Das Philosophische Wörterbuch  BAND 1

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

02/08

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Abbildtheorie (auch: Widerspiegelungstheorie)


1. allgemein:
Lehre, daß die Erkenntnis eine Abbildung oder Widerspiegelung der objektiven Realität im menschlichen Bewußtsein ist. In ihrer dialektisch-materialistischen Ausprägung ist die Abbildtheorie das Kernstück der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie. Sie geht davon aus, daß der Gegenstand der Erkenntnis, die objektive Realität, unabhängig und außerhalb vom erkennenden Subjekt, dem gesellschaftlichen Menschen, existiert und von diesem in einem komplizierten Erkenntnisprozeß auf der Grundlage der Praxis bewußtseinsmäßig erfaßt und in ideellen Abbildern, wie Empfindungen, Wahrnehmungen, Begriffen, Aussagen, Theorien usw., widergespiegelt wird, d. h., das Materielle wird im Menschenkopf in Ideelles umgesetzt und übersetzt (marx).


Die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie impliziert in erkenntnistheoretischer Hinsicht in dieser oder jener Form eine Abbildtheorie. In der Geschichte der Philosophie ist von verschiedenen Philosophen ein Beitrag zu einer wissenschaftlich begründeten dialektischen Abbildtheorie geleistet worden, der ein Schritt auf dem Weg zum dialektischen und historischen Materialismus war. In einer noch naiven Form wurde die Abbildtheorie bereits von demokrit begründet. Nach seiner Auffassung werden alle Dinge durch Vereinigung von Atomen gebildet, die sich voneinander durch Gestalt, Ordnung, Lage, Größe und Gewicht unterscheiden. Alle Gegenstände senden fortwährend Atomgruppen (Eidola) aus, welche feine, unsichtbare Abbilder der Gegenstände sind und durch Berührung mit den menschlichen Sinnesorganen die Sinneserkenntnis ermöglichen. Eine Neubegründung und Weiterentwicklung erfuhr die Abbildtheorie durch den englischen materialistischen Sensualismus und durch den an ihn anknüpfenden französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts.

Bei hobbes und locke ist die Abbildtheorie der Erkenntnis eng mit ihrer Auffassung von den sog. primären und sekundären Qualitäten verbunden, woraus sich verschiedene Inkonsequenzen ihrer im ganzen materialistischen Erkenntnistheorie herleiten. hobbes sieht in den Wahrnehmungen ((ideas) Abbilder der materiellen Körper im Bewußtsein, die Empfindungen des Lichts, der Farbe, der Wärme, des Tons aber sind ihm nur Phantasmen, die aus der Einwirkung der Objekte auf die Sinnesorgane entstehen (Lehre vom Körper 4, 25). Ähnlich betrachtet locke die Wahrnehmungen (ideas) der primären Qualitäten der Körper, wozu er Größe, Gestalt, Zahl, Lage und Bewegung rechnet, als Abbilder der objektiven Realität, während er die sekundären Qualitäten, wie Farbe, Ton, Geruch, Geschmack usw., als Wirkungen der primären Qualitäten auf die Sinnesorgane erklärt (Über den menschlichen Verstand 2, 8).

Die französischen materialistischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, insbesondere holbach und diderot, führten die Abbildtheorie konsequenter durch. Sie machten keinen prinzipiellen Unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten und sahen in den Empfindungen, Wahrnehmungen und Ideen Abbilder der Gegenstände mit ihren Eigenschaften. Die materiellen Gegenstände existieren außerhalb des menschlichen Bewußtseins, sie wirken durch ihre Eindrücke auf die Sinne, wodurch Empfindungen entstehen, die als Wahrnehmungen im menschlichen Gehirn bewußt werden und als Ideen auf die Gegenstände bezogen werden, welche sie hervorrufen. Jede Idee ist das Abbild des Gegenstandes, von dem die Empfindung und die Wahrnehmung ausgehen (holbach, System der Natur I, 8). Es besteht ein organischer Zusammenhang zwischen Empfindung, Wahrnehmung und Denken; alle sind sie Funktionen des menschlichen Gehirns und werden hervorgerufen durch die Einwirkung äußerer Gegenstände (diderot, Elemente der Physiologie XVII,XXIX,XXXIII). Die Abbildtheorie der englischen und französischen Materialisten war infolge des wesentlich empiristischen Charakters ihrer Erkenntnistheorien vornehmlich auf die Sinneserkenntnis beschränkt. Soweit die rationale Erkenntnis einbezogen wurde - worum sich insbesondere diderot stark bemühte -, gelang es noch nicht, ihre spezifische Qualität gegenüber der Sinneserkenntnis herauszuheben. Die französischen Materialisten verarbeiteten die damaligen naturwissenschaftlichen Kenntnisse, vor allem aus dem Bereich der Physiologie, um ihre erkenntnistheoretischen Auffassungen zu begründen. Obwohl sich bei ihnen eine Reihe wertvoller Gedanken über den dialektischen Charakter der Erkenntnis finden, blieb ihre Abbildtheorie insgesamt doch wesentlich undialektisch befangen. Weitere Elemente der materialistischen Abbildtheorie entwickelte spinoza. Erkennen bedeutete für ihn ein Abbilden der Dinge und ihrer Ordnung in den Ideen und ihrer Ordnung (Ethik II, Lehrsatz 7). Die Ordnung der Ideen, der Zusammenhang der Gedanken im Bewußtsein muß den objektiven Zusammenhang der Dinge widerspiegeln, zwischen ihnen muß Übereinstimmung bestehen. Wenn die Ideen mit den Dingen übereinstimmen, sind sie wahr (Ethik I, Grundsatz 6). Das Erkennen muß ein getreues Bild der Natur geben. Die Anwendung der Abbildtheorie auf die rationale Erkenntnis durch spinoza bedeutete einen Fortschritt gegenüber dem einseitigen Empirismus und bildet zusammen mit den Auffassungen der englischen und französischen Materialisten eine wichtige theoretische Quelle der dialektisch-materialistischen Abbildtheorie. Der Gedanke der Abbildtheorie ist von Vertretern des Idealismus in ihrem Kampf gegen die materialistische Erkenntnistheorie in subjektividealistischer Weise verfälscht worden. berkeley und hume schufen die immanente Abbildtheorie, die bis in die neuere bürgerliche Philosophie hinein nachwirkt. berkeley betrachtet die den Sinnen eingeprägten Ideen, also die Empfindungen, als die wirklichen Dinge, die Ideen im engeren Sinne, also die Gedanken, als die Abbilder der Dinge, so daß die Gedanken die Empfindungen abbilden (Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis XXXIII). Ähnlich sieht hume in den Vorstellungen oder Gedanken (ideas) Abbilder der Eindrücke oder Wahrnehmungen (impressions), so daß der ganze Abbildungsprozeß in allen seinen Gliedern dem Bewußtsein immanent ist (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand II). Durch berkeley und hume wurde das materialistische Wesen der Abbildtheorie subjektiv-idealistisch umgefälscht.

Die Abbildtheorie des dialektischen und historischen Materialismus, die von marx und engels geschaffen und von lenin weiterentwickelt wurde, bedeutet eine qualitativ neue Stufe in der Entwicklung der materialistischen Erkenntnistheorie. Sie führt die richtigen Grundgedanken der Abbildtheorie der früheren Materialisten fort, überwindet ihre Mängel und verarbeitet zugleich kritisch die Resultate und richtigen Problemstellungen, welche die idealistische Erkenntnistheorie hervorgebracht hat.

Die neue Qualität der dialektisch-materialistischen Abbildtheorie zeigt sich vor allem in folgenden Gesichtspunkten: sie erfaßt im Unterschied zu aller anderen Erkenntnistheorie den sozialen Charakter und die soziale Determiniertheit des Abbildungsprozesses. Die gesellschaftliche Praxis in ihren vielfältigen Formen ist die Grundlage, auf welcher der Abbildungsprozeß im menschlichen Bewußtsein erfolgt. Die Praxis ist auch das letzte und entscheidende Kriterium, das es gestattet zu prüfen, inwieweit die Abbilder mit dem Abgebildeten übereinstimmen, um sie fortlaufend zu korrigieren und zu präzisieren. Das menschliche Erkenntnisvermögen, der Apparat, mit dessen Hilfe die Abbildung der objektiven Realität erfolgt, ist nicht nur ein Ergebnis der biologischen Evolution und Anpassung, sondern vor allem der gesellschaftlichen Entwicklung. «Die Bildung der fünf Sinne ist "eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte» (marx). Ebenso erhält auch der Gegenstand der Erkenntnis infolge der Veränderung der Natur durch die Gesellschaft in wachsendem Maße sozialen Charakter. Da die dialektisch-materialistische Abbildtheorie auch den historischen Materialismus zu ihrer philosophischen Grundlage hat, kann sie den Abbildungsprozeß in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit richtig erfassen, während die frühere Abbildtheorie ihn schon von ihren philosophischen Grundlagen her nur in seiner individuellen, vereinzelten und darum abstrakten Gestalt nehmen konnte.

Die marxistisch-leninistische Abbildtheorie hat im Unterschied zu der ihrem Wesen nach undialektischen Auffassung der früheren Materialisten den dialektischen Charakter des Abbildungsprozesses klar herausgearbeitet. Das Erkennen ist kein mechanischer Vorgang, sondern ein komplizierter Prozeß, der voller dialektischer Widersprüche ist. Er umschließt die widersprüchliche Einheit von Objektivem und Subjektivem, von Unmittelbarkeit und Vermittlung, von Sinnlichem und Rationalem, von Allgemeinem und Einzelnem, von Abstraktem und Konkretem, von Empirischem und Theoretischem. Dementsprechend sind auch die im Erkenntnisprozeß entstehenden Abbilder der objektiven Realität keine mechanischen Kopien, sondern komplizierte Übersetzungen gemäß den spezifischen Gesetzen der menschlichen Erkenntnistätigkeit. Aber es besteht eine eindeutige Beziehung zwischen den Abbildern und dem Abgebildeten, eine Isomorphie, die in den verschiedenen Abbildformen unterschiedliche Gestalt annimmt. Die Abbilder in der rationalen Erkenntnis sind in unterschiedlichem Maße mit konventionellen Elementen, insbesondere mit Zeichen und Zeichensystemen verbunden. Diese sind zum Aufbau theoretischer Systeme und zu deren Formalisierung unerläßlich (-> Semiotik). Die Verabsolutierung dieser konventionellen Elemente und ihre idealistische Interpretation durch den Neopositivismus hat zur Entstehung der Zeichentheorie der Erkenntnis geführt, wonach Erkennen darin bestehe, irgendwelchen Tatbeständen Zeichen eindeutig zuzuordnen (schlick, Allgemeine Erkenntnislehre I). Die dialektisch-materialistische Abbildtheorie gründet sich fest auf die Resultate der modernen Naturwissenschaft. Sie rindet ihre naturwissenschaftliche Grundlage vor allem in der Neurophysiologie und der Physiologie der höheren Nerventätigkeit sowie der Neurokybernetik (-> Reflex-> Signalsystem). [1]

Gegen die vulgärsoziologische Vereinfachung der Abbildtheorie im Sinne einer mechanischen Reflextheorie, durch die der ideengeschichtliche Prozeß der Aneignung der objektiven Realität und seine relative Eigenständigkeit negiert wird, hat engels noch 1890 in seinem Brief an Conrad schmidt Stellung genommen (37, 493): «Aber als bestimmtes Gebiet der Arbeitsteilung hat die Philosophie jeder Epoche ein bestimmtes Gedankenmaterial zur Voraussetzung, das ihr von ihren Vorgängern überliefert worden und wovon sie ausgeht. Und daher kommt es, daß ökonomisch zurückgebliebene Länder in der Philosophie doch die erste Violine spielen können: Frankreich im 18. Jh. gegenüber England, auf dessen Philosophie die Franzosen fußten, später Deutschland gegenüber beiden. Aber auch in Frankreich wie in Deutschland war die Philosophie, wie die allgemeine Literaturblüte jener Zeit, auch Resultat eines ökonomischen Aufschwungs ... Die Ökonomie schafft hier nichts a novo, sie bestimmt aber die Art der Abändrung und Fortbildung des vorgefundnen Gedankenstoffs, und auch das meist indirekt, indem es die politischen, juristischen, moralischen Reflexe sind, die die größte direkte Wirkung auf die Philosophie üben» (marx/engels 37, 493). [2]

Die marxistische Abbildtheorie integriert vor allem die Erkenntnisse der Mathematik, der Kybernetik, der Informationstheorie und der Neurokybernetik usw. Damit ist es möglich, den Prozeß der Abbildung tiefer und genauer zu verstehen, das Wesen der Abbilder besser zu begreifen und vor allem zu erklären, weshalb diese Abbilder keine statischen, unveränderlichen Gebilde sind, sondern wie und weshalb sie sich ständig wandeln und die Abbildung der objektiven Realität im Prozeß ihrer Wandlung immer besser und genauer leisten können. In dieser Sicht erscheint die Abbildung der objektiven Realität als Rückkopplungsprozeß (-> Rückkopplung), in dessen Verlauf die Gesamtheit der Bilder der einzelnen Teile, Seiten, Aspekte der objektiven Realität, d.h. das innere Modell der Umwelt, durch ständige Konfrontation mit der Wirklichkeit, die in der gesellschaftlichen Praxis vorgenommen wird, sich ständig vervollkommnet. Der Erkenntnisapparat des einzelnen Menschen erscheint in dieser Sicht als Teilsystem des Gesamterkenntnisapparates der Gesellschaft, und beide haben den Charakter selbstoptimierender kybernetischer Systeme. Die marxistische Abbildtheorie unterscheidet sich von den vormarxistischen materialistischen Abbildtheorien nicht nur durch die Betonung des Prozeßcharakters der Abbildung (im Gegensatz zur rein statischen Konfrontation von Abbild und Urbild), durch eine wesentlich tiefere Einsicht in die Natur der Bilder (die Abbilder haben semantischen, nicht etwa im Sinne demokrits ikonischen Charakter),  sondern auch durch eine neue Auffassung über den Charakter der Abstraktion. Die marxistische Abbildtheorie ist, als philosophische Lehre, zwar keine Einzelwissenschaft, sie stützt sich aber auf neue Einsichten der Einzelwissenschaften bzw. auf neu entstandene Disziplinen derselben. Informationspsychologie, Neurokybernetik usw. geben Hinweise, wie Experimente im Bereich der philosophischen Abbildtheorie durchgeführt .werden können. Die Kybernetik hat technische Systeme ausgearbeitet, die den Charakter von technischen Modellen des Vorgangs der Abbildung besitzen. Schließlich schenkt die marxistische Abbildtheorie den Mitteln, mit deren Hilfe die Abbilder konstruiert werden, erhöhte Aufmerksamkeit, d.h. der natürlichen Sprache, der Fach- und Kunstsprache.

Abbildung ist im Sinne der Informationstheorie eine Codierung der Signale der Umwelt. Die marxistische Abbildtheorie berücksichtigt die Gesetzmäßigkeiten dieser neuen Wissenschaftsdisziplin und beschäftigt sich u. a. auch mit den verschiedenen Codes, die im Prozeß der Abbildung vom Erkennenden benützt werden. 2. allgemeine Lehre von der Abbildung von Mengen W auf bzw. in Mengen W bzw. aus Mengen W. in oder auf Mengen W. Die abstrakte Abbildtheorie beachtet weder die Art und Natur der Elemente der abgebildeten Mengen noch die der abbildenden Mengen. Sie untersucht vielmehr nur die mathematischen bzw. logischen Relationen zwischen Abbildern und Urbildern. Der philosophisch interessante Spezialfall einer Abbildung ist die Klasse derjenigen Erkenntnistheorien, die davon ausgehen, daß die menschlichen Erkenntnisse letztlich nichts anderes sind als Abbilder (bzw. Widerspiegelungen) der objektiven Realität. Nicht jede Form der Erkenntnistheorie ist eine Abbildtheorie. Dort, wo Erkennen ein sich Bewußtwerden bzw. Erinnern von Ideen ist (platon) oder Erkenntniselemente voraussetzt, die vor jeder Erfahrung gegeben sind (kant), liegt ein völlig anderer Typ von Erkenntnistheorie vor. Andererseits ist nicht jede Abbildtheorie eine materialistische oder gar dialektisch-materialistische Abbildtheorie.

[3] -> Abbild -> Abbildung -> Erkenntnis -> Erkenntnistheorie.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 1, Berlin 1970, S.32ff

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