Der Weg wird ein langer sein
Eine notwendige Antwort auf den ISF-Artikel "Die Konterrevolution gegen Israel"


von Karl-Heinz Schubert

02/09

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung
Am 12.1.09 schrieb Joachim Bruhn an TREND: "Liebe Leute, zu Euerm neuen Schwerpunkt "Krisenherd Nahost" möchten wir Euch den beiliegenden Artikel "Die Konterrevolution gegen Israel" anbieten." In der Redaktion gab es daraufhin unterschiedliche Ansichten zur inhaltlichen Qualität des Artikels und so wurde
er in die Rubrik Diskussion & Information und nicht in den Sonderschwerpunkt Krisenherd Nahost eingestellt. Offen blieb allerdings, ob das strömungsübergreifende Selbstverständnis von TREND so weit auszulegen ist, dass solche Artikel darin Platz haben können, Deshalb wurde ich gebeten, für die Herausgeber einerseits eine Stellungnahme zu diesem Artikel abzugeben und zum andern darüber, wie die Redaktion zukünftig verfahren soll, wenn TREND wieder vergleichbare "antideutsche" Artikel angeboten werden.

  • Das Ergebnis im Hinblick auf diesen Artikel lautet:
    Dummes Zeug, bildungsbürgerlich aufgeputzt und wieder mal mit dreisten Schmähungen befrachtet.

Dennoch werden wir wegen dieses Artikels nicht von unseren publizistischen Grundsätzen abweichen. Falls ISF-AutorInnen weiterhin Veröffentlichungen bei TREND wünschen, sollten sie aber wissen, dass wir ihre Machwerke nicht unkommentiert veröffentlichen werden, wenn es geboten erscheint. Sollten freilich wieder Schmähungen der übelsten Sorte wie in diesem Artikel enthalten sein, werden wir von Ihnen Überarbeitung bzw. Kürzung vor Veröffentlichung verlangen.

Unser Protest gegen die Entscheidung, das ISF von der Nürnberger Linken Literaturmesse auszuschließen, bleibt davon unberührt; denn Hausmeisterdenke und- verhalten sollen Meinungsstreit und Polemik nicht ersetzen.

Doch nun zum Artikel Die Konterrevolution gegen Israel  im Einzelnen:


Der heutige Jude steht mitten im Kampf,
woraus folgt, daß die soziale Revolution notwendig ist
und die Kraft haben wird,
den Antisemitismus aus der Welt zu scharfen.
Wir werden die Revolution auch für die Juden machen.
Jean-Paul Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage

1)

Titel und Stoßrichtung des Aufsatzes leben von der schlichten Behauptung "Zionismus" sei "Bürgerliche Revolution", versehen mit dem Prädikat, die letzte in der Geschichte zu sein. Die Annahme einer bürgerlichen Revolution  ergibt sich nicht etwa aus einer materialistischen Beschäftigung mit der Gründungsgeschichte und der Gründung des Staates Israel selber, sondern aus einer reinen gedanklichen Konstruktion vermittelt über willkürlich konstruierte Zuweisungen:

"Theodor Herzl, dessen staats- und rechtsphilosophisches Buch „Der Judenstaat“ diese Revolution 1896 erst so denkbar machte wie Jean-Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ 1762 die französische, und David Ben Gurion, der Lenin Israels, stellen nichts anderes dar als die jüdische Ausgabe der großen Revolutionäre des Bürgertums, heißen sie nun Maximilien Robespierre, St. Just, Danton."

Und da ja bekanntlich Revolutionen weder gewaltlos noch ohne Konterrevolution ablaufen, ist für das ISF der reaktionäre Gegner des Zionismus auch leicht zu verorten:

"Aber jede große Revolution, die ihren Namen verdient, findet ihre Konterrevolution, ihre Vendée. Die Vendée der Zionisten heißt Palästina, und das Ancien régime, der Block aus Pfaffen, Bauern und königstreuen Aristokraten, der den Jakobinern den Weg verlegen wollte, heißt heute PLO, Islamischer Djihad, Hamas und Hisbollah."

Wer nun auf Ab- und Herleitungen für diese kühnen Behauptungen hofft oder empirische Belege dafür sucht, sieht sich maßlos enttäuscht. In diesem Aufsatz findet sich diesbezüglich nichts.

Die Gründung Israels im Jahre 1948 ist eine von KolonistInnen. Sie hatten diese Staatsgründung über viele Jahrzehnte in dem vom britischen Imperialismus als Kolonie besetzten Palästina vorbereitet, wobei ihnen jedes Mittel recht war (1). Der Zionismus war die vorwärts treibende Ideologie dieses Projekts und der Holocaust machte die Staatsgründung unabweisbar. Nur so konnten Menschen jüdischen Glaubens im weltweiten Meer des Antisemitismus  "Schutz und Heimstatt" finden, das meinten zumindest die ZionistInnen.

Doch das alles hat absolut nichts mit einer bürgerlicher Revolution zu tun. Es entsteht ein Staat, der von Anbeginn Krieg führen muss, weil seine Grenzziehungen willkürlich erfolgen und die Vertreibung hundertausender Menschen zur Voraussetzung hat. Es handelt sich um ein Staatsgebilde, dessen Apparate durch die SiedlerInnenbewegung  über Jahrzehnte aufgebaut und in dessen Ökonomie beständig überschüssiges Kapital zwecks profitabler Verwertung importiert worden war(2) und fortan importiert werden sollte..

2)

Israel ist ein Staat ohne eine bürgerlich republikanische Verfassung, in der üblicherweise Grundrechte für die freie Entfaltung der Einzelnen enthalten, die Gewalten geteilt und Staat und Religion getrennt sind(3). Die Grundrechte bestehen nur in Ansätzen in der Form einzelner von der Knesset erlassener Gesetze, die mit einfacher Mehrheit wieder aufgehoben werden könnten. Stattdessen versteht sich Israel - nimmt mensch Israels Gründungserklärung(4) als Grundlagendokument  - als ein Staat, in dem Herrschaft auf der Grundlage religiöser Prinzipien ausgeübt wird.(5)

Auch dies hängt mit den Bedingungen seiner Gründung zusammen. Die ZionistInnen mussten, um die Staatsgründung mit allen in Palästina lebenden JüdInnen durchsetzen zu können, mit den Orthodoxen kooperieren(6), die ihrerseits verlangten, dass in diesem Staat die privaten Beziehungen durch das Rabbinat und abgeleitet aus der Thora bestimmt werden. Die ZionistInnen gingen diesen Deal ein, obgleich ihre politischen Grundsätze aus einem  linkssozialdemokratischen Selbstverständnis stammend (Kibbuz, Histradut), dem eigentlich entgegen standen.

Angesichts solcher staatlicher Strukturen von einer bürgerlichen Revolution zu sprechen, kann nur die Funktion haben - die Einfalt der LeserInnenschaft vorausgesetzt -  Israel als Ort bürgerlicher Zivilisation schlechthin erscheinen zu lassen. Dies ist ein übler Propagandatrick, um mit dessen Hilfe die gleichzeitig zu Israel wachsenden staatlichen Strukturen in den palästinensischen Siedlungsräumen als undemokratisch und reaktionär erscheinen zu lassen: "In Palästina gab es kein „Volk“, keine Masse Mensch, die irgend zum Staatsmaterial qualifiziert war, sondern moslemische Staatssklaven." (7)

3)

Ebenfalls inakzeptabel ist der Versuch, Karl Marx und seine historischen Befunde zur so genannten ursprünglichen Akkumulation in Anspruch zu nehmen, um die ökonomische Entwicklung Israels und der von Israel unterworfenen Territorien zu qualifizieren. Marx definiert im besagten 24. Kapitel des 1. Bandes des Kapitals::

"Der Prozeß, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprozeß des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozeß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als "ursprünglich", weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet." (8)

Schaut man sich die Klassenverhältnisse vor und bei der Staatsgründung Israels an, so wird man feststellen, dass die Siedler bereits doppelt freie Lohnarbeiter waren, als sie in Palästina zu siedeln begannen und die Palästinenser durch ein Geldgeschäft - nämlich durch den Aufkauf der von ihnen als Pächter bearbeiteten Grundstücke - als Produzenten von ihren Produktionsmitteln getrennt wurden. Schließlich entstammte das Kapital, welche in Palästina profitabel angelegt wurde, nicht aus dem Kreislauf W - G - W' sondern aus G - W - G'; ganz gleich ob es aus den USA, Großbritannien oder sonst woher stammte.

Im Kommunistischen Manifest ist bereits nachzulesen, was es heißt, wenn der Kapitalismus, der seine ursprüngliche Akkumulation historisch längst hinter sich gelassen hat, sich noch nicht durchkapitalisierter Weltgegenden bemächtigt:

"Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die billigen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die so genannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde." K. Marx, Kommunistisches Manifest, (9) MEW 4, 466.

Kurzum - es handelt sich in Palästina bei der Gründung Israels um den abschließenden Akt einer kapitalistisch-imperialistischen Kolonisierung und keineswegs um eine ursprüngliche Akkumulation. Die ISF-Behauptung von der ursprünglichen Akkumulation soll lediglich dazu dienen, die vor und nach der israelischen Staatsgründung laufenden kriegerischen Auseinandersetzungen in und um Palästina, die überwiegend von den KolonistInnen ausgingen/gehen, zu legitimieren. Und zwar nicht aus sich heraus, d.h. aus der Analyse der inneren und äußeren Widersprüche, diese machte nämlich eine Analyse der Klassenverhältnisse zwingend. Nein -  hier wird stattdessen teleologisch von der  "Bestimmung der Geschichte" geraunt, um zu suggerieren, die Geschichte Israels habe ihre eigene, gleichsam von den handelnden Subjekten unabhängige Zweckgerichtetheit. So laufen nun mal "bürgerliche Revolution" und "ursprüngliche Akkumulation" ab, meint das ISF - was gibt es da über permanente Menschenrechtsverletzungen und Staatsterrorismus zu meckern?

4)

Hinter der hochtrabenden ISF-Phrase von Revolution und Konterrevolution versteckt sich jedoch ein ganz armseliger Inhalt, der mit den Worten des langjährigen bundesdeutschen Botschafters in Israel, Rudolf Dreßler (SPD), in etwa lautet:

" Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson." (10)

Es kann allerdings nicht die Aufgabe von Linken sein, die Positionen der herrschenden Klasse zu vertreten, denen die imperialen Interessen der Großkonzerne und Banken zugrunde liegen. Nun ist es für Linke in der BRD wegen des Holocausts freilich nicht so einfach, in Abgrenzung zum herrschenden Philosemitismus eine Antwort auf die Nahostfrage zu entwickeln.

Ich möchte dazu Judith Butler ausführlich zitieren, weil ich glaube, dass ihre Hinweise, die sehr prinzipieller Art sind, bei einer Antwortsuche richtungsweisend sein können:

"Mein bescheidener Rat wäre der, politische Positionen zu entwickeln, die sowohl antisemitische als auch antiarabische Einstellungen und Handlungen kritisieren, und die eigene Kritik an Israel, sei es an dessen aktuellem Vorgehen oder sogar an dessen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, mit einer überwölbenden Position zur radikalen Gleichheit, einer gründlichen Kritik an rassisch und religiös motiviertem Haß und einer Kritik an kolonialer Besatzung und kolonialer Entrechtung zu begründen.
Man gerät in ein scheußliches Dilemma, wenn man die eigene politische Rede zensiert, weil sie von anderen als antisemitisch ausgelegt werden könnte, obwohl die Gründe für diese politische Rede vollkommen legitim sein mögen. Wo der »Vorwurf« dazu dient, diejenigen zu brandmarken, zu stigmatisieren und mundtot zu machen, die möglicherweise im Namen radikaldemokratischer Prinzipien sprechen, ist es wichtig, von Zeit zu Zeit ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß es eben diese Prinzipien sind, die verwendet werden müssen und können, um gegen Faschismus, gegen Apartheid und gegen die staatliche Gewalt von seilen Israels vorzugehen, auch wenn diese politischen Konfigurationen strukturell nicht vergleichbar sind. Manchmal muß man dem Stigma standhalten und offen dagegen kämpfen, um dessen Voraussetzungen in Frage zu stellen. In Deutschland kann dies allerdings nur geschehen, denke ich, indem man eine Analyse ausarbeitet, die eine sachkundige und entschiedene Kritik am anhaltenden Antisemitismus umfaßt und eine klare Aussage darüber macht, wie diese beiden Formen sozialer Verletzung und Gewalt auseinanderzuhalten sind, nämlich die gegen Juden verübte Form und die vom Staat Israel ausgeübte Form."
(11)

Solch intellektuelle Redlichkeit und Differenziertheit suchen die LeserInnen im ISF-Artikel vergeblich, gilt doch dort das Motto: Nicht Kleckern sondern Klotzen! Kurzer Hand werden Linke pauschal auf Seiten einer fantasierten Konterrevolution verortet und mit PLO, Djihad, Hamas und Hisbollah in einen Topf geworfen.

5)

Trotz der ständigen Diversion antideutscher Sekten, die sich ideologisch im Fahrwasser imperialer bundesdeutscher Außenpolitik bewegen, muss es in linken Diskursen wieder Standard werden, Israel, die besetzten Gebiete und Palästina als Klassengesellschaften zu benennen und dortige Ausbeutung und Unterdrückung, d.h. die spezifische Erscheinungsform der  Herrschaft der "toten" Arbeit über die "lebendige" zu analysieren.

In Agitation und Propaganda wieder Partei ergreifen zu können für die in dieser Region der Welt unterdrückten Lohnabhängigen, wird jedoch ein langer Weg sein. Dies liegt zum einen am gegenwärtigen theoretischen Niveau der bundesdeutschen Linken. Denn es mangelt ihr an der Kritik der Politischen Ökonomie - die unabdingbare Voraussetzung für solch eine Parteinahme, die sich ableitet aus einer wissenschaftliche Analyse der Klassenverhältnisse in Nahost. Zum andern sind die Klassenverhältnisse in dieser Region - wie Moshe Zuckermann(12) hervorhebt - überformt von einem fundamentalen Patriotismus, der alle Werktätigen - israelischer wie palästinensischer Herkunft - beständig veranlasst ihre sozialen Interesse der eigenen herrschenden Klasse nicht nur unterzuordnen, sondern sich mit deren Interessen zu identifizieren. Dies führte zumindest auf israelischer Seite spätestens seit 1977 (Machtübernahme durch den Likud-Block) dazu, dass "links" und "rechts" ihres sozialen Begriffsinhalts entledigt, ihren jeweiligen Bezugsrahmen nur noch in der Außenpolitik haben:

"Für links werden seitdem jene erachtet, die eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts im Sinne einer das Kernproblem des Konflikts bildenden Teilung des Gesamtterritoriums Israel-Palästina anstreben. Als rechts gelten entsprechend jene, die einen Rückzug aus den im 1967er Krieg besetzten Gebieten entweder ganz verdammen oder doch zumindest nur eingeschränkt und unter Wahrung der israelischen »Sicherheits«-Hegemonie zulassen möchten." (13)

Obgleich allein in Israel/Palästina ein Viertel der EinwohnerInnen unter der Armutsgrenze leben und es trotz Streikverbots ständig zu Arbeitskämpfen kommt, sind die Spuren von 60 Jahren Krieg unauslöschlich ins Bewusstsein eingebrannt, so dass das Entstehen einer Linken, die sich entlang der sozialen Frage organisiert, in nächster Zukunft als sehr unwahrscheinlich erscheint. Krieg oder Frieden werden in Nahost weiterhin die Bezugspunkte für links und rechts bleiben. Von daher müssen bundesdeutsche Linke im Sinne einer internationalen/antinationalen Solidarität die Kräfte unterstützen, die sich für eine gerechte und friedliche Lösung des Nahostkonflikts einsetzen.(14)

EPILOG

Jede politische Orientierung hat ihre Wurzeln im persönlichen Erleben. Selten jedoch besteht die Möglichkeit diesen Zusammenhang deutlich werden zu lassen, wenn es in den täglichen Auseinandersetzungen darum geht, Standpunkte als spezifischen Inhalt jener Orientierung losgelöst davon im Meinungsstreit zu vermitteln.

Im vorliegenden Fall halte ich es für wichtig diese Trennung von Standpunkt und praktischer Erfahrung/Anschauung aufzuheben - nicht nur  weil es möglich sondern auch sachlich angemessen erscheint. Dies soll nun in skizzenhafter Form - nur meiner Erinnerung folgend - geschehen.

Vor knapp 40 Jahren bereiste ich als Mitglied einer Delegation im September 1969, die von der israelischen Regierung eingeladen war, für zwei Wochen nach Israel und in die besetzten Gebiete. Zu dieser Delegation gehörten StudentInnen der FU und TU Berlin, sowie der westberliner Pädagogischen Hochschule, außerdem einige wissenschaftliche MitarbeiterInnen und zwei Professoren.


Die StudentInnen gehörten meistens dem SDS oder dem SHB an, bzw. unterstützten die westberliner Basisgruppen. Sie brachten dies durch eine Art Uniformierung durch blaue Arbeiterjacken zum Ausdruck, die sie mit revolutionären Stickern (Mao, Vietnamemblem usw.) versahen.


Schnappschuss: Auf den Dächern Jerusalems

Ich war ziemlich erschrocken, als ich in Tel Aviv aus dem Flugzeug auf die Gangway trat und  in die Mündung etlicher Maschinengewehre blickte, die gegenüber auf dem Dach der Empfangshalle, bewehrt mit Sandsäcken und Stacheldraht, auf uns gerichtet waren. Und mein erster Gedanke war: Hier ist Krieg.

Als Pädagogikstudent hatte ich mich besonders für die Kibbuz-Erziehung interessiert und in Westberlin die Broschüre des Zentralrats der Kinderläden mit Texten von Anna Freud und David Rappaport gelesen. Ich war Sozialist und hoffte, hier in Israel über die sozialistischen Erfahrungen mit dem Kibbuz-Projekt diskutieren zu können.

Obwohl wir revolutionär drapiert daherkamen, den israelischen Reisebus, der uns für diese Studienfahrt seitens der Regierung zur Verfügung gestellt wurde, mit roten Fahnen und einem Che Guevara Plakat schmückten, begegneten uns an diesem Punkt unsere israelischen Gastgeber ausgesprochen tolerant und ließen uns gewähren. In den Diskussionen blieben sie jedoch standfest und ließen uns wissen, dass bei ihnen weit vor der sozialen Frage  die nationale Frage platziert sei.

Dies deckte sich allerdings auch mit der Anschauung. Egal - ob in Tel Aviv, in Haifa, Jerusalem oder sonst wo, überall waren die handarbeitenden Menschen arabischer - Abstammung- jüdischen wie muslimischen Glaubens. Eklatant sichtbar war das soziale Gefälle gegenüber den Drusen. Sie wohnten abgesondert in ärmlichen Behausungen, waren vom allgemeinen Bildungswesen durch besondere Schulen und soziale Einrichtungen ausgeschlossen.

Unsere Studienfahrt war als Rundreise organisiert, so dass wir tatsächlich jeden Winkel des israelischen Territoriums kennen lernten. Abends standen Vorträge mit Diskussion auf der Tagesordnung.

In Beersheba waren wir in einer Jugendherberge untergebracht, in der außer uns sich nur noch bis an die Zähne bewaffnete israelische Soldaten aufhielten, deren Panzer vor den Bungalows der Herberge standen. In der abendlichen Diskussion fragten wir den israelischen Regierungsvertreter, ob die Herberge nicht eher eine Kaserne sei. Worauf er uns allen Ernstes weiß machen wollte, dass es sich bei den Soldaten um solche handelte, die Urlaub hatten. Als wir fragten, ob es üblich sei, dass Soldaten in Israel ihre Panzer mit in den Urlaub nähmen, wurde er ungehalten.

Am See Genezareth führte uns ein Spaziergang bei Einbruch der Dunkelheit fast in einen Hinterhalt - von wem auch immer. Jedenfalls gab es einen Schusswechsel und wir lagen im Straßengraben. In einer Feuerpause setzen wir uns ab und kamen wieder unversehrt in unserer Unterkunft an.

Die Golanhöhen erlebten wir als tote Mondlandschaft, militärisch gesichert von der israelischen Armee. Im Gazastreifen ging ein Steinhagel auf unseren Bus nieder als wir zur Besichtigung dort durchgefahren wurden, da halfen uns weder rote Fahnen noch das Che Guevara Plakat in den Busfenstern.

Nach Nablus fuhr der Bus erst gar hinein, war doch in der Woche zuvor der Reisebus der Regierung von Handgranaten zerstört worden. Wir gingen also zu Fuß, denn wir wollten uns im Basar bei den Palästinensern unbedingt Schafsfellmäntel kaufen, die damals in Deutschland unter Linken als besonders hip galten, dort teuer und hier unverschämt billig waren. Als der palästinensische Verkäufer mitkriegte, dass wir aus Deutschland waren, hob er mit strahlendem Gesicht die Hand zum Hitlergruß. So war er seine Kundschaft los.

In Tel Aviv und Haifa vergaßen wir sehr schnell, dass wir in einem Krieg führenden Land waren. Wir lagen an den dortigen Stränden und fühlten uns als richtige Mittelmeerurlauber.

Die erlebnisreichsten Tage hatten wir jedoch in Jerusalem, die uns dort zur freien Verfügung standen. Einige von uns fuhren nach Eylat zum Tauchen. Wir Basisgruppen-GenossInnen wollten dagegen endlich Kontakt zu "richtigen" linken Israelis kriegen, nachdem wir im Kibbuz und bei der Histradut nur die Möglichkeit hatten, mit SozialdemokratInnen zu diskutieren. Diesen Kontakt bekamen wir in einer Diskothek, wo wir einigen GenossInnen von Matzpen(15) aufgrund unserer "Uniformierung" und der Stickers auffielen. Wir verabredeten, dass wir sie am nächsten Tag bei einer Flugblattaktion in Nablus unterstützen. Dies stellte sich dann doch komplizierter dar, als wir euphorisch in der Nacht zuvor angenommen hatten. Die GenossInnen, die wir am nächsten Tag unterstützen wollten, waren andere als die aus der Diskothek und vor allem konnten sie kein Englisch, die Flugblätter waren in arabischer und hebräischer Sprache. So konnten wir nicht nachvollziehen, was wir da verteilen sollten. Unter diesen Umständen nahmen wir an der Aktion in Nablus nicht teil. Am selben Abend trafen wir noch einmal die Matzpen-GenossInnen aus der Diskothek, die unsere Entscheidung akzeptierten.

Alles in allem war für mich die Israel-Reise eine sehr zwiespältige Erfahrung. Nach dieser Reise distanzierte ich mich von der israelischen Politik, wie ich sie unter den Alltagsbedingungen eines Krieg  führenden Staates kennen gelernt hatte. Abstoßend fand ich besonders die ethnischen Grenzziehungen, die Teil der offiziellen israelischen Innenpolitik waren. Dagegen wuchsen keine besonderen Soli-Gefühle für die unterdrückten PalästinenserInnen auf, die nichts anderes taten, als den fundamentalen Patriotismus der meisten Israelis auf ihre Weise nachzuäffen. In der politischen Programmatik der Matzpen, über die ich mich im Anschluss an die Reise näher informierte, fand ich einiges sehr positiv, weil diese Organisation ausdrücklich die soziale und Klassenfrage in den Mittelpunkt ihrer Politik stellte.

Dass deren Konzept eines israelisch- palästinensischen ArbeiterInnenstaat von seiner Verwirklichungsmöglichkeit heute weiter denn je entfernt ist, gehört freilich nicht mehr zu meinen "Israel-Erinnerungen".

Anmerkungen

1) siehe dazu: Nathan Weinstock: Das Ende Israels
2) ebenda
3) Siehe dazu: http://www.hagalil.com/israel/verfassung/verfassung.htm
4) http://www.mfa.gov.il

5) "
In Israel ist das Problem von "Religion und Staat" im Grunde ein Problem von „Religion. Nation und Staat", da für die jüdische Bevölkerungsmehrheit jüdische Religion und jüdische Nationalität nicht zu trennen sind. Obwohl weltliche Sozialisten die israelische Unabhängigkeitserklärung verfasst haben, ist dort die Rede von der "religiösen und nationalen Identität" des jüdischen Volkes, seinen Gebeten, von der Bibel sowie vom ..Felsen Israels" (Zur Yis-i-ael). einem traditionellen Synonym für Gott. In Israel sind viele nationale Symbole religiösen Ursprungs. So entsprechen beispielsweise die blau-weißen Farben der Staatsflagge den Farben des Gebetsschals (Tallit)."
Benyamin Neuberger, Staatsaufbau und politisches System, Israel, Informationen zur politischen Bildung 278, S.17
6) siehe ebenda
7) Die Konterrevolution gegen Israel
8) MEW 23, S. 742 oder http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm
9)
MEW 4, S. 466. oder http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm
10) Rudolf Dreßler in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 15/2005, S. 8
11) Judith Butler, Der Antisemitismus-Vorwurf, in: Neuer Antisemitismus?, hrg. von Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider, Ffm 2004, S.91f
12) siehe: Moshe Zuckermann, In der Konsensfalle

13) ebenda
14) Um wen es sich dabei handelt, kann in dem von Sebastian Kalicha herausgegebenen Buch: Barrieren durchbrechen! Israel / Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus nachgelesen werden.
15) http://en.wikipedia.org/wiki/Matzpen

Editorische Anmerkungen

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