Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Vor Verfolgung aus Algier geflohen, jetzt in Paris von Mord bedroht

02/10

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Im Pariser Stadtteil Belleville versuchten bislang unbekannte Männer, die aus Algerien stammende Frauenrechtlerin und Theaterkünstlerin „Rayhana“ zu ermorden. Die Hintergründe dieses – gescheiterten – Attentats liegen jedoch ziemlich klar auf der Hand

Es hätte verdammt übel ausgehen können. Am Dienstag, den 12. Januar 10 überschütteten zwei unbekannte Männer in Belleville - einem im Osten von Paris liegenden Stadtteil mit Szene- und relativ hohem Migranten-Anteil - die algerischstämmige Theaterregisseurin, Drehbuchautorin und Schauspielerin Rayhana von hinten mit einer brennbaren Flüssigkeit. Einer der beiden hielt ihr daraufhin ein Feuerzeug oder eine brennende Zigarette an die Mütze, die jedoch glücklicherweise nicht Flammen fing. In den ersten Berichten nach dem Attentatsversuch war von Benzin die Rede, später dagegen von einem Anschlag mit der brennbaren Flüssigkeit White Spirit, also Lackbenzin. Hätte ihre Kleidung Feuer gefangen, so hätte die Künstlerin mindestens schwer verletzt werden können, auch tödliche Konsequenzen waren nicht ausgeschlossen.

Die 45jährige wusste zuerst gar nicht, was ihr geschah, und die beiden Männer ergriffen sofort die Flucht. Kurz darauf spürte sie ein Brennen im Gesicht, das von der Flüssigkeit herrührte, und ging in eine nahe gelegene Kneipe, um darum zu bitten, die Polizei anrufen. Vielleicht aufgrund ihres Anblicks in diesem Moment - die beiden Unbekannten waren längst über alle Berge - zeigte sich der Barmann jedoch ängstlich und komplimentierte sie hinaus. Erst ein Anruf bei ihrem Theater, wo man sich darauf vorbereitete, ihr bis vergangenen Samstag (23. Januar) laufendes Stück „In meinem Alter verstecke ich mich noch immer, um zu rauchen“ zu spielen, löste den erbetenen Anruf bei der Polizei aus. Seitdem ermitteln die Beamten nach den Tätern.

Auf einer Pressekonferenz in ihrem Theater (vgl. auch http://www.jdsn.fr/) zeigte sich Rayhana vorsichtig: Die Ermittlungen müssten erst noch zeigen, welche Hintergründe die Tat habe. Ob es einen Zusammenhang zu ihrem bis zum letzten Wochenende gespielten Stück gebe, wisse sie momentan nicht. Auch sei nicht sicher, ob irgendein organisierter Hintergrund bestehe oder ob es sich um zwei aus eigenem Antrieb handelnde Individuen handele, fügte der Theaterdirektor Philippe Mourrat hinzu. Dennoch steht so viel fest, dass die Theatermacherin von den Unbekannten die beiden Worte „Hure“ und „Ungläubige“ hörte, bevor sie zur Tat schritten. Auch vernahm sie den Satz: „Wir hatten Dich gewarnt.“ Genau eine Woche zuvor, am 5. Januar 10, hatte sie eine verbale Aggression erlitten: Zwei Männer hatten sie mit den Worten angesprochen: „Glaubst Du nicht, dass wir Dich kennen?“ Auch der Name ihres in Algerien lebenden Vaters fiel dabei, um ihre Aussage zu unterstreichen. Ob ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen beiden Vorfällen besteht, möchte Rayhana bisher nicht bestätigen - es dürfte jedoch nicht unwahrscheinlich sein.

Ob es sich bei dem Anschlag auf Rayhana nun um die Tat eines organisierten Netzwerks oder zweier selbsternannter Vollstrecker handele - dass es ein „Zusammenhang“ zu ihrem seit dem o8. Dezember o9 aufgeführten Theaterstück geben konnte, ist jedenfalls tatsächlich ausgesprochen plausibel.

Trifft dies zu, so ereiferten sich die Täter über die engagierte Darstellung, mittels derer die Regisseurin sich für Frauenrechte einsetzt und von diesem Standpunkt aus einen kritischen Blick auf die Gesellschaft wirft. Die Handlung des Stücks basiert auf der Darstellung von neun Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher familiärer Herkunft, die gemeinsam in einem Hammam, einem arabischen Dampfbad, sitzen und plaudern. Von der islamistischen Aktivistin über die Atheistin bis zur professionellen Kupplerin sind alle Horizonte und Sichtweisen vertreten. Gemeinsam diskutieren die Frauen über ihr Verhältnis zu Männern, ihre Träume - oder ihre zerplatzten Illusionen - von Liebe, über Masturbation, Jungfräulichkeit vor der Ehe oder verlorene Jungfräulichkeit. Am Schluss der Handlung wird auch ein so genannter Ehrenmord thematisiert. Denn der Bruder einer der neun Frauen, die unverheiratet schwanger ist, klopfte über längere Zeit hinweg an die Tür - und am Ende gelingt es ihm, diese zu öffnen und einen Schuss ins Innere des Dampfsbads abzugeben. Er trifft allerdings nicht seine Schwester, sondern die einzige unter den neun Frauen, die erzählte, dass sie noch an die ganz große Liebe glaube.

Algerischer Kontext und universelle Botschaft

Die Handlung im Theater spielt in Algier, der algerischen Hauptstadt, um die Mitte der 1990er Jahre - also auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs und der Welle terroristischer Gewalt, die von bewaffnen Islamistengruppen unter anderem gegen ihnen ungenehme Intellektuelle und gegen Frauenrechtlerinnen ausging. Dennoch möchte Rayhana ihre Problematik sehr viel „universeller“ verstanden, und auch keineswegs allein auf muslimisch geprägte Gesellschaften bezogen wissen. So betonte sie vor den Mikrophonen auf ihrer Pressekonferenz nach der Tat, nach wie vor sei etwa in Spanien „häusliche und familiäre Gewalt“ die erste Todesursache für Frauen. Und sie erklärte, Französinnen oder Japanerinnen sähen ihr Stück und zeigten sich zu Tränen gerührt, weil sie sich und ihre Geschichte in vielen Aspekten der Dialoge wiedererkennen könnten.

Neben diesem universellen Aspekt besteht aber auch ein spezifisch auf die algerische Gesellschaft bezogener. Denn der Titel - „In meinem Alter verstecke ich mich noch immer zum Rauchen“ - ist von der Theaterfrau auch autobiographisch gemeint: Laut eigenen Angaben raucht sie tatsächlich bis heute nicht in Gegenwart ihrer eigenen Eltern. In dem nordafrikanischen Land, aus dem die frühere algerische Kommunistin stammt, bevor sie 1995 auf dem Höhepunkt der Gewalt- und Terrorkampagne floh und sich in Südfrankreich niederließ, gelten rauchende Frauen als unmoralisch. Gleichzeitig behandelte das in Algerien seit 1984 geltende Familiengesetz - der damals vom rechten Flügel der regierenden Staatspartei Nationale Befreiungsfront (FLN) eingeführte Code de la famille, von Kritikerinnen auch Code de l’infamie genannt - Frauen lebenslänglich als Minderjährige, die unter der Vormundschaft zuerst ihres Vaters, dann später des Ehemanns standen. Doch ist es in den Jahren ab 2001, an diesem und anderen Punkten, erheblich entschärft worden.

Örtliches Umfeld – islamistischer Hintergrund plausibel?

Es stellt sich die Frage, ob eventuell ein Zusammenhang zu organisierten islamistischen Strukturen bestehen könnte. Darauf gibt es bislang noch keine Antwort, doch ist Rayhana mittlerweile unter Polizeischutz gestellt worden (vgl. http://www.lexpress.fr/), und inzwischen ermittelt jedenfalls die „Terrorismusfahndung“ dazu (vgl. http://www.slate.fr). Nicht unplausibel wird dies jedoch dadurch, dass ausgerechnet in der Nähe des Theaters, wo Rayhanas Stück gespielt wurde - und das in der Maison des métallos untergebracht ist, einem früheren Gewerkschaftshaus von Metallfacharbeitern, das seit einigen Jahren zum Ort für engagierte Kunst und gesellschaftliche Debatten geworden ist - die einzige örtliche Hochburg für islamistische Aktivitäten in ganz Paris liegt.

Zwar war und ist die französische Hauptstadt - im Gegensatz besonders etwa zu London, jedenfalls vor den Attentaten von 2001 in New York und 2005 in der britischen Metropole - kein guter Ort für freie Betätigung radikal-islamistischer Gruppen. Auf dem Höhepunkt des algerischen Bürgerkriegs Mitte der neunziger Jahre war der rechte Hardliner Charles Pasqua, der - im Unterschied zu anderen Flügeln der politischen Klasse, die anderen Optionen für die Zukunft Algeriens favorisierten - kompromisslos hinter den algerischen Militärs stand, Frankreichs Innenminister. Die damals regierende französische Rechte war zwar gespalten, da ein Teil von ihr (wie Altpräsident Valéry Giscard d’Estaing im Jahr 1997) auch die Einbindung der Islamisten in Algerien favorisierte; doch gerade Pasqua und seine Umgebung interpretierten den Bürgerkrieg auf der anderen Seite des Mittelmeers als Neuauflage des von 1954 bis 1962 durch Frankreich in Algerien geführten Krieges „zur Rettung der Zivilisation“. Daraus resultierte ein rüder Umgang mit tatsächlichen, aber auch vermeintlichen Islamisten, insbesondere wenn sie einen algerischen Hintergrund hatten - das ging bis hin zu „im Prinzip“absolut verfassungswidrigen Verbannungsstrafen, denn im Jahr 1994 wurden knapp 40 Verdächtige kurzerhand für lange Jahre in das westafrikanische Burkina Faso verbannt und dort über Jahre hinaus festgehalten.

Von den damals zugefügten Schlägen konnten sich die Netzwerke, die den algerischen bewaffneten Islamisten in den Bürgerkriegsjahren logistische Hilfe verschaffen sollten, in Frankreich nie wirklich erholen. Allerdings wurden auch die Bürgerrechte dabei zeitweise erheblich ramponiert. (Parallel dazu starben in der Ära Charles Pasquas, während seiner gut zweijährigen Amtszeit als Innenminister, rund 200 Menschen in Pariser Vorstädten oder auf Polizeikommissariaten durch polizeiliche Gewalteinwirkung. Letztere blieb in aller Regel ungestraft.) Auch in Algerien selbst sind zeitgleich die islamistischen Netzwerke im Vergleich zu den 1990er Jahren im Übrigen erheblich geschwächt worden. Zwar kommt es nach wie vor zu Anschlägen bewaffneter Islamisten, die seit 2007 nunmehr unter dem Label ‚Al-Qaïda im Land des islamischen Maghreb’ firmieren – wobei es dieser letzten verbliebenen radikal-islamistischen und terroristischen Organisation in Algerien jedoch trotz des spektakulär wirkenden Namens„franchisings“ real nicht gelungen ist, die von ihr angestrebte Ausstrahlung auf das Land und die ganze Region zu entwickeln. (Vgl. http://www.jeuneafrique.com/) Mehrere aufeinander folgende Amnestie-Regelungen des algerischen Staates, der – aus einer Position der Stärke nach errungenem militärischem Sieg heraus – zwei Volksabstimmungen zum Thema am 16. September 1999 und am 29. September 2005 organisiert hatte, trugen zu einer weitgehenden Leerung des islamistischen „Untergrunds“ bei. Neueste Zahlen besagen, dass rund 6.000 früher bewaffnet kämpfende oder agierende Islamisten in den Genuss der gesetzlichen Amnestie kamen. Unter ihnen wurden rund 200 als „Verräter“ durch führende Kampfkameraden getötet, und weitere 300 nahmen zu einem späteren Zeitpunkt irgendwann die Waffen wieder auf. Der Groteil ist jedoch passiv geworden – eine politische Betätigung ist ihnen im Prinzip verboten – und auf dem ausufernden Schwarzmarktsektor aktiv. (Vgl. dazu auch ‚Jeune Afrique’, Ausgabe vom 10. Januar 2010, Artikel: ‚Algérie. Que sont devenus les repentis?’)

Doch zurück ins heutige Paris. An der Ecke zwischen der rue Jean-Pierre Thimbaud, in welcher das Theater in den Wänden der ‚Maison des Métallos’ liegt, und dem Boulevard de Belleville allerdings hat sich seit circa zehn Jahren ein Milieu islamistisch orientierter Buchläden ausgebreitet. Auch eine Moschee in der Nähe soll durch Sympathisanten der Salafisten, also der radikalsten islamistischen Strömung (mit Ausnahme vielleicht der Militärorganisation & Sekte Al-Qaïda und ihres Umfelds), die auch in Algerien aktiv ist, kontrolliert werden.

Reaktionen....

Das Attentat auf Rayhana hat zahlreiche Reaktionen hervorgerufen, zunächst vor allem auf der Linken. Die französische KP oder die Antirassismusorganisation MRAP äußerten sich umgehend in Presseerklärungen und erklärten sich solidarisch, ähnlich auch die französischen Grünen. (Vgl. http://www.mrap.fr und http://www.lesverts.fr/)

Am Samstag Nachmittag, den 16. Januar organisierte die Frauenorganisation NPNS („Weder Huren noch unterwürfig“ - die umstritten ist, seitdem ihre frühere Chefin Fadela Amara unter Sarkozy in eine stark rechtsorientierte Regierung als Staatssekretärin eintrat - zusammen mit der Internationalen Liga für Frauenrechte eine Solidaritätskundgebung. Zu ihr kamen mehrere hundert Menschen, unter ihnen auch Angehörige der Sozialdemokratie, der Grünen und der vor einem Jahr gegründeten Linkspartei (Parti de gauche). Auch die für Gleichstellung von Männern und Frauen zuständige Vize-Bürgermeisterin von Paris, Fatima Lalem, ergriff das Wort. (Vgl. http://www.leparisien.fr)

...Vorsicht vor der Reaktion!

Doch auch die konservative Regierungspartei UMP erklärte sich in einer Pressesendung mit ihr „solidarisch“ (vgl. http://www.lefigaro.fr/). Ausgerechnet der, unter anderem aufgrund der aktuellen Debatte über die „Nationalidentität“ und wegen seiner knallharten Abschiebepolitik heftig umstrittene, Minister „für Einwanderung und nationale Identität“ Eric Besson sowie die (wegen Äußerungen über Jugendliche mit Migrationshintergrund in Kritik geratene) Staatssekretärin Nadine Morano wollten die Theatermacherin empfangen - im einen Falle zum Mittagessen, im anderen Falle zum Kaffeetrinken. Rayhana lehnte jedoch ab, ging auf Distanz und erklärte, ihr Engagement bestehe in „den Worten, die auf der Bühne des Theaters benutze“. (Vgl. http://www.evous.fr/) Aus demselben Anlass kritisierte sie aber auch die Existenz des unsäglichen „Ministeriums für Einwanderung und nationale Identität“, also das Amt, das Eric Besson derzeit bekleidet. (Vgl. http://www.marianne2.fr/) Rayhana, befreite Frau und Vorkämpferin für Emanzipation, lässt sich also nicht für eine denkbar schlechte Sache vereinnahmen.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erhielten wir vom Autor.