Wanderarbeiter in China: Die Vogelfreien
Sozialversicherung ist Luxus - die Regierung unternimmt kaum etwas dagegen.

Von Reinhold Schramm

02/08

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Mit 'Agitprop' kann man(n) kein Sozialsystem (Kranken- und Unfallversicherung, Arbeits- und Rentensystem) aufbauen; auch kein System der allgemeinen Schul- und Volksbildung. Das System der kapitalistischen Ausbeutung und Bereicherung steht dieser offiziell
propagierten flächendeckenden Einführung entgegen. So verspricht die Staats- und Parteiführung eine Krankenversicherung für die Landbevölkerung bis ins Jahr 2010, - mit eingeschränkter Selbstbeteiligung. Zugleich wurden vorhandene flächendeckende Ansätze
beseitigt, die elementare Gesundheitsversorgung; sie wurde für die Mehrheitsbevölkerung dem Profitsystem und der kapitalistischen Selbstbereicherung geopfert. Die nachfolgende Zusammenfassung aus einem Artikel, "Die Zeit" vom Juli 2005, dürfte auch weiterhin der aktuellen Realität der Entwicklung für ('gegen') eine 'Sozialversicherung' entsprechen.

"Millionen Chinesen müssen jedes Jahr frühzeitig sterben, weil sie für Arzt und Medikamente nicht bezahlen können. "48,9 Prozent der Bevölkerung können sich im Krankheitsfall keinen Arztbesuch leisten, und 29,6 Prozent werden ärztlich nicht behandelt, wenn es notwendig wäre", räumt Vizegesundheitsminister Gao Qing ein.

Der Krankennotstand ist nur Teil eines viel größeren Problems: In China hat die Marktwirtschaft die sozialen Netze von Maoismus und Planwirtschaft zerrissen. in den Städten garantierte früher die Arbeitseinheit, genannt danwei, allen Einwohnern Rente, Kranken- und Unfallversicherung. Auf dem Land sorgten die legendären Barfußärzte für eine zwar primitive, aber sozial eingebettete und für den Staat äußerst kosteneffektive Gratisbetreuung der Bauern. Trotz der riesigen Bevölkerung kümmerte sich der Staat um alle. Heute ist in China nur jeder sechste Erwerbstätige krankenversichert und nur jeder fünfte rentenversichert.

Im September 1995 wurde der Aufbau eines Sozialsystems auf dem Papier verfügt. Seitdem gibt es die 'papierne' gesetzliche Sozialversicherungspflicht. Doch was nützt das, wenn zehn Jahre danach selbst die staatliche Telefongesellschaft das Gesetz ungestraft
missachten darf?

Ein Opfer: "Die Gerichte verteidigen immer nur die Starken - es gibt keine Gerechtigkeit." Unter den 744 Millionen Erwerbstätigen bilden etwa 200 Millionen Wanderarbeiter die unterste Schicht - im noch stabilen Staat. In Beijing arbeiten 1,3 Millionen Wanderarbeiter. Nur 2 Prozent von ihnen sind unfallversichert (in 2004/05). In den vergangenen fünf Jahren (2000-2005) starben auf Beijings Baustellen rund 10.000 Menschen, jährlich 2000, direkt vor den Augen der Regierenden. Diese Zahlen wurden vom Beijinger Arbeitsamt offiziell publiziert - und es änderte sich nichts.

Die Bundesrepublik Deutschland finanzierte als Partner ein Beratungsprojekt - für den Aufbau eines chinesischen Sozialstaats. Deutsche Experten, die an dem Projekt teilnahmen, bezeichnen die Ergebnisse als katastrophal. Die Spitzenkader schoben alle notwendigen Reformen auf.

Die Vizeministerin und Sozialexpertin Liu Haihua hat die Nase voll. "Was sie auf Parteichinesisch ausspricht, gleicht einer Bankrotterklärung" (- "Die Zeit") der Pseudokommunisten. Das Sozialsystem berücksichtigt nur die Einwohner der Städte. Die Baufirmen lassen die Leute auf dem Land registrieren und in der Stadt arbeiten. Wer die Sozialexpertin hört, muss am sozialen Reformwillen in der Spitze der 'KP' zweifeln. Milliarden wurden für Olympia, die Oper in Beijing und den Transrapid in Shanghai investiert, die Arbeiter und Bauern gehen leer aus. Paradebeispiel für die Vernachlässigung der Sozialversicherung durch das "Politbüro" ist ein Feldversuch für ihre Einführung, - seit 2001 in der Provinz Liaoning. Der Feldversuch für die Einführung einer Sozialversicherung funktionierte nicht. Auch ein Kapitaldeckungsverfahren für die Rentenversicherung scheiterte. Die korrupte Behörde gibt die Mittel zum Teil zweckentfremdet aus. Ausländische Experten sehen auch hier den Grund für einen Zusammenbruch der chinesischen Sozialversicherung - und sie fordern eine stärkere Kontrolle von Einnahmen und Ausgaben und eine "unabhängige" Verwaltung von Sozial- und Rentenfonds. Als Zeitbombe sieht man die Folgen der "Ein-Kind-Politik" - und die Alterung der Gesellschaft. Der Anteil der über 60-Jährigen könnte sich von jetzt 10 Prozent (Jahr 2004/05) - auf
25 Prozent bis zum Jahr 2040 steigern.

Inkompetenz ist angesagt: Die Leiterin der Sozialabteilung der Weltbank, Yu Xiaoping, in Beijing, hat sich in der Weltbank hochgearbeitet und weiß nichts vom Leben der Wanderarbeiter, "obwohl sie von ihrem Büro im China World Tower aus viele Baustellen überblicken kann." (- "Die Zeit") Hier dürfte sich auch wenig bis ins Jahr 2010 verändert haben.
 

Editorische Anmerkungen

Der Autor stellte uns den Artikel am 10.2.08 zur Verfügung.

Quellenvergleich: Die Zeit , 21.07.2005 , Nr. 30. www.zeit.de
Bezug: "Das Los der Vogelfreien"