Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Solidarität mit manchen Schwierigkeiten

02/09

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Die Demos gegen den jüngsten Krieg respektive die Massaker in Gaza, die seit Ende Dezember in Paris und anderen französischen Städten stattfanden, waren vor allem am Ende der dreiwöchigen Angriffsphase ziemlich groß. Rund 200.000 Menschen demonstrierten am 10. Januar in mehreren Städten des Landes, darunter nach realistischen Schätzungen etwa 50.000 in der Hauptstadt Paris (Polizei: 30.000, Veranstalter/innen: 100.000). Zwei Wochen später, am 24. Januar, hatte die Mobilisierungen abgenommen - nachdem die Bombenangriffe inzwischen eingestellt worden waren -, blieb jedoch noch immer allein in Paris im fünfstelligen Bereich. In beiden Fällen kam es aber, am Rande oder vereinzelt auch innerhalb der Demonstrationen, zu ausgesprochen problematischen Äußerungen.

Wie viel Religion darf es sein? Oder: Wer entkonfessionalisiert den Protest? Diese Frage stellt sich derzeit vielen linken oder gewerkschaftlichen Kräften, die in den vergangenen Wochen den Protest gegen die israelischen Angriffe auf den Gaza-Streifen mitgetragen oder organisiert haben.

Bei den Demonstrationen sind so gut wie alle Strömungen der Linken mit Ausnahme der Sozialdemokratie vertreten. Die KP, die beiden größeren trotzkistischen Parteien (Lutte Ouvrière und LCR/NPA), die Anarchokommunisten und die Anarchosyndikalisten der CGT sowie Grüne, Frauenverbände wie „Femmes Egalité - Solidarité“, die Liga für Menschenrechte (LDH) und antirassistische Gruppen. Sie alle treten seit längerem für eine dauerhafte Ausgleichslösung im israelisch-palästinensischen Konflikt an, wobei viele für eine Zwei-Staaten-Lösung mit einem »lebensfähigen« palästinensischen Staat, andere eher für einen binationalen jüdisch-arabischen Staat eintreten. (Ziemlich schwach vertreten waren und sind hingegen bisher die Gewerkschaften, vielleicht mit Ausnahme von SUD/Union syndicale Solidaires, welch letztere eine lange Tradition „politischen“ und internationalistischen Engagements hat. Bei den übrigen Gewerkschaftsverbänden schien eher die Furcht davor zu dominieren, sich auf ein zu stark „politisiertes“ Terrain zu begeben. Allerdings lieferten ausnahmslos alle Gewerkschaftsverbände Stellungnahmen, überwiegend korrekte, zum Thema ab. Vgl. dazu ausführlich: http://isa.isa-geek.net/node/312 )

Aber sie sind nicht allein. Ähnlich wie in den nordafrikanischen Ländern, wo trotz Demonstrationsverboten seit Anfang Januar 2009 Massenproteste stattfinden, schlägt auch in den arabischstämmigen Bevölkerungen in Frankreich die Emotion hohe Wellen.
Traditionell fühlt man sich im Maghreb und anderen arabischsprachigen Ländern mit Palästina – das man im Allgemeinen als letzte Etappe der unvollendeten Entkolonialisierung versteht – eng verbunden. In Algier strömten am 9. Januar dieses Jahres die Menschen trotz Verbots zum Protest, es gab 63 z.T. schwer Verletzte infolge der polizeilichen Repression. Unter den Demonstrierenden fanden sich radikale Linke, aber bei den Protesten wurde auch der islamistische Ideologe Ali Belhadj - der nach wie vor als politisch gefährlich eingeschätzt werden muss - vorübergehend festgenommen. Bei diesen Demonstrationen sind tatsächlich sehr unterschiedliche Kräfte vertreten, die miteinander um die Hegemonie ringen. Die Orientierungen reichen von der arabischsprachigen politischen Linken, die an ihre starke antikoloniale Tradition erinnert, über das breite Spektrum des arabischen Nationalismus – der in allen Farben von säkular-liberal bis zu offenem Chauvinismus schillert – bis hin zu den Kräften des politischen Islam. (Die Mobilisierungen als solche sind selbstverständlich legitim. Dennoch enthalten sie immer wieder auch höchst problematische Komponenten. So kam es in Marokko zu hässlichen Erscheinungen, etwa Hassausbrüchen - im Internet und bei öffentlichen Versammlungen - gegen den jüdischen Berater von König Mohammed VI., André Azoulay. Lt. ‚Jeune Afrique’ vom 18. Januar o9 musste Azoulay ein Basketballspiel, dem er beiwohnte, infolge von zahlreichen Rufen und Beschimpfungen gegen seine Person verlassen. Dabei steht der marokkanisch-jüdische Politiker loyal zu seinem Land, und tritt keineswegs für die israelische Kriegführung ein.)
Auch in Frankreich sind diese unterschiedlichen Ausrichtungen bei den Demonstrationen vertreten. Bei den politischen Organisationen, die zum Protest gegen den
Krieg in Gaza aufrufen, dominiert die französische Linke zuzüglich progressiver, säkularer arabischer Organisationen wie der „Vereinigung der Tunesier für Bürgerrechte auf beiden Seiten des Mittelmeers“ (FTCR) oder der Vereinigung maghrebinischer Werktätiger in Frankreich (ATMF). 

Eine eher auf der extremen Rechten angesiedelte arabisch-muslimische Partei, der Parti des musulmans de France (PMF) unter Mohamed Latrèche, organisiert seine Versammlungen überwiegend allein mit Mahnwachen im Pariser Viertel Les Halles. Besonders problematisch ist übrigens, dass die ausgesprochen fragwürdigen, rechten und zum Teil Geschichtsrevisionismus verbreitenden Kräfte es offenkundig - so beobachteten jedenfalls im Internationalismusbereich aktive Linke - während der jüngsten Proteste zum Gazakrieg wesentlich leichter hatten, behördliche Genehmigungen für Infostände/Mahnwachen/Versammlungen zu bekommen, als fortschrittliche oder internationalistisch orientierte und jedenfalls nicht-antisemitische Kräfte. Dies könnte damit zusammenhängen, dass es den Behörden und dem Regierungslager aus Anlass des Gazakriegs (und der teilweise schwer hochkochenden Wut darüber u.a. in arabischen Milieus) durchaus in ihr Kalkül passte, ein möglichst hässliches Gesicht der Gegnerschaft zu diesem Krieg in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Jedenfalls teilten beileibe nicht alle Kräfte, die - mit einer jeweils unterschiedlichen Einschätzung der politischen Gesamtzusammenhänge - zum Protest gegen diesen Krieg und diese Massaker aufriefen, die tatsächlich antisemitische und/oder geschichtsrevisionistische Ausrichtung von Figuren und Strukturen wie des PMF (Mohamed Latrèche), der Vereinigung ‚La Pierre et l’Olivier’ (Ginette Skandrani) und Anderer. 

Gleichzeitig kommen aber auch viele, vor allem arabischstämmige Menschen aus nicht unbedingt progressiv orientierten Kreisen zu den Hauptdemonstrationen, zu denen u.a. die Linke und migrantische Verbände aufriefen. Denn mobilisiert wurde, was aus diesem Anlass wohl unvermeidlich war, auch beispielsweise in den Moscheen. Besonders problematisch ist das Auftreten der „Bewegung der Eingeborenen der Republik“ (Indigènes de la République), die vor vier Jahren als Lobbygruppe für die Franzosen mit Migrationshintergrund entstanden, aber sich inmitten eines Abgleiten in einen höchst fragwürdigen Ethno-Radikalismus befinden. Bei ihrer Suche nach der „radikalsten“ Orientierung verfielen sie auf den Slogan, den sie auf ihr Transparent schrieben: „Unterstützung für die Hamas und den bewaffneten Widerstand“. Das Gros der Kräfte, die an den Demos teilnehmen, beziehen sich hingegen keineswegs positiv auf die Hamas, sondern eher auf die palästinensische Zivilbevölkerung. 

Eher am Rande der Demonstrationen liefen in den vergangenen Wochen auch Operetten-Jihadisten mit – die eher lächerlich wirkten, als eines ihrer Grüppchen am vorletzten Samstag ein Gebet unter freiem Himmel mit 20 Teilnehmern veranstaltete, während 40.000 Menschen diesbezüglich teilnahmslos an ihnen vorbeizogen. Dort, wo solche Grüppchen sich lautstark zu Wort melden, werden sie von den Ordnungsdiensten aus den Demonstrationen gedrängt. Die Veranstalter/innen möchten nicht noch einmal eine Situation erleben wie am o7. Oktober 2000,als ein kleines Grüppchen am Rande einer pro-palästinensischen Demo »Todden Juden« rief, woraufhin alle anderen Kräfte den großen Platz räumtenund zum Teil fluchtartig verließen. (FUSSNOTE 1)

Bei den derzeitigen Demonstrationen wird konsequent darauf geachtet bzw. mit Nachdruck versucht, Slogans zu unterbinden, die auf Juden als solche zielen und nicht auf die israelische Staatspolitik: Wer „Tod den Juden“ ruft, wird hinausgeworfen. Allerdings gibt es tatsächlich vereinzelt Rufe wie „Khaibar, Khaibar“ - nach dem Namen einer Schlacht zwischen der Gefolgschaft des Propheten Mohammed und einem jüdischen Stamm im 7. Jahrhundert - in arabischer Sprache. Nicht unterbunden werden konnten jedoch die bisher von arabischstämmigen Menschen in großer Zahl mitgeführten Schilder und Plakate mit falschen historischen Vergleichen, etwa der Gleichsetzung der israelischen Politik mit den Verbrechen Nazideutschlands oder der Shoah mit den Massakern in Gaza.
Genau so wenig konnte man Übergriffe unterbinden – die zeitlich und örtlich völlig unabhängig von Demonstrationen stattfanden – gegen jüdische Symbole, Einrichtungen oder auch Menschen.. 55 Delikte wurden bisher in diesem Zusammenhang gezählt. Die meisten sind Propagandadelikte, beispielsweise eine Reihe von antijüdischen Graffitis in der Innenstadt von Toulouse. Zu verzeichnen sind aber auch die Brandstiftung an einer Synagoge im Pariser Vorort Saint-Denis, auf die neun Molotow-Cocktails geworfen wurden - vier Tatverdächtige wurden am Dienstag, 20. Januar gefasst - , und das Rammen der Eingangstür einer Synagogentür mit einem Auto am o5. Januar in Toulouse. Auch im zweiten Fall konnten Tatverdächtige festgenommen werden. Übergriffe auf Personen waren unterdessen bisher seltener. In Cergy-Pontoise im Pariser Umland wurde aber eine jüdische Schülerin der Mittelstufe von vier Mitschülern »wegen der Verbrechen deiner Brüder in Palästina« gemobbt und geprügelt. (Vgl. http://www.leparisien.fr

Umgekehrt wurden im 16. Pariser Bezirk drei Schüler der Oberschule ‚Lycée Janson de Sailly’, von denen zwei (oder alle drei) maghrebinischer Herkunft sind, am 8. Januar von Aktivisten der rechtsextremen „Jüdischen Verteidigungsliga“ geschlagen. Es handelt sich um die LDJ, Ligue de défense juive, Ableger der in Israel infolge von rechtsterroristischen Taten verbotenen, rassistischen Kach-Bewegung. Die Schüler hatten sich zuvor geweigert, ihr Flugblatt – für die Angriffe auf Gaza – anzunehmen, und sollen ein Exemplar davon zu Boden geworfen haben. Drei mutmaßliche Täter konnten am Mittwoch, 21. Januar durch die Polizei festgenommen werden. 

Der Staat setzt auf Ruhe durch Religion


Der Staat und die institutionellen politischen Kräfte reagieren darauf mit Aufrufen »zur Ruhe zwischen den Bevölkerungs- und Religionsgruppen«, und in jüngster Zeit verstärkt durch den Appell an Kleriker unterschiedlicher Glaubensgruppen, auf einen »interkonfessionellen Frieden« hinzuwirken. Mitte Januar o9 wurden neben Sozialvereinigungen (Associations) aus den Banlieues etwa die christlichen Kirchen, der Repräsentativrat der französischen Muslime und der Konsistorialrat der französischen Juden von der Regierung versammelt, um zu »Frieden zwischen den Religionsgruppen« aufzurufen.  

Andernorts kam es allerdings auf dieser Ebene - wo zuvor der „interreligiöse Frieden“, als Friedensschluss zwischen Konfessionsgruppen, gesucht worden war - zu Brüchen. So spaltete sich die „Jüdisch-muslimische Freundschaftsgruppe“ (AJM) am vergangen Freitag, weil die moslemischen Funktionäre geschlossen zurücktraten - nachdem sie festgestellt hatten, dass ihre jüdischen Kollegen (in ihren Worten) „keine Distanzierung von (israelischen) Kriegsverbrechen“ vornehmen mochten. - Ein Imam in der Pariser Vorstadt Drancy, Hassen Chalghoumi, der einen jüdischen Beisitzer hat und sich immer wieder für einen starken interreligiösen Dialog zwischen Juden und Moslems aktiv engagiert hatte, seinerseits musste Mitte Januar 2009 unter Polizeischutz gestellt werden. Er hatte von extremistischen Kräften wiederholt Todesdrohungen erhalten, Beleidigungen wurden ihm in der Öffentlichkeit zugerufen, und sein Auto war beschädigt worden.. Zu seiner Unterstützung fand am 16. Januar eine Kundgebung statt. (Vgl. http://www.mrap.fr/communiques/iman

Auf die jüngsten Versuche der Staatsmacht, Religion(sgruppen) als Faktor zur „Beruhigung“ und Ordnungsstiftung einzusetzen, reagierten mehrere politische Träger/innen des Protests – linke Organisationen, aber auch zahlreiche muslimische Vereinigungen - mit dem Hinweis, ihnen gehe es überhaupt nicht um einen »Religionskrieg«. Es handele sich vielmehr um eine Stellungnahme zu einem »politischen und territorialen Konflikt«, dessen Lösung nur außerhalb von Religion zu suchen sei.
Das »Kollektiv für einen dauerhaften Frieden zwischen Israelis und Palästinensern« – ein Organisationskartell, das die zweite Pariser Großdemo am 10. Januar 09 veranstaltete, nachdem die erste vom 3. Januar dieses Jahres überwiegend von arabischstämmigen Menschen besucht worden war – teilte in einer Stellungnahme mit, an dem politischen Protest nähmen »Muslime, Christen, Juden und Atheisten« gleichermaßen teil, und dies sei auch gut so. Andere Teilnehmer/innen reagieren auf die Gefahr einer Konfessionalisierung, indem sie sich betont positiv auch auf Oppositionskräfte, Wehrdienstverweigerer und Linke in Israel beziehen, so beispielsweise die französische KP und die LCR. 

Die Antirassismusbewegung MRAP, die seit langem in der pro-palästinensischen Bewegung aktiv ist und gleichzeitig einen umfangreichen politischen und juristischen Kampf gegen antisemitische Äußerungen, Schriften und Webseiten führt, integrierte diese Dimension zudem auch in ihr Vorgehen. Am 19., 20. und 21. Januar trat die antirassistische Organisation in mehreren Pariser Vorstädten zusammen mit der linksorientierten Französischen Jüdischen Union für den Frieden (UJFP) vor Schülern und Bewohnern der Banlieue auf, etwa in Saint-Denis und Mantes-la-Jolie. Beide hatten bereits vergangene Woche an einer Protestversammlung vor der angegriffenen Synagoge von Saint-Denis, am Abend nach dem Wurf der Molotow-Cocktails, teilgenommen. 

FUSSNOTE: 

ANMERKUNG 1: Ausgewiesene Gegner der Demonstration und ihrer Ziele hatten später behauptet, linke und antirassistischen Organisationen hätten diese Rufe gedeckt. Der Anwalt und Rechtszionist Gilles-William Goldnadel - der ansonsten u.a. Verteidiger der wegen Rassismus angeklagten Autorin Oriana Fallaci („die Moslems vermehren sich wie die Ratten“) war, sowie in der Vergangenheit Thesen des Front National gegen die arabische Einwanderung positiv aufgewertet und die neofaschistische Partei als „nationale Rechte“ verharmlost hat - hatte eine solche Behauptung über Mouloud Aounit, Chef der Antirassismusbewegung MRAP, aufgestellt. Sie stellte allerdings eine Lüge dar, weil Aounit in Wirklichkeit den Platz infolge dieser Rufe unverzüglich verlassen hatte. Ende Januar wurde Goldnadel deswegen in Paris aufgrund von Verleumdung und übler Nachrede zu einer Geldstrafe in Höhe von 3.000 Euro verurteilt.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe. Eine Kurzfassung erschien unter dem Titel „Kampf um die Hegemonie. Die französische Linke und die Palästina-Solidarität“ in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’