Rede zum internationalen Holocaust-Gedenktag

Markus Mersault für Emanzipation und Frieden; gehalten am 27. Januar 2010

02/10

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Heute jährt sich zum 65. Mal der Tag, an dem die sowjetische Armee die überlebenden internierten Juden aus dem Konzentrationslager Auschwitz befreite. Nur wenige entkamen der undenkbaren Katastrophe und konnten sich ins Exil nach Amerika oder anderswo retten; für 6 Millionen Jüdinnen und Juden hingegen kam jede Hilfe zu spät: Frauen, Männer, Greise, Jugendliche, Kinder und Säuglinge; sie alle wurden von einer dem antisemitischen Wahn verfallenen Massenbewegung grausam gequält, erniedrigt und letztlich ermordet.

Auschwitz steht seither sinnbildlich nicht nur für den systematischen Massenmord; nicht erst die Zahlen schockieren, sondern jede einzelne grausame Tat gegen jene Menschen, die für schuldig erklärt wurden, weil sie lebten. Auschwitz stellt einen Bruch in der Geschichte dar, der doch eigentlich ein „Weiter-So“, ein Weiterleben ohne Konsequenzen für jede Einzelne und jeden Einzelnen unmöglich machen sollte. Der Holocaust ist die Folge eines bestimmten Konzeptes, die objektive Krise des Kapitalismus und die subjektive Krise des Individuums, die miteinander zusammenhängen, aufzulösen; mit einer Lösung im eigentlichen Sinne, mit Analyse und Behandlung hin zu gelungener Gesellschaftlichkeit und Individuation hat jenes Krisenlösungsmodell freilich nichts zu tun, sondern der Nationalsozialismus ist ein wahnhaftes, ein krankhaftes Krisenlösungsmodell: gesellschaftlich erzeugte Probleme werden schiefgelöst, indem vor allem Juden, aber auch Roma und Sinti, Homosexuelle, behinderte Menschen und Andersdenkende, als Schuldige ausgemacht werden und jene mit ihrem Leben für das bezahlen, was doch seine Wurzeln selbst in der Einrichtung der Gesellschaft hat. Entgegen des oft geäußerten Mantras, Deutschland sei sich seiner Schuld bewusst und habe aus der Vergangenheit gelernt, es habe die Vergangenheit aufgearbeitet, muss man angesichts des Verhaltens der Politik und der Umfrageergebnisse zur Erforschung des latenten und offenen, des neuen und des alten Antisemitismus in Deutschland vom Gegenteil ausgehen: Die Unfähigkeit zu wirklicher Trauer hält bis heute an, sich des Holocausts zu erinnern ist für viele nicht mehr als eine Floskel und aufgearbeitet im Sinne von den Holocaust verstehen wurde wenig. Antisemitismus ist nicht die Psychose einiger weniger; er ist ein gesellschaftliches Phänomen und als solches massentauglich. Die gesellschaftlichen Bedingungen, die zu Auschwitz führten, existieren nach wie vor; „in diesen Bedingungen lebt Vergangenheit als Gegenwart weiter, und die gegenwärtig lebenden werden durch diese Bedingungen geprägt“ (Claussen).

Angesichts virulenter Erinnerungslosigkeit und fehlenden Mitgefühls mit den wahren Opfern – im Gegensatz zu einer vorhandenen Trauer im Hinblick auf pauschal alle Kriegsopfer, insbesondere auch der eigenen deutschen, die alles in einen Topf wirft und letztlich auch Deutschland als Opfer obskurer weniger Verrückter um Hitler erscheinen lässt – soll hier nicht die Entstehungsgeschichte des Antisemitismus, weder des alten, noch des neuen, Gegenstand sein; vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, was es in der heutigen Zeit einzig sinnvoll heißen kann, der Opfern des Holocausts zu gedenken, sich der schrecklichen Tat zu erinnern. Was also kann Aufarbeitung der Vergangenheit nur meinen, will sie nicht zur bloßen Floskel der eigenen Gewissensreinigung verkommen?

Insbesondere auf zwei spezifische Arten, Auschwitz nicht zu gedenken, möchte ich zunächst eingehen.

Zum einen – und das ist die offensichtliche Verdrängung von Schuld, Verantwortung und geistiger Anstrengung – sind da zahlreiche Menschen, die von all dem nichts mehr wissen wollen, die gelangweilt sind oder gereizt reagieren, wenn sie auf das ihnen lästige Thema Holocaust und das damit verbundene Verantwortungsbewusstsein angesprochen werden. Ich halte dies nicht für das Resultat jahrelanger, intensiver Auseinandersetzung mit den Ursachen und den Folgen des Antisemitismus, sondern für einen bloßen Abwehrreflex. Angesichts der mangelnden Involvierung der jüngeren Generationen in den Holocaust und die zeitliche Distanz zu ihm mag das manche überraschen; es wird jedoch verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Gefühle auch vererbt werden können, nicht genetisch, sondern über die Sozialisation, und wenn wir bedenken, dass der Großteil der Deutschen ein positives Selbstverständnis hat; der Abwehrreflex und seine Vehemenz deuten darauf hin, dass Schuldgefühle nicht zugelassen werden dürfen, die mit dem eigenen Selbstwertgefühl zu tun haben. Jener Abwehrreflex resultiert nicht zuletzt daraus, dass die Identifikation mit der deutschen Nation nach dem 2. Weltkrieg nicht etwa verschwunden ist, sondern fortlebt. Das Eingeständnis einer deutschen Schuld und das Resultat einer Analyse der Bedingungen, die zum Holocaust geführt haben, würden die positive Besetzung des „deutsch-seins“ verhindern und so all die Aufwertungen, die der Einzelne aus seiner Identifikation mit Deutschland zieht, entwerten.

Zum anderen – ich hatte es oben bereits angedeutet – existiert bei vielen eine Art Ritual des Gedenkens, das mit wahrem Gedenken und aufrichtiger Erinnerung nichts zu tun hat. Erinnerung und Gedenken ergeht sich bei jenen in bloßen Floskeln statt in Analyse und dient nicht der Verhinderung von Antisemitismus, sondern der Beweihräucherung des eigenen Gewissens, der Selbstvergewisserung von der eigenen Unschuld und der moralischen Erhabenheit; man fühlt sich schließlich als guter Deutscher, kommt seinen Pflichten nach und kann mit Antisemitismus nichts am Hut haben, grenzt man sich doch verbal kontinuierlich von Antisemiten ab. Jene haben Sinn und Zweck von Gedenken und Erinnern nicht verstanden, genau so wenig, wie sie Auschwitz begriffen haben. Sie werden sagen: „Begreifen? Diese Tat lässt sich nicht begreifen, sie ist irrational, jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens!“ Und sie haben Recht: nicht rational war die systematische Vernichtung der als Volksschädlinge imaginierten, sondern wahnhaft. Aber gleichzeitig haben Sie mit dem Gedanken Unrecht: Begreifen muss, wer der Verantwortung gerecht werden will. Und das heißt: verhindern, dass Auschwitz sich wiederhole.

Erinnerung verkommt zur bloßen Farce, zur Gewissensreinigung ohne wirkliches Bewusstsein, wenn aus der Shoah und ihren Ursachen nichts folgt als ein diffuses Schuldgefühl oder gar die blanke Verdrängung oder Schuldabwehr. Aufarbeitung ist mit Ursachenanalyse untrennbar verbunden.

Moralische Appelle, den anderen zu akzeptieren, wie er ist, helfen nicht. Nicht nur vernachlässigen sie, dass Antisemitismus nichts über Jüdinnen und Juden, viel aber über das Weltbild des Antisemiten offenbart; nein, schlimmer: sie vernachlässigen, dass der Antisemitismus der Moral voraus hat, dass er Bedürfnisse, Triebregungen, Neigungen unmittelbar anspricht, während der moralische Appell zur Unterdrückung oder Verdrängung der eigenen unverstanden Triebe aufruft, wenn er nicht gleichzeitig aufklärt über die Funktionsweise des Antisemitismus und über seine gesellschaftlichen Ursachen. Die Attraktivität des antisemitischen Denkmusters ist nicht weg-zu-appellieren und sie ist stärker als jeder Appell.

Statt moralischer Appelle ist auf die gesellschaftliche Genese des Antisemitismus hinzuweisen; hierfür ist nicht nur die Analyse des Kapitalismus notwendig, sondern auch Verständnis über die Psyche der Einzelnen; wie sonst kann erklärt werden, dass sich Millionen von Menschen an ihr Weltbild vom bösen Juden freiwillig klammern? Um mit Max Horkheimer zu reden: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen“. Statt die Ursachen für Armut, Leid, Hunger, individuelle Ohnmacht und Krisen diverser Art in apersonalen Verhältnissen zu suchen, macht der Antisemit sie im Juden aus; statt innere Konflikte, die den eigenen Trieben und ihrer gesellschaftlich erzeugten Unterdrückung entspringen, auszuhalten, sie bewusst zu machen, schlägt der Antisemit all seine verdrängten Wünsche und Sehnsüchte tot, indem er denjenigen tötet, der für diese steht, für das „Glück ohne Macht, für Lohn ohne Arbeit und Heimat ohne Grenzstein“ (Adorno): nämlich Jüdinnen und Juden.

Auch in Bezug auf die Bedeutung von Auschwitz gibt es zwei gegensätzliche Tendenzen: die einen sagen, Auschwitz sei ein historisch einmaliges Ereignis, das sich nicht wiederholen kann; die anderen entdecken Auschwitz, dessen Ursachen sie offenkundig nicht verstanden haben, wahlweise im Gazastreifen oder auch am Balkan wieder. So absolut falsch beides ist, ein Funken Wahrheit steckt dahinter: Auschwitz wird sich in der Form von damals nicht wiederholen, auch muss der Antisemitismus sich nicht zwangsläufig wieder so offen und transparent zeigen; die gesellschaftlichen Bedingungen jedoch, die zu Auschwitz geführt haben, existieren bis heute fort. Ein KZ Auschwitz-Birkenau wird es kein zweites Mal geben; das Bedrohungsszenario der systematischen Vernichtung von Juden dagegen ist angesichts der Ahmadinedschads im Zeitalter der Atombombe realer, als viele wahr haben wollen.

Erinnerungslosigkeit ist ein weit verbreitetes Phänomen. Das Gerede von der Stunde Null ist Ausdruck dessen; Geschichte kennt keinen Neuanfang, sie kennt nur Kontinuität, auch wenn sich Ressentiments nicht im gleichen Gewand zeigen, wie zuvor. Der neue Antisemitismus ist ein anderer: er ist nicht trotz Auschwitz, sondern gerade wegen. Er zeigt sich nicht mehr offen, sondern versteckt, oftmals in Form von Antizionismus, also dem Hass auf Israel.

Sich der Vergangenheit zu erinnern kann ehrlicherweise nur bedeuten,

  • Israel nicht als einen Staat unter gleichen zu behandeln;

  • Antisemitismus nicht mit moralischen Appellen zu bekämpfen, sondern die Ursachen, die für ihn verantwortlich sind, zu benennen und diese selbst zu bekämpfen;

  • Und: Sich der Wandelbarkeit antisemitischer Ressentiments bewusst zu machen: Nicht nur dort, wo Antisemitismus drauf steht, ist auch Antisemitismus drin, sondern jener tritt gerade in Zeiten gesellschaftlicher Ächtung in versteckter, gewandelter Form auf; nennen möchte ich hier den Antizionismus, also die Delegitimierung Israels oder der Gleichsetzung von Faschismus und israelischer Politik, wenn die gesellschaftlichen Umstände es erfordern;

  • Gegen Antisemitismus entschlossen vorzugehen; sei es in Deutschland oder sei es anderswo. So schlimm eine autoritäre Antwort auf den selbst autoritären Antisemitismus auch klingen mag, Appeasement hat nur dort Aussicht auf Erfolg, wo sich der Antisemitismus noch nicht völlig verfestigt hat in den Köpfen der Einzelnen.

Besonders virulent und gefährlich – das ist spätestens seit dem Nationalsozialismus bekannt – ist der Antisemitismus da, wo er zur Staatsdoktrin erhoben wurde und wo seine Verfechter über die technischen Möglichkeiten verfügen oder alsbald verfügen können, die die massenhafte Vernichtung von Jüdinnen & Juden und ihres Staates ermöglichen würde. Diese Bedingungen sind gegenwärtig im Iran erfüllt, wo der Antisemit Ahmadinedschad nicht nur regelmäßig den Holocaust leugnet, sondern auch große Teile der eigenen Bevölkerung gewaltsam unterdrückt und Andersdenkende ermorden lässt. Antisemitismus heute in all seinen Formen zu bekämpfen, bedeutet nicht nur, den Blick statt auf den rechten Rand der Gesellschaft gerade auf den latenten Antisemitismus breiter Bevölkerungsschichten zu werfen, sondern insbesondere auch die Existenz jenes Landes sicherzustellen, das als Reaktion auf den Holocaust geschaffen wurde: nämlich Israel. Israel als Fluchtpunkt mehrerer Millionen Jüdinnen und Juden zu verteidigen, bedeutet auch, auf die Gefahren hinzuweisen, die vom Iran ausgehen: Ob der Iran die Atombombe bereits hat oder nur droht, dass sie in absehbarer Zeit in den Händen des Irren von Teherans landet, ist irrelevant, weil bereits die Möglichkeit der atomaren Aufrüstung des Irans für Israel existenzgefährdend ist; der Iran darf die Bombe niemals kriegen, weil das den sicheren Tod von über 7 Millionen Juden, aber auch Christen, Atheisten und Moslems bedeuten würde. Der islamische Gottesstaat Iran stellt gegenwärtig die wohl größte Bedrohung für Israel und für die dort lebenden Menschen dar; wer Erinnerung an den Holocaust ernst meint, kommt nicht umhin, alles nötige zu tun, um dem Iran den Zugang zur Atombombe zu versperren. Leider hat die deutsche Bundesregierung noch nicht begriffen, dass wirtschaftliche Sanktionen einen größeren Druck entfachen, als moralische Appelle und Dialogangebote an den Irren von Teheran es jemals können. Trotz des Gebots der Stunde, Wirtschaftssanktionen gegen den Iran zu implementieren, handeln deutsche Firmen weiter ungeniert mit dem Iran und tragen so zu dessen Aufrüstung bei. Das ist nicht nur ignorant, das ist fahrlässig; man muss es so drastisch formulieren: ihre ökonomischen Interessen sind ihnen wichtiger als 7 Millionen Menschenleben und als alle Iranerinnen und Iraner, die unter dem Regime leiden und die unter Einsatz ihres Lebens sich für Säkularisierung, Aufklärung, Gleichberechtigung und die freie Entfaltung des Einzelnen einsetzen.

Der Gedanke, aus Auschwitz ließe sich etwas lernen, ist widerlich; als hätte die Ermordung mehrerer Millionen Juden letztlich doch noch zu was getaugt. Doch trotz jener latenten Widerwärtigkeit, die im Gedanken des Lernens aus Auschwitz steckt, lässt es sich nach Auschwitz nicht mehr so leben, wie zuvor und ebenso wenig kann Gesellschaftskritik da weitermachen, wo sie vor dem Nationalsozialismus aufgehört hat. Die Theorie kommt nicht umhin, mittels der Anamnese des irren Weges nach Auschwitz seine Ursachen aufzuzeigen, gerade auch dann, wenn diese nicht aus der Welt sind, sondern weiterhin die gesellschaftliche Produktion und die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. Dem Gedanken des Lernens aus Auschwitz mutet etwas Widerliches an; keine Lehren aus Auschwitz zu ziehen ist im Angesicht fortbestehender gesellschaftlicher Irrationalität und regressiver Individuen jedoch fatal.

Auschwitz erinnern bedeutet, sich der gesellschaftlichen Bedingungen und ihrer Kontinuität auch nach 1945 bewusst zu sein, die es zu verantworten haben. Jene Bedingungen existieren bis heute fort – nicht nur in Deutschland und nicht nur am rechten Rand der Gesellschaft. Soll Erinnerung nicht konsequenzloses Gedankenschweifen sein, geht sie einher mit der Parteinahme für Israel, mit dem Kampf gegen Antisemitismus und Antizionismus hier und anderswo und dem Kampf gegen die größte Bedrohung Israels, nämlich dem antisemitischen Regime in Teheran.

 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel spiegelten wir von der Website der Gruppe EMANZIPATION & FRIEDEN