Haiti aktuell
Hilfe ja – aber für den Abzug der Rambotruppen und eine sofortige Entmilitarisierung der Katastrophenhilfe.

von Bernard Schmid

02/10

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Diskussionsbeitrag gegen – auch unter früheren Linken verbreitete – Auffassungen, die eine Katastrophe wie die jüngst über Haiti hereingebrochene zum Anlass nehmen, zugunsten einer bewussten Entmündigung so genannter ‚failed states’ zu plädieren: Eine wohlmeinende Leitung durch die führenden westlichen Nationen solle Haiti freundlich bei der Hand nehmen und das Kommando übernehmen. Unten stehender Artikel wurde als Teil einer Kontroverse in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’ vom 28. Januar 2010 publiziert.

Die Stunde der Katastrophen, oder kurz danach, ist die Stunde der unerbetenen Vorschläge zur Weltverbesserung. Alles wird gut, verkünden die Scharlatane, folgt man nur ihrem Rezept. Und so ist es auch nach dem Erdbeben in Haiti, wo einmal mehr die neuesten Superrezepte aus der Ferne verkündet werden. Dies gilt auch, aber nicht nur für ex-linke und andere Intellektuelle in westlichen Ländern wie Frankreich und Deutschland, die nun meinen, ihren Senf dazu abgeben zu müssen. Auch wenn sie nicht einmal die schlimmsten Trittbrettfahrer anlässlich der jüngst in Haiti vorgefallenen Naturkatastrophe und ihrer gesellschaftlich begründeten Auswirkungen – dazu siehe Näheres unten – sind. Aasgeier wie beispielsweise Missionare und Häuptlinge der Scientology-Kirche, aber auch Söldnerfirmen, die nun massiv haitianischen Firmen Schutz gegen „Plünderer“ wie gegen meuternde Arbeiter anbieten, fallen derzeit eifrig über das ohnehin gebeutelte Haiti her. Vgl. dazu unter anderem http://veilleur.blog.lemonde.fr/  oder http://contreinfo.info.

Aber zurück zu den Rezepten unserer intellektuellen „Freunde“. Eines von ihnen lautet, man müsse doch nur gescheiterte Länder oder missratene Staaten, so genannte ‚failed states’ eben, ihres letzten kümmerlichen Rests an Souveränität berauben und unter eine - natürlich wohlmeinende und nur ihr Bestes im Sinn habende - Vormundschaft stellen. Und schon seien jedenfalls ihre wichtigsten Probleme einer Lösung näher gerückt; denn die Mächte, die diese Vormundschaft völlig selbstlos übernommen, werden schon ihr Möglichstes dafür tun. Ungefähr dreißig bis vierzig Kandidaten gibt es schon dafür. Denn Haiti besetzt „nur“ die (je nach Jahr) 146. bis 149. Position unter den 182 Staaten, was seinen Entwicklungsindex betrifft. Anderen Länder geht es also noch schlechter, sie sind noch ärmer und desorganisierter, und eine Naturkatastrophe könnte noch schlimmere Konsequenzen nach sich ziehen. Also Länder, deren Auflösung als souveräne Gebilde man besser dekretieren würde, auf dass jetzt besser Andere ihre Geschicke in die Hand nehmen?

Naturkatastrophen sind - möchte man es ein bisschen zynisch ausdrücken - willkommene Anlässe, um solche hochtrabenden Pläne hinauszuposaunen. (Die kanadische „Globalisierungskritikerin“ Naomi Klein, obwohl durchaus keine herausragende Theoretikerin, hat solches in einem Buch auf den Begriff der „Schockstrategie“ gebracht.) Nach dem Menschenrechtsimperialismus, an den man sich beispielsweise noch von der Vorwärtsverteidigung der Menschenrechte durch die NATO auf dem Balkan im Frühjahr 1999 her erinnert: Hier kommt der humanitäre, fürsorgliche, Katastrophen lindernde Kolonialismus des 21. Jahrhunderts.

Wer dies entweder für Zukunftsmusik oder aber für eine, je nach Sichtweise, gute oder böse Utopie handelt, möge sich eines Schlechteren belehren lassen: Die Ideen zirkulieren längst. Das französische Wochenmagazin ‚Marianne’ - irgendwo zwischen Protest simulierendem Linksnationalismus, einem den historischen Gaullismus romantisierendem Staatspatriotismus und einem nationalistischen Zynismus der „Staatsraison“ angesiedelt - übertitelt einen sechsseitigen Beitrag in seiner Ausgabe vom 23. Januar 2010: „Soll man Haiti unter Vormundschaft stellen?“ Zu Wort kommt etwa François Heisbourg, der als Berater bei der französischen „Stiftung für strategische Forschungen“ (FRS) tätig ist - und das ist nicht „irgendwer“ in der Gemeinde der Geostrategen und Politikberater. „Ja“ antwortet er unumwunden auf die in der Überschrift formulierte Frage. Sein einziges Bedauern lautet, dass Frankreich oder Europa im Augenblick nicht in der Lage sei, die favorisierte Rolle in Haiti zu spielen: Die USA müssten diese Funktion, dort und in diesem Moment, übernehmen. – Und das konservativ-reaktionäre ‚Figaro Magazine’, Wochenendbeilage der auflagenstarken konservativen Tageszeitung ‚Le Figaro’, übertitelt einen Sympathie für die Truppe vor Ort heischenden Beitrag in seiner Nummer vom 3o. Januar 10: „Was wäre, wenn die Amis nicht dort (in Haiti) wären?“

Katastrophenhilfe mit nuklearem Flugzeugträger und MG

Eine Führungsrolle sollen die USA, etwa laut Strategieforscher François Heisbourg, in Haiti übernehmen. Und das tun sie auch längst. Denn westlich des Atlantik werden nicht nur ähnliche Fragen in ‚Think Tanks’ diskutiert und die Bedingungen für ein vormundschaftliche Formen annehmendes Eingreifen an vielen Orten des Globus diskutiert: Die US Army übt sich längst in der Praxis. In der letzten Januarwoche 2.010 sollte die Zahl der in die Karibikrepublik entsandten Soldaten 20.000 erreichen. Selbstverständlich ist auf Haiti schnelle und effiziente Katastrophenhilfe angesagt. Nur, auf einem anderen Blatt steht, warum man dafür einen atomgetriebenen Flugzeugträger - die USS Carl Vinson - im Hafen von Port-au-Prince und eine überdimensionierte bewaffnete Armada, ausgestattet mit Sturmgewehren und leichten MGs, benötigt. Unterdessen berichten Hilfsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“/Médecins Sans frontières (MSF) von mindestens fünf Todesfällen am Flughafen von Port-au-Prince, die darauf zurückzuführen seien, dass der Abtransport von Verletzten durch die absolute Priorität für US-Armeeflüge verspätet worden war. Eine – durchaus, aus anderen Motiven und u.a. weil sie in der Vergangenheit selbst die Grenzen zwischen humanitären und militärischen Einsätzen zu verwischen half, kritikwürdige – etablierte NGO wie „Ärzte ohne Grenzen“ hat deswegen bereits heftig gegen die US-Verwaltung des Flughafens von Port-au-Prince protestiert. (Vgl. http://www.lemonde.fr/web/depeches/0,14-0,39-41456465@7-37,0.html) Sogar die französische Regierung schloss sich anfänglich der Formulierung eines gewissen, leichten Protests an, bevor sie dann – unter dem „Atlantiker“ Nicolas Sarkozy – eine Kehrtwende vollzog und erklärte, sie möge mit der US-Administration „keine Polemik“ suchen, keinen Streit einlegen. (Vgl. http://news.blog.lemonde.fr )

Ein Gutteil der Soldateska dient laut eigenen Aussagen der Regierungen dazu, Plünderungen zu verhindern. Und die erste Erklärung des französischen Außenministers Bernard Kouchner nach dem Erdbeben zu den Aufgaben internationaler Truppen in dem Land lautete übrigens, es müsse darum gehen, „die Ordnung zu schützen, die Plünderungen zu stoppen und das Eigentum zu garantieren“. (Vgl. http://www.parti-ouvrier-independant-04.over-blog.fr/article-haiti--43320160.html  , jedoch fragwürdige Quelle, es handelt sich um die Webpage einer linksautoritären Sekte; vgl. auch http://bellaciao.org/fr/spip.php?article97509  .) Die bösen „Plünderer“ sind aber in der Regel nichts Anderes als Bewohner des Landes, die bei der Erdbebenkatastrophe alles verloren haben und verzweifelt etwas zum Überleben für sich oder ihre Kinder besorgen möchten. Ein anderer Teil des massiven militärischen Aufgebots dient offenkundig dazu, „Flüchtlingsströme“ vom Hafen abzuhalten. Dort kreuzt derzeit die US-Küstenwache, nicht zufällig, und ein Sprecher der Küstenwache von Miami warnte bereits vor dem „hohen Risiko einer Migrationskrise aus Richtung Haiti“.

„Humanitäre“ Interventionsdesaster der jüngeren Vergangenheit

Die Armee hat dabei gar nicht einmal unbedingt einen bewussten, bösen Willen: Sie tut einfach, was sie gelernt hat. Und bei einer Armee lernt man Kämpfen, oder das Besetzen von Ländern, jedenfalls den Einsatz militärischer Mittel - nicht unbedingt zweckmäßiges Helfen. Eine hochgerüstete Armada führt sich deswegen eben einfach so auf, wie es ihrer Natur entspricht. Ungefähr aus diesen Gründen scheiterte die Intervention Restore Hope in Somalia, die im Dezember 1992 mit dem Abladen von Reis am Strand von Mogadischu begonnen hatte, so schmählich: Ein Gutteil der Somalier erlebten die in den folgenden Monaten stationierten Truppen schlicht als Besatzungsmacht. Kanadische Militärs wurden später dafür verurteilt, dass sie Einheimische gefoltert hatten. Anfang 1994 zogen Somalier die Leichen getöteter US-Soldaten mit Freudenschreien durch die Straßen von Mogadischu.

Ähnliches gilt im Übrigen auch längst für die seit 2004 (und dem damals durch die USA erzwungenen Abgang des linkspopulistischen, doch längst zum „gewöhnlichen“ Elendsverwalter gewordenen, Präsidenten Jean-Baptiste Aristide im März o4) in Haiti stationierte UN-Truppe MINUSTAH. Deren Truppen, insbesondere ihre brasilianische Komponente, werden seitens Jahren zahlreiche Morde an Einwohner/inne/n etwa des Elendsviertels der Hauptstadt Port-au-Prince, Cité-Soleil, an der MINUSTAH feindlich gesonnen Demonstranten und protestierenden Arbeitern vorgeworfen. Brutale Einsätze der MINUSTAH in Cité-Soleil, um demonstrierende Kritiker oder auch feindliche „Banden“ dort zu bekämpfen, forderten bis zu 30 Todesopfer; und in einem Falle wurden infolge eines ihrer Einsätze 22.000 Schussspuren festgestellt. (Vgl. http://www.alterpresse.org  sowie http://www.tlaxcala.es und www.papda.org/.)

Selbstverständlich greifen viele Haitianer momentan nach dem Strohhalm, der ihnen hingehalten wird, und schlagen deshalb die ihn haltende Hand nicht zurück. Ein normales menschliches Verhalten. Dennoch stieß die Besetzung des Präsidentenpalasts nicht auf Gegenliebe, ebenso wenig wie der Einsatz militärischer Gewalt gegen „Plünderer“. Denn aller Armut und Desorganisation ihres Landes sind die Haitianer, zu Recht, ein Stück weit stolz auf ihre Geschichte: War der Karibikstaat doch die erste und weltweit einzige Republik, die aus einer erfolgreichen Revolte von Sklaven hervorging.

Rückblick auf eine besondere Geschichte

Diese Geschichte begann im Jahr 1804. Und von diesem Zeitpunkt hörten die Großmächte nicht auf, Haiti - das heute, nicht zufällig, das mit Abstand das ärmste Land des amerikanischen Doppelkontinents darstellt - einen hohen Preis für diese Unbotmäßigkeit bezahlen zu lassen. Die USA brauchten 60 Jahre, um die Unabhängigkeit Haitis anzuerkennen. Frankreich tat es offiziell „schon“ 1825, aber im Tausch gegen hohe Reparationszahlungen (15 Millionen damalige Goldfrancs), die Haiti noch bis 1888 abbezahlte. Stattdessen hätte in Wirklichkeit Frankreich, das vor der Unabhängigkeit eine halbe Million Sklaven auf Haiti ausgebeutet hatte, dem Land Schadensersatz zahlen müssen - und keinesfalls umgekehrt. Von Anfang an wurde die ökonomische Entwicklung Haitis so sabotiert.

Von 1915 bis 1934 stand das Land unter direkter militärischer US-Besatzung, unter Anwendung der so genannten ‚Monroe-Doktorin’ (bezeichnet nach einer Präsidenten-Rede aus dem Jahr 1823, deren Quintessenz lautet: „Amerika den Amerikanern“, was in diesem Falle bedeutete, eine amerikanische Nation dürfe ein anderes amerikanisches Land mir-nichts-dir-nichts besetzen). In jene Zeit fällt zwar eine Stabilisierung des Staates, bei gleichzeitig stattfindender harter Repression; aber auch die Einführung einer industrialisierten Landwirtschaft, die die Agrarproduktion auf den Export trimmte und einer Selbstversorgung das Wasser abgrub. Damals vorgegebene wirtschaftliche Strukturen dauern bis heute fort. In den letzten zwanzig Jahren sabotierten massive Exporte von hoch subventioniertem Reis aus den USA weiterhin Haitis Landwirtschaft, während Firmen aus demselben Land versuchten, Einwohner in Sweat-Shops schuften zu lassen.

Fazit; und Vorschläge für Solidaritätsforderungen

Der Umgang der westlichen Mächte mit den Haitianern war noch nie selbstlos. Und es gibt keinen Grund, warum er es morgen sein sollte, selbst wenn sie eine offizielle oder unerklärte „Vormundschaft“ für das Land übernehmen sollten. Ungleichheiten, ob unter eigener Flagge oder nicht - ein formalisierter Souveränitätsfetisch wird sicherlich keinesfalls Abhilfe verschaffen - und ökonomische Marginalisierung haben ihre Ursachen. Sie können unter ein- und derselben Flagge und Souveränität, Stichwort Umgang mit den Opfern des Hurrikans „Katrina“ in New Orleans 2005, ebenso andauern wie über Landesgrenzen hinweg. (Ausgerechnet der für die damalige, katastrophale Katastrophenverwaltung – ebenso wie für die desaströsen Kriege & Besatzungen im Iraq und in Afghanistan – politisch verantwortliche Ex-US-Präsident George W. Bush wurde nun durch seinen Amtsnachfolger Barack Obama zum Vizepräsidenten einer „Hilfsmission für Haiti“ ernannt. George W. Bush ist dadurch allerdings nicht mit operativen Aufgaben vor Ort in der Karibikrepublik betraut worden, sondern ist nunmehr zusammen mit seinem Ex-Amtskollegen William „Bill“ Clinton für das Auftreiben von Spenden in den USA in großem Maßstab zuständig. Dennoch ist es ein heikles politisches Symbol, ausgerechnet Bush mit seiner Verantwortung für „Katrina“ und den Iraqkrieg mit einer solchen Mission – und sei es auch allein als oberster Spendensammler – zu beauftragen.)

Helfen könnte es den Bewohnern Haitis hingegen, würde man ihnen, jenseits der puren Symbole von (fingierter) Souveränität, Schlüssel für eine einigermaßen selbstbestimmte Existenz in die Hand geben. Dazu würde in erster Linie die Annullierung sämtlicher „Schulden“ des Landes, die Haiti besonders in der Ära der Diktatoren „Papa Doc“ und „Baby Doc“ Duvalier angehäuft hat - ihre Ära endete im Februar 1986; Jean-Claude Duvalier lebt seit damals in Frankreich, in Paris und an der Côte d’Azur, und der Verbleib seines 900-Millionen-Vermögens ist offiziell unbekannt - und für welche die Bevölkerung keine Verantwortung trägt.

Aber wenn westliche Großmächte schon erpicht darauf wären, Haitianer „fürsorglich“ unter ihre Souveränität zu nehmen, dann sollten sie jedenfalls unverzüglich eine weitere Forderung erfüllen können - und allen in Frankreich, in den USA und anderswo lebenden Haitianern unverzüglich ihre Staatsbürgerschaft mit den dazu gehörigen Rechten verleihen. Auch eine sofortige Erteilung von „illegalen“ Einwanderer aus der Karibikrepublik, mit dem Recht beispielsweise auf Familienzusammenführung, wäre schon ein Schritt - in Frankreich läuft dafür eine Kampagne von Solidaritätsinitiativen, und Antirassismusvereinigungen (wie etwa dem Kollektiv ‚Migrants Outre-Mer’) an. Niemand wird besser für die Opfer auf Haiti sorgen als ihre Familienangehörigen, die „legal“ in einem der reichen Länder leben und arbeiten und ihnen Geld überweisen können, das direkt an ihre Familien geht.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor. Er wurde als Teil einer Kontroverse in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’ vom 28. Januar 2010 publiziert.