheit in den Betrieben, Verwaltungen usw. Alle haben sich jetzt von dieser Blockade befreit, die die Diktatur aufgezwungen und jetzt 54 Jahre aufrecht erhalten hat – denn es geht nicht nur um die Ära Ben Ali, sondern um die Einheitspartei am Kommando, die Staatspartei, die alles dominiert usw... Einzigartig an Ben Alis Regime ist, dass die Korruption die Grenzen des Vorstellbaren überschritten hat.
     
  • Man darf vor allem nicht den Fehler machen, den die Leute hier gerne in ihren Kommentaren machen. Unserer Meinung nach darf man niemals zwischen dem Regime Ben Ali, das aus dem Staatsstreich vom 7. November 1987 hervorgegangen ist, und dem Regime, das aus der politischen Unabhängigkeit Tunesiens im Jahr 1956 hervorgegangen ist, eine chinesische Mauer ziehen. Es gibt nicht wirklich einen Bruch, sondern eine Kontinuität. Kurz gesagt, das Regime der Einheitspartei, das von der Destur-Elite begründet wurde, deren politisches Symbol Präsident Bourguiba war, schuf die Voraussetzungen für den späteren Polizeistaat. Klarer ausgedrückt bestand es bestand aus der Konsolidierung des Staats- und Repressions-Apparates. Also gibt es zwischen beiden Regimen, vor und nach dem 7. November 1987, eine Kontinuität. Die jetzige Volksbewegung hat zum Ziel, die Behinderungen zu beseitigen, die sich grob als eine vom Destur-Regime aufgezwungene politische Ruhe von 1956 bis zum 14. Januar 2011 bezeichnen lässt. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, was passiert ist.

Das Regime ist gestürzt, aber schon seit langem ist der ganze Apparat des Staates, der Politik und der Verwaltung mit Kadern der RCD verseucht, die immer noch an ihrem Platz sind, ohne von den zahlreichen Unternehmen zu sprechen, die direkt dem Ben-Ali-Clan gehörten. Was passiert heute speziell an diesen Orten?

  • Zunächst muss man wissen, dass die Guthaben, der Besitz der Familie, des Ben-Ali-Clans 40 Prozent des BIP Tunesiens und 60 Prozent des Staatshaushalts betragen. In einem Zeitraum von zehn Jahren haben sie sich alles angeeignet, alle wesentlichen und lukrativen Zweige der tunesischen Wirtschaft: Flughafen, große Unternehmen, GSM (mobile Kommunikation), Telefonie, Gebäude usw.. Früher hatten die Beschäftigten Angst, zumal alles Eigentum der Staatsspitze war: Es gab also eine verstärkte Angst, doppelt so hoch wie im Rest der Bevölkerung. Nach dem Sturz von Ben Ali und seiner Familie wurden diese Unternehmen unter juristische Treuhandschaft gestellt, und in ihnen erlebt man zur Zeit Kämpfe und Protestbewegungen.

Genau, die Angst und die Niedergeschlagenheit, die derzeit die ganze Welt dominieren, wurde spektakulärerweise in Tunesien überall ein wenig überwunden. Heute wird frei über alles geredet, wie es in Frankreich das letzte Mal im Mai 68 geschehen ist: Was bedeutet das? Was sind heute die Aspirationen des tunesischen Volkes? Wie gehen die Leute die Zukunft an?

  • Das hängt ganz vom Zeitraum ab. Am Anfang, an den ersten zwei oder drei Tagen nach dem Sturz, ging es vor allem um die Korruption, die politischen Parteien und die Individuen, die daran gingen, der Situation Herr zu werden, die Macht zu übernehmen. Die Leute sagten: Da die Regierung immer noch an ihrem Platz ist, vier Minister gehören zum alten Regime, muss man die Demonstrationen bis zu ihrem Rücktritt fortsetzen. Andere denken, dass hinter dieser Bewegung Parteien stecken, die dabei sind, die Bewegung für ihre eigenen Interessen zu vereinnahmen, und sie fragen es sich wegen der befremdlich großen Zahl politischer Gruppierungen, sie fragen sich, wann diese gegründet wurden usw.. Was für sie im übrigen eine Entdeckung ist: Es ist das erste Mal, dass sie von politischen Organisationen sprechen hören. Es hat sich also herausgestellt, dass die Bevölkerung diese politischen Gruppierungen nicht kannte, nicht eine!: für sie gab es die zwei oder drei, die an der Macht waren, Punkt. Manche wollen zum Beispiel, dass man zum normalen Leben zurückkehrt, dass die Schulen wieder aufmachen, sie haben Angst vor der Zukunft. Einige von ihnen fürchten, dass die Armee die Dinge in die Hand nimmt, wenn die Bewegung weitergeht.
    Auch wenn sie verschiedener Meinung sind, über eines sind sich die Leute jedenfalls einig: sie haben einen Diktator, eine korrupte Familie, ein totalitäres Regime vertrieben, es gibt eine Bewegung, die dem Ausdruck verleiht, man braucht keine Angst mehr zu haben. Und das ist das Wichtigste. Die kleinen Meinungsverschiedenheiten in der Beurteilung der aktuellen Situation kann man verstehen. Aber in einem sind sich alle einig: es ist Schluss mit der Angst, Schluss mit der Unterdrückung, Schluss mit der Einheitspartei, der Rest ist zweitrangig.
     
  • Seit den ersten Tagen nach der Flucht des Diktators betrieb die amtierende Regierung – die kaum verändert wurde – eine Politik der Angst. Es gibt kleinbürgerliche Schichten oder allgemein die Mittelklasse, die nachdrücklich verlangen, dass man zur Normalität zurückkehrt: die Produktion soll wieder anlaufen, unsere Kinder sollen in ihre Klassen zurückkehren usw., also alles soll so bald wie möglich ein Ende finden. Auf der anderen Seite finden täglich Märsche, Demonstrationen, Protestkundgebungen statt.
    Es gibt also zwei Komponenten: Die spontane Volksbewegung, die ihre Rechte und ihre Forderungen durchsetzen will. Auf der anderen Seite gibt es kleinbürgerliche Gruppierungen, die die Bewegung vereinnahmen wollen für ihre privaten und, man könnte sagen, sektiererischen Interessen – denn das ist wirklich ein sektenhaftes Benehmen.

Bevor wir die kleinen politischen Manöver anschneiden, noch einige Fragen zum Prozess des Aufstands. Ihr kennt Frankreich und die gesellschaftliche Zersplitterung, die das Land verheert: Wie in allen Ländern, die nicht völlig vom Rückzug auf sich selbst, Egoismus und Gleichgültigkeit heimgesucht wurden, gibt es in Tunesien ein komplexes gesellschaftliches Leben, ein lebendiges und reagierendes Volk, das diesen Namen verdient: Inwiefern hat das in der Bewegung eine Rolle gespielt? Welche im Volk eingespielten Reflexe haben dem Aufstand geholfen?

  • Gewiss hat das eine Rolle gespielt. Diese Bindungen haben in den kleinen Städten und Dörfern eine Rolle gespielt, denn je größer die Stadt ist, desto weniger Beziehungen gibt es und desto loser sind sie. In den Nestern kennen sich die Leute alle. Das ist in Frankreich im ländlichen Milieu genauso. Man muss über die gesamte Konzeption von Urbanismus und Raumordnung nachdenken und sie überprüfen. Das ist ein enormer Stoff, aber entscheidend im Projekt einer authentisch demokratischen Gesellschaft. Die nachbarschaftlichen Beziehungen, die Familienbande, die Bekanntschaften haben eine Rolle gespielt. Es gibt keine kulturelle Besonderheit, die bewirkt, dass man genetisch dazu ausgestattet ist, Revolutionen zu machen ... Übrigens sagte man den Tunesiern nach, sie wären ein Volk von Angsthasen: Es hat sich gezeigt, dass das absolut falsch war. Sie sind mit vorbildlichem Mut gegen die Unterdrückung vorgegangen.

War das völlige Fehlen von Führern während des Aufstands, danach die Einrichtung von Stadtteilkomitees und das große Misstrauen der Bevölkerung gegenüber politischer Bürokratie nicht günstig für die Propagierung Eurer Vorstellungen und Praxis von direkter Demokratie?

  • Paradoxerweise riefen die hiesigen Stalinisten die Leute in ihren Flugblättern dazu auf, Volksräte zu bilden: das steht in völligem Widerspruch zu ihrem Diskurs und ihrer Ideologie. Das sind Wölfe: sie helfen dabei, dass sich solche Komitees konstituieren, um sie danach zu ihrem Nutzen an sich zu reißen: das hat man in der Geschichte schon gesehen... Aber sie haben sowieso keine Möglichkeit, das zu tun, und auch nicht die notwendige Klarsicht. Innerhalb eines Monats werden sich die Dinge auf jeden Fall klären: der zentrale Gedanke, der von der Bevölkerung ausgeht, ist der, dass dies unsere Erhebung ist und man will nicht, dass sie von den Parteien vereinnahmt wird. Das ist schon eine wichtige Errungenschaft. Was die Vereinnahmung angeht, sind alle dagegen, ob sie vom Staat kommt oder von der Opposition. Für uns gehen diese Positionen in Richtung direkte Demokratie, jedenfalls sind das die Voraussetzungen. Wir werden auf jeden Fall in diesem Sinne weiter aktiv sein.

Welche Perspektiven genau gebt Ihr Euch heute? Die Mitte Dezember begonnene Erhebung eröffnet tatsächlich eine Zeit der Ungewissheit und der Möglichkeiten: Wo stehen da die Bevölkerung einerseits und andererseits die politische Bürokratie? Denkt ihr, der Aufstand ist zu Ende, oder ist das nur ein Anfang?

  • Man kann die Dinge auf verschiedene Art sehen, das ist eine Frage der politischen Einschätzung. Wir denken, dass wir praktisch gerade das Ende der Bewegung erleben, zumindest auf der allgemeinen, nationalen Ebene – in den Regionen ist das anders. Es gibt zwei Sichtweisen. Zunächst die der Linken, der arabischen Nationalisten und aller sogenannten Angehörigen der Opposition – es gibt heute 26 politische Gruppierungen! Für sie gilt es, die Bewegung bis zum Ende fortzusetzen, um an die Macht zu kommen. Für uns ist das völlig unwichtig. Was man jetzt tun kann ist, die Revolution fortzusetzen, aber nicht in Form von Demonstrationen, Unruhen usw., sondern als Kämpfe überall dort, wo es möglich ist, in den Betrieben, in den Verwaltungen usw. Also das, was letzten Endes diese »Revolution« gebracht hat, dass die Leute keine Angst mehr haben, sich zu äußern und das nicht nur in den Zeitungen, im Internet, sondern vor allem am Arbeitsplatz, dort wo sie sind. Die Angst ist weg. Auf dieser Ebene wurde also ein Stadium überwunden, auf politischer Ebene wurde ein qualitativer Sprung gemacht. Aber man darf sich nicht die Illusion machen, dass die Bewegung weitergeht in Richtung einer sozialen Revolution mit Eroberung der Macht: das ist Abenteurertum, Infantilismus, und genau das spielt sich zur Zeit ab unter dem Druck der stalinistischen, arabisch-nationalistischen, baathistischen usw. Bewegungen, weil das für sie eine Gelegenheit ist, die es zukünftig nicht mehr geben wird und die sie ausnutzen, um die jungen Leute anzutreiben, um zu versuchen, die Massen zu mobilisieren und sie zu diesem Zweck zu instrumentalisieren. Wir glauben aber, dass das in Ergebnisse münden wird, die ihren Intentionen entgegengesetzt sind...

Wie in Frankreich haben die »verantwortlichen Politiker« nur das Ziel, selbst Teil der Oligarchie, der Herrschenden zu werden, die nur für ihre eigenen Interessen agieren. Denkt ihr, dass aus der Erhebung autonome Volksstrukturen entstehen könnten, bevor die politischen Cliquen die Angelegenheiten des Volkes an sich reißen?

  • Die Wiederinbesitznahme hat schon begonnen. Wir erleben einen Wiederzugriff, der nicht nur von den traditionellen Kräften kommt, sondern auch von den Gruppierungen der Opposition – genauer, sie wollen klipp und klar ihren Teil vom Kuchen, der Beute. Dieser Prozess spielt sich gerade vor unseren Augen ab. Die Eroberung der Freiheit ist die einzige wirkliche Errungenschaft in der Hinsicht, dass sich alle frei äußern, ohne etwas zu fürchten, so ist die Hauptstraß von Tunis, die Avenue Bourguiba, zu einem riesigen Diskussionsraum geworden: überall sieht man hier Leute, die diskutieren, die debattieren oder die demonstrieren... Alle zwei, drei Stunden findet nun eine Demonstration statt. Es ist also eine demokratische Bewegung, die sogar die Erfüllung sozialer Forderungen als Bestandteil der demokratischen Rechte sieht. So gibt es Demonstrationen vor den Behörden, den Gesellschaften, vor Firmensitzen, es gibt Petitionen, Besetzungen von Räume, Arbeitsstätten, um die Erfüllung von Forderungen zu verlangen, die schon 20 Jahre alt sind. Man kann es ein wenig mit wilden Streiks vergleichen, jedenfalls sind es die Voraussetzungen für wilde Streiks.
    Eine andere Errungenschaft ist die Bildung von Stadtteilkomitees. Diese Strukturen sind völlig spontan. Öffentlich und offiziell sind sie gegründet worden, um die Ordnungskräfte in der Aufrechterhaltung der Ordnung zu unterstützen, das ist die offizielle Terminologie. Tatsächlich konnten die Leute mit diesen Komitees jede Nacht Dampf ablassen, sich austoben, diskutieren, und haben so faktisch die Ausgangssperre der Regierung unterlaufen. Das bestätigt dann die allgemeine Tendenz, die man so zusammenfassen könnte: Seit die Massen damit begonnen haben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, nachzudenken, schaffen sie sich Strukturen, Komitees, Räte, Sowjets – die Bezeichnungen sind unwichtig – Schuras wie im Iran. Und das passierte überall: bei den Streiks 1946 in Kairo, im Iran 1978 und jetzt in Tunesien. Das stellt einen zusätzlichen Schritt in Richtung Volksmacht und Sowjets dar. Diese Dimension muss man unbedingt zu betonen.

Genau, die Aufstellung von Verteidigungsgruppen in den Stadtteilen gegen Plünderer und die Milizen Ben Alis haben heute nur eine Selbstverteidigungsfunktion. Könnten sie wirklich Keime einer direkten Demokratie gegen die oligarchischen Kräfte darstellen, die aus den nächsten Wahlen unvermeidlich hervorgehen werden? Was kann ihre Zukunft sein, wenn sich der Sicherheitsapparat wieder etabliert?

  • In der Tat sind die Stadtteilkomitees praktisch am Ende. Die Militärs haben uns gesagt: geht nach Hause, ihr werdet nicht mehr gebraucht, ihr habt eine gewisse Zeit eine Rolle gespielt, finito... Aber es sind Beziehungen zu den Nachbarn geknüpft worden. Vorher sagten sich die Leute nicht einmal Guten Tag. Sie haben jetzt Bekanntschaft geschlossen, sie diskutieren miteinander, sie kennen sich: es gibt eine Bewegung nachbarschaftlicher Hilfe, gegenseitiger Unterstützung, die vorher nicht existierte. Man hat auch mit den Soldaten während der Fraternisierung zusammen gegessen, Couscous, Suppe usw.

Parallel zum tiefen Bruch zwischen Volk und der tunesischen politischen Bürokratie gibt es also keine Selbstorganisation des Volkes mehr. Fürchtet ihr nicht, dass daraus wie in Frankreich am Ende eine tiefgründige Ablehnung gegenüber jeglicher Organisierung entsteht, sogar gegenüber jedem etwas allgemeineren Diskurs?

  • Nein. Die Leute sind nicht gegen das Organisationsprinzip: sie organisieren sich selbst, von alleine. Sie sagen: Wer sind diese Leute da, die uns im Fernsehen etwas erzählen wollen, uns Lehren erteilen wollen, uns etwas von der Revolution erzählen wollen? Alle sind hier revolutionär geworden, wir brauchen keine Berufsrevolutionäre. So ist das. Wenn die Leute uns sagen: Wir wollen keine Partei, was soll das mit all diesen Parteien und diesen neuen Leuten jeden Tag, die mit ihren Brillen im Fernsehen zu uns sprechen, um unsere Revolution zu vereinnahmen? Die Leute sind gegen alle diese Parteien, und das ist eine Errungenschaft! Die Leute wollen ihre Zukunft selbst kontrollieren.
    Es gab diese Verbrüderungen, diese Diskussionen, die das wesentliche Ergebnis des Aufstandsprozesses sind, aber die Spaltungen innerhalb der tunesischen Gesellschaft sind sehr tief: zwischen sozialen Klassen, zwischen Männern und Frauen, zwischen armen Regionen und den anderen, zwischen Volksvierteln und bürgerlichen, zwischen städtischem und ländlichem Milieu...
     
  • Gewiss. Um die brennenden Fragen aufzugreifen, im Innern des Landes gibt es zum Beispiel Regionen, die sich gegenüber den Küstenregionen immer ein wenig vernachlässigt fühlen, und das ist normal, denn die Bourgeoisie will nicht in diese wenig profitablen Regionen investieren. So gibt es große regionale Ungleichgewichte. Die Antwort der Linken darauf ist, dass investiert werden muss, Unternehmen gegründet, die Regionen entwickelt werden müssen: das ist eine im Wesentlichen produktivistische Antwort. Die UGTT (Allgemeine Union der tunesischer Arbeiter) bereitet ein Programm vor, dessen einziges Ziel die Erzeugung von ökonomischem Wachstum ist. Das wäre für sie die Lösung. Wie zu Zeiten der Kollektivierung betrachtet sich die UGTT als eine Partei, die an der Verwaltung des Landes mitarbeitet. Unsere Vorstellung ist völlig anders: Man sollte die technologischen, landwirtschaftlichen, sozialen usw. Optionen überprüfen. Man bräuchte ein System, das auf gegenseitiger Hilfe basiert: nur weil eine Region viel produziert, soll sie nicht alles an sich reißen. Man muss umverteilen, damit alle etwas von den Reichtümern des Landes haben. Wir fordern also eine gleichmäßige Verteilung unter Individuen, aber auch unter Regionen. Sidi Bouzid zum Beispiel, die Stadt, von der alles ausging, produziert 17 Prozent des Obsts und Gemüses Tunesiens, und dennoch haben die Leute dort nichts davon.

Es gibt also diese großen bleibenden Ungerechtigkeiten und gleichzeitig eine tief gehende Bewegung, die die ganze Gesellschaft und das ganze Land erfasst. Welche Forderungen sind genau in allen diesen Kämpfen gestellt worden?

  • Es gibt vielfältige Forderungen. In Tunesien gibt es viele Arbeiter ohne rechtlichen Status, schlecht bezahlte Tagelöhner. Und so ist es in den meisten Branchen, die mittleren und kleinen Unternehmen sind häufig Zulieferer für die großen europäischen Unternehmen. Die Arbeitsverhältnisse sind also wirklich beklagenswert. Z.B. gibt es ein Gesetz vom April 1972, das der damalige Premierminister Hedi N. eingeführt hat, das ausländischen Unternehmen die Möglichkeit einräumt, hier Fabriken zu eröffnen, die fünf Jahre von der Steuer befreit sind, wenn sie für den Export arbeiten. Sie genießen praktisch den Schutz des Staates, nutzen z.B. kostenlos die Infrastruktur unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit – und selbstverständlich gibt es weder Gewerkschaften noch sonst was, trotz miserabler Löhne.
    Und andererseits gibt es eher politische Forderungen. In den Unternehmen, den Behörden gibt es Korruption, Vitamin B, Vetternwirtschaft: es gibt heute eine ganze Bewegung gegen alle diese Praktiken, diese Mentalität. Es gibt z.B. sogar Polizisten, die für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße gehen, aber vor allem sind es die Arbeiter auf den Flughäfen, die städtischen Angestellten, das Pflegepersonal, die Arbeiter in Straßenreinigung und Müllabfuhr usw.. Für die Ärzte, ein Bereich, den ich kenne, zirkulierte z.B. eine Petition, die verlangte, dass von nun an die Beschäftigten keine schlechte Behandlung durch die Krankenhausleiter mehr akzeptieren sollen: sie wollen das Ende des Mandarinats. Es gibt auch rein ökonomische Forderungen, die aber auch eine politischere Dimension haben, da sie die Demokratie in allen Betrieben fordern. Das wichtigste ist: Wenn man von den Errungenschaften dieser Erhebung profitieren will, muss man in diesem Sinne weitermachen, daran arbeiten.

Ja, aber parallel dazu werden Wahlen vorbereitet, um eine gewählte Regierung zu etablieren. Was kann daraus entstehen? Wird daraus etwas anderes als ein kleinliches Spiel von machtbesessenen Oligarchen hervorgehen, wie man es aus allen Ländern kennt, in denen eine liberale Oligarchie, »repräsentative Demokratie« genannt, regiert?

  • ▶ Bestimmt gibt es diesen anderen Weg, der von anderen eingeschlagen wurde: die Demonstrationen fortsetzen, das System fertig machen, denn sie denken, dass sie stark genug sind, um diese Regierung zu stürzen. Klar, sie können recht haben. Das läuft im Rahmen der UGTT. Diese Organisation hat etwas in Tunesien Spezifisches: sie hat in diesem Land immer eine wichtige politische Rolle gespielt: z.B. beim Versuch der Kollektivierung in den 1960er Jahren. Das Kollektivierungsprogramm war das Projekt der UGTT. Danach, seit den 70er Jahren, hat sie den Aufstieg des entfesselten Kapitalismus unterstützt, das was man »liberale Demokratie« nennt. So war die UGTT immer eine Stütze des Systems. Weil die Erhebung von Beginn an auf breiter Front über die Parteikader, Gewerkschaften usw. hinweg ging, erweckt die UGTT nun den Anschein, mit ihr verbunden zu sein, sie springt auf den fahrenden Zug auf und vereinnahmt alle politischen Organisationen der Opposition. Z.B treffen sich heute alle Oppositionsparteien im Sitz der UGTT. Sie hat offensichtlich drei Minister für die nächste Regierung vorgestellt und sich dann zurückgezogen. Warum? Weil alle politischen, linken, arabisch-nationalistischen usw. im Kern kleinbürgerlichen Gruppierungen sich unter die Patronage der UGTT gestellt haben, die so die wichtigste politische Kraft im Land geworden ist. Sie ist also nicht mehr einfach eine Gewerkschaft, sondern sie ist praktisch eine Regierung innerhalb der Regierung geworden. Diese gemeinsame Front verhandelt gerade über die Bildung einer Regierung, in der alle diese Bewegungen, also 25, vertreten sind – und das ist unmöglich. So steht man vor großen politischen Auseinandersetzungen um die Plätze an der Macht...
     
  • Die UGTT ist das Gegenstück zur französischen CGT, sie wurde 1946 gegründet und war immer eine politische Kraft. Ich würde sogar sagen, eine politische Partei und ein Bestandteil der politischen Maschine der tunesischen Bourgeoisie. Seit ihrer Gründung beteiligte sie sich aktiv am nationalen Befreiungskampf und hat Tarifkämpfe immer hintangestellt. Der nationale Befreiungskampf und ab 1952 auch der bewaffnete Kampf stand immer im Vordergrund. Man kann sagen, dass die heutige Erhebung mit der von 1952 vergleichbar ist, die zur Bildung von Partisaneneinheiten führte, die in den Untergrund gingen und mit der Waffe in der Hand gegen die Kolonialisten kämpften, noch vor dem Ausbruch des algerischen Aufstands 1954. 1952 gab es eine Massenerhebung des Volkes, und die Geschichte trug sich so zu, dass die zweite Erhebung seit damals im Dezember/Januar 2011 stattfand. Solche Ereignisse gibt es nicht jeden Tag...

Andererseits hat die Armee von Anfang an eine sehr wichtige Rolle gespielt und trat als eine nicht kollaborierende Macht auf – ein General wurde kaltgestellt, weil er sich von den ersten Demonstrationen an weigerte, auf die Menge zu schießen – und am Ende, um einen Schein von Ordnung aufrecht zu erhalten: Was hat es damit genau auf sich? Und besteht darin nicht eine Gefahr, dass das Militär die weitere Entwicklung der Situation in der Hand behält?

▶ Ben Ali hat von Anfang an alles getan, um die Rolle der Militärs zu begrenzen. Er kommt selbst aus dem Militär und kennt daher recht gut die Gefahr, die die Armee für seine Macht darstellen könnte. Er hat im Gegenteil den Repressionsapparat des Innenministeriums verstärkt: heute gibt es 50.000 Soldaten, aber 220.000 Polizisten... Die Militärs wollten also von Beginn an nicht intervenieren, um die Schäden zu begrenzen. Aber danach, nach 24 Stunden, gab es eine totale Anarchie, provoziert durch die Abwesenheit der Polizisten, durch die Intervention des ehemaligen Verantwortlichen des Innenministeriums, der von Ben Ali ernannt worden war. Da haben die Militärs eingegriffen, aber nur, um die Ordnung wieder herzustellen. Für die Zukunft heißt das, dass ihr Eingreifen nur möglich ist, wenn sich die Situation zuspitzt und vor allem wenn die Demonstrationen weiter gehen wie bisher, was wahrscheinlich ist, und das wird natürlich mit Unterstützung des Innenministeriums geschehen, das mitten im Umbau ist. Die Regierung wird in Zukunft Konzessionen machen: wenn die Bewegung so weiter geht, wird die Armee direkt eingreifen, denn die Bourgeoisie wird niemals eine solche Situation akzeptieren. Sie appelliert schon in allen Tonlagen im Fernsehen, das heute schon wieder Desinformation betreibt und eine wichtige Rolle spielt bei der Vereinnahmung durch die Bourgeoisie. Es gibt nüchtern betrachtet sogenannte revolutionäre politische Gruppierungen, die die Bewegung in Richtung einer sogenannten Radikalisierung treiben, und gleichzeitig von den Fernsehkanälen eingeladen werden und ihre persönliche Zukunft absichern.

▶ Man kann sagen, dass die Institution Militär an den Vorgängen, an der Erhebung teilgenommen hat, aber auf indirekte Art. Denn diese Institution hat sich geweigert, auf die Massen zu schießen und hat Druck ausgeübt auf den Diktator, dass er seine Koffer packt und geht. Das ist klar. Jetzt ist das Militär politisiert und greift direkt in das politische und soziale Feld ein.

Bekanntermaßen ist die tunesische Bevölkerung eine der säkularsten der Welt, aber die Religion ist eine Zuflucht gegenüber dem Sinnverlust in der heutigen Welt. Wie in allen islamischen arabischen Ländern erobern die Islamisten nach und nach die Straße und überlassen die Macht den Polizeitstaaten oder Militärs. Die tunesischen Islamisten haben schweren Tribut bezahlt während der Herrschaft Ben Alis, der seine Legitimität im Westen auf diese wilde Repression gegründet hat, aber sie waren während dieser Erhebung unsichtbar, genau wie der Front National in Frankreich während der sozialen Bewegungen. Haben sie sich am Aufstand beteiligt und wie sehen sie ihn? Über welche Stärke verfügen sie heute, was sind ihre Intentionen und welchen Schaden können sie in nächster Zukunft anrichten?

  •  Wir halten sie für sehr gefährlich. Sie sind der Erhebung ferngeblieben, außer am letzten Tag, als sie ein Vereinnahmungsmanöver versuchten über die Instrumentalisierung der Märtyrer, aber ohne Erfolg. Heute ist ihre Taktik, teilzunehmen, aber unsichtbar zu bleiben. Sie haben tatsächlich einige Volksviertel von Tunis infiltriert. Der Führer der fundamentalistischen Ennahdha-Partei will nach Tunis zurückkehren [das ist am 30.1. passiert] und die Strömung umbauen, um den neuen Generationen Platz zu überlassen. Sie haben also eine geheime Agenda: sie werden sich nicht gleich aufstellen lassen, aber sie bereiten sich auf die nächsten Wahlen vor. Sie sind da, sie sind bereit. Wenn den anderen die Luft ausgeht, werden sie den Gipfel erklimmen. Umso mehr als man spürt, dass Gaddafi sich mit ihnen verbündet: das ist natürlich eine Mauschelei, denn er ist kein Fundamentalist. Aber er praktiziert die Politik der verbrannten Erde, denn er fürchtet sehr um seine Macht: diese tunesische Erhebung hat zu einer internationalen Breite geführt, und er ist der erste, der fürchten muss, dass unser Beispiel bei ihm Schule macht. Es gibt schon kleine Demonstrationen in Libyen, und er hat einige Armeeoffiziere abgesägt – angeblich wegen Korruption... Er ist also in schrecklicher Verlegenheit: das beste, was er machen kann, ist Anarchie, Chaos zu stiften, und dafür muss er die Muslimbrüder unterstützen. Ghannouchi, der Führer der tunesischen Fundamentalisten, hat übrigens erklärt, dass er die Position von Gaddafi schätzt, der von Anfang an gegen die Bewegung war. Wir denken also, dass es eine objektive Allianz gibt zwischen der libyschen Regierung und den Fundamentalisten, und das ist eine große Gefahr.
    Was ein wenig beruhigt, ist die neue Generation, die 15-25-jährigen, die den Aufstieg des Islamismus in den 1980er Jahren nicht miterlebt haben, die also ein wenig geimpft ist gegen den Fundamentalismus, auch wenn nichts gewiss ist. Man spürt andererseits, dass die Leute in den Stadtteilkomitees schon die Ankunft des Fundamentalismus fürchten, die Ankunft von Ghannouchi. Und diese selbe Generation hat auch die Verwüstungen durch des Linksradikalismus nicht erlebt. Es ist also eine gewissermaßen von diesen Ideologien unberührte Generation, sie wurde nicht kontaminiert.
    Gut, aber das verhindert nicht, dass die Fundamentalisten die Dinge wieder in die Hand nehmen wollen, wenn auch erst morgen. Deshalb muss man sehr wachsam sein. Um so mehr, als die Linken dabei sind, mit diesen Leuten Bündnisse einzugehen, und das ist das Allergefährlichste. Bei der Versammlung aller Parteien, die kürzlich stattgefunden hat, waren auch Vertreter der Fundamentalisten: es waren also im selben Saal Trotzkisten, Stalinisten, Islamisten usw. Das ist für uns völlig unverständlich, dass Leute sich derart verbünden.... Das ist wie bei Euch: Ihr habt die Islamo-Linken, wir haben auch diese Bündnisse, aber in allen Schattierungen, mit Unterschieden von Gruppe zu Gruppe. Auf jeden Fall werden sie in den nächsten zehn Jahren keine Gefahr darstellen. Sie sind eine klare und schwerwiegende Bedrohung, aber keine unmittelbare.

Alle französischen Regierungen waren immer eine unerschütterliche Stütze des monströsen Regimes von Ben Ali und seiner Ausplünderung des Landes. Während der Ereignisse hat der Quai d'Orsay eine fast totale Komplizenschaft gepflegt und heute: ein bestürzendes Nichts...

  • Frankreich ist von den Amerikanern überholt worden. Während Alliot-Marie ihre Kisten mit Tonfas nach Tunis losschickte, bereiteten die USA Ben Alis Entmachtung vor mit Hilfe der tunesischen Armee... Die Tränengasbomben blieben schließlich am Flughafen, aber man sieht trotzdem, dass die amerikanische Diplomatie klüger vorgeht... Es gab keine Abmachung zwischen den beiden Mächten, also haben die Amerikaner alleine entschieden, diesen armen Ben Ali zu opfern.

Die tunesische laizistische, spontane, brüderliche und zielsichere Revolution ist eine glitzernde, aber zerbrechliche Hoffnung für den gesamten Maghreb und die arabische Welt. Einige hoffen auf einen allgemeinen Zusammenbruch wie den der Sowjetunion vor 20 Jahren. Wagen die Diktaturen ringsum nicht alles, um diese Emanzipationsbewegung schon im Ei zu ersticken? Wie könnte sich Tunesien von all den internationalen Erpressungen befreien, mit deren Praxis sich zuallererst der IWF hervortut?

  •  In der Diskussion mit bestimmten Linken hier sagen wir, dass man immer die Bewegung in ihrem regionalen, nationalen, internationalen und auch geopolitischen Kontext analysieren muss. Wir wissen sehr gut, dass auch wenn man in einer revolutionären Situation ist, was sie zu sein glauben, der Weltkapitalismus jede radikale Veränderung verhindern wird. Deshalb müssen wir die Dinge mit ihren Grenzen sehen und langfristig arbeiten, die Errungenschaften verstärken, die wir heute haben usw. Die Ereignisse in Ägypten zeugen vom Einfluss des Aufstandes hier, es gibt Echos wie in Algerien, wo das viel begrenzter ist, und sogar in Albanien, unserer jüngsten Schwester... Und warum nicht drüben in Italien, man kann nie wissen...
     
  • Auf alle Fälle muss man an der Basis arbeiten und unsere Positionen behaupten. Es gibt noch viel zu tun.

Währenddessen tobt schon der Aufstand in Ägypten...

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten den Artikel von Indymedia, wo er am erschien.