Marx, Luhmann, Kritische Gesellschaftstheorie
Ein Gespräch mit dem Soziologen Dr. Hanno Pahl
Teil 1


von Hans-Peter Büttner

02/08

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Das folgende Gespräch führte Hans-Peter Büttner mit dem Soziologen Dr. Hanno Pahl, Jg. 1974, 2003 - 2006 Mitarbeiter am Institut für Weltgesellschaft der Universität Bielefeld, seit Anfang 2007 Forschungsassistent am Universitären Forschungsschwerpunkt Ethik an der Universität Zürich. Hanno Pahl hat in seiner Dissertation "Die Emergenz des Monetären. Wirtschaft und Finanzsphäre bei Marx und Luhmann" den Umriss zu einer soziologischen Theorie des Geldes als Alternative zum neoklassischen Mainstream formuliert. Die Dissertation erscheint im Frühjahr im Campus-Verlag unter dem Titel "Das Geld in der modernen Wirtschaft. Marx und Luhmann im Vergleich". Im Gespräch erläutert Hanno Pahl seine Überlegungen zur Marxschen Ökonomiekritik und ihrer sinnvollen Ergänzung durch die Luhmannsche Systemtheorie.

1. Frage: Hanno, Du hast in Deiner Dissertation „Die Emergenz des Monetären. Wirtschaft und Finanzsphäre bei Marx und Luhmann“ einen Theorievergleich zwischen Marx und Luhmann mit Blick auf eine soziologische Theorie des „monetären Zentralnervensystems“ unserer Gesellschaftsordnung vorgenommen. Wie bist Du auf dieses Thema gekommen? Lag das auch am Umfeld der Universität Bielefeld, an der Luhmann ja tätig war, oder hätte sich das auch aus „der Sache selbst“ ergeben können? 

Antwort: Sowohl als auch würde ich sagen. Mit der Kritischen Theorie und mit Marx bin ich sehr früh recht intensiv in Berührung gekommen. Ich habe von 1996 bis 2002 in Bremen studiert und das Glück gehabt – ich wollte eigentlich gerade an die Uni in Frankfurt wechseln – dort in Helmut Reichelt wirklich eine Art akademischen Lehrer im klassischen Sinne gefunden zu haben. Nachdem ich da Blut geleckt hatte bestand eigentlich mein ganzes Studium zentral in der Auseinandersetzung mit den Grundlagen von alter Kritischer Theorie und Marxscher Kritik der politischen Ökonomie. Was gut war: Bei Reichelt wurden
diese Unternehmungen nicht im luftleeren Raum abgehandelt sondern er hat es  verstanden, immer wieder Bezüge zur zeitgenössischen Soziologie  herzustellen, und dies nicht in einem äußerlichen Sinne, sondern es ging schon immer sehr ums Eingemachte. Das hat dann u.a. dazu geführt dass ich meine Diplomarbeit zum Geldbegriff und Systembegriff in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns geschrieben habe. Das wiederum hat fast von selbst zu einer ernsthafteren Auseinandersetzung mit der Theorie sozialer Systeme von Luhmann geführt, die ist – in der heutigen Soziologie –  natürlich ungleich präsenter als Habermas, der ja vor allem unter normativen Fragestellungen in der Philosophie und Politikwissenschaft diskutiert wird.
Hinzu kam dass bei Luhmann mit Blick auf die Ökonomie auch einfach mehr zu holen war, Habermas hat an dieser Baustelle seit 1986 eigentlich nicht mehr weitergearbeitet. Ich habe dann zunächst versucht für dieses Projekt seitens der einschlägigen politischen Stiftungen eine Promotionsförderung zu  erhalten, musste aber feststellen dass theoretische Grundlagenarbeiten dort  nicht besonders hoch im Kurs zu stehen scheinen. Das ist vielleicht nicht grundsätzlich verwunderlich, aber wenn man sich anguckt was dort z.T. an völlig sinnfreien (empirischen) Projekten finanziert wird, dann kann man eigentlich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Der Zufall wollte es dass Anfang 2003 in Bielefeld in der Soziologie Promotionsstipendien ausgeschrieben wurden, in einem u.a. von Rudolf Stichweh in Gang gebrachten  DFG-Graduiertenkolleg. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits über neuere Schriften von Helmut Willke gestolpert, der dort auch mit von der Partie  war, und es war mir schnell klar dass dort Anknüpfungspunkte für mich bestehen. Ich hatte dann bei der Abfassung der Arbeit eigentlich jegliche Freiheiten, aber natürlich hat der Bielefelder Kontext schon angefärbt. So ist dann die Arbeit in der vorliegenden Form entstanden, ein Hybrid: weder ein typisches Buch aus der Ecke der neuen Marx-Lektüre noch ein klassischer Bielefelder Beitrag zur Systemtheorie, aber schon von beiden Kontexten stark
geprägt. Finde ich ganz gut so.
 

2. Frage: Du eröffnest Deine Studie mit einem Kapitel zur "Geldvergessenheit in Neoklassik und Wirtschaftssoziologie". In der Tat unterscheidet sich Luhmanns Sichtweise, dass im ökonomischen System Geld das zentrale "Kommunikationsmedium" ist und die Systematisierung von Zahlungen ermöglicht, ganz wesentlich von der neoklassischen Standardökonomie. Zur Marxschen Theorie besteht allerdings auch eine ziemliche Differenz, denn Marx behandelt das Geld nicht nur "technisch", sondern Fragt eigentlich (in der Wertformanalyse) kantianisch nach den Bedingungen der Möglichkeit monetärer Operationen. M.E. fehlt bei Luhmann diese Fragestellung gänzlich, er nimmt das Geld letztlich auch einfach von außen in die Theorie auf und problematisiert Form und Inhalt des ökonomischen Gegenstandes gerade nicht erkenntniskritisch wie Marx.
Wie siehst Du das? 

Antwort: Das ist eine gute Frage und zugleich ist es eine, die sich nicht gerade einfach beantworten lässt. Jedenfalls muss ich etwas weiter ausholen, sozusagen erst mal einen Raum schaffen, in dem diese Frage dann situiert werden kann. Das kann erst mal nicht erschöpfend geschehen, soll aber ein Stück weit andeuten in welche Richtung es sich weiterzudenken lohnen könnte.Deshalb als Einstiegspunkt: Es gab in der Mitte der 1980er Jahre einige wenige kritische Beiträge zum Geldmedienkonzept seitens i.w.S. von Marx
inspirierter Theoretiker, etwa von Heiner Ganßmann. Das rührte sicherlich daher dass sowohl Habermas wie Luhmann zu dieser Zeit an die entsprechende Idee von Parsons bereits angeknüpft hatten und hier zugleich zwei Großtheorien positioniert wurden, die sich gleichermaßen sowohl als Fortführungen wie als Alternativen zu Marx verstanden haben. Was bei beiden Theorien trotz ihres dann sehr unterschiedlichen Zugriffs sicher am auffälligsten war: Sowohl Luhmann wie Habermas haben "Kommunikation" als Schlüsselkategorie einer soziologischen Theorie der Gesellschaft in Stellung gebracht, und das deutet erst mal auf eine Verabschiedung oder mindestens doch Relativierung der Marxschen Theorie hin, die ja ganz klar um die kapitalistische Ökonomie herum zentriert ist. Zugleich kann retrospektiv festgestellt werden, dass die damalige Diskussion auf das Geldmedienkonzept von Luhmann nur recht selektiv Bezug genommen hat, m.E. wäre es aber notwendig gewesen, die dortigen Überlegungen im Zusammenhang mit Luhmanns
Theorie sozialer Evolution zu erörtern. Hinzu kommt vielleicht auch, dass sich ja bei Marx in den Grundrissen der relativ lapidare Satz findet: "Das Geld mit der Sprache zu vergleichen ist falsch". Vielleicht hat dieser Satz als eine Art Stoppregel fungiert, weil er suggeriert: Geld im Kontext einer in Sprache fundierten allgemeinen Theorie der Kommunikation zu diskutieren ist von vornherein ein Unterfangen das hinter Marx zurückfällt.Du bemerkst zurecht dass Marx nach den Bedingungen der Möglichkeit des
Geldes bzw. monetärer Operationen fragt, und ich verstehe Dich sicher richtig wenn Du damit auf die moderne Ökonomie abzielst. Es geht also bei Marx nicht um das Geld per se, das ja ein vormoderner Sachverhalt ist, sondern um die Frage: Wie sieht es aus wenn eine Gesellschaft ihren gesamten Stoffwechselprozess mit der Natur (bei Luhmann: Sachdimension) auf diesem Wege regelt, inklusive der Frage der Verteilung (bei Luhmann:
Sozialdimension). Das verbirgt sich ja bei Marx hinter der Kurzformel der "gesellschaftlichen Produktion privater Produzenten". Und auf diese Frage findet man bei Luhmann erst mal sicher keine tiefschürfende Antwort, jedenfalls nicht explizit. Er hat das Kommunikationsmedienkonzept im allgemeinen ja von Parsons übernommen und dann umgemodelt; das übergreift dann so heterogene Phänomene wie Macht, Wahrheit oder Liebe, enthält aber wenig spezifische Überlegungen zum Geld, insofern ist an Deiner Überlegung, Luhmann greife das Geld äußerlich auf, schon etwas dran.Etwas anders sieht es aber aus, denke ich, wenn man Luhmanns Thematisierung des Geldes begreift im Zusammenhang seiner allgemeinen Theorie sozialer Evolution. Hier hast Du ebenfalls einen "Bedingung der Möglichkeit"-Ansatz: Eine Kernannahme dort ist ja dass die Evolution der Gesellschaft im wesentlichen den Bedingungen der Autopoiesis von Kommunikation folgt, und dass diese ihrerseits durch die soziale Evolution laufend verändert werden. Methodisch verfährt Luhmann so, dass die Fortsetzung von Kommunikation erst einmal als unwahrscheinlicher Vorgang betrachtet wird, und dann fragt er in welcher Weise die verschiedenen historisch zur Verfügung stehenden Kommunikationsmedien (u.a. Sprache, Schrift, Buchdruck, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, elektronisch vermittelte Kommunikation) darauf hin wirken, Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit zu transformieren. Es ist eine Art "Dialektik der Kommunikationsmedien", insofern jeweilige Problemlösungen zugleich zu neuartigen Problemstellungen führen und so fort. Ich will das jetzt nicht im einzelnen erläutern sondern nur auf eine Überlegung hinweisen, die mir auch für die Kritische Theorie von Interesse zu sein scheint: Von Marx aus argumentierend muss man den (Mainstream)-Ökonomen ja den Vorwurf machen, dass sie das Geld als neutrales
Mittel begreifen, sozusagen als bloßen Schleier über einer vermeintlich realwirtschaftlichen Ebene. Im Grunde genommen hat man bei Luhmann eine Art Generalisierung dieser Annahme. Er geht davon aus dass alle Kommunikationsmedien nicht lediglich neutrale Informationsvermittler darstellen, sondern eine jeweilige soziale Strukturprägekraft besitzen. Bei Schrift beispielsweise handelt es sich nicht einfach um gesprochene Sprache, sondern Schriftlichkeit folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten, schon alleine deswegen weil sie über Interaktionskontexte hinausgreift, aber auch deswegen, weil sie auf Basis eines ganz anderen medialen Substrats operiert. Sprache bestimmt Luhmann als Formbildung im Medium der Lautlichkeit, Schrift prozessiert in einem optischen Medium. Soziologisch interessant hieran sind natürlich Anschlussfragen danach, wie diese aufeinander aufbauenden, aber konstitutiv unterschiedlichen Weisen der Kommunikation auf die Gesellschaftsentwicklung einwirken. Man kennt ja im Kontext der Kritischen Theorie die These Alfred Sohn-Rethels, wonach es einen Zusammengang gibt zwischen dem Auftauchen des Münzgeldes im antiken Griechenland und der Genese rationalen Denkens. Ich halte diese Idee von Korrelationen zwischen Sozialstrukturen und Denkformen für genial, gleichzeitig ist sowohl Ansatz wie Durchführung bei Sohn-Rethel sicher unterkomplex gewesen. Bei Luhmann hast Du ja die These der jeweiligen operativen Geschlossenheit von psychischen Systemen (Bewusstsein) und sozialen Systemen. Interessanter finde ich aber die Positionierung der Kommunikationsmedien in diesem Setting, die nämlich genau als Schnittstelle nach beiden Richtungen hin gedacht werden. Also kann man fragen: Inwiefern affizieren Sprache, Schrift, Geld etc. einerseits Denkprozesse, andererseits soziale Prozesse. Luhmanns Überlegungen zu Sprache und Geld sind inspiriert worden durch Forschungsprogramme u.a. von Eric Havelock und Walter Ong, die eben zunächst mal Schriftlichkeit für die kulturelle Revolution im antiken Griechenland verantwortlich gemacht haben, den Buchdruck, der dann den Übergang zur modernen Gesellschaft eingeleitet hat, kann man sich in dieser Linie denken als ein Mechanismus, der zur gesellschaftsweiten Durchsetzung pezifischer, in der Schrift bereits angelegter Potenziale geführt hat. Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, sondern nur darauf hinweisen, dass hier in der Systemtheorie Forschungsfragen aufgegriffen bzw. generiert wurden, die sicherlich auch für die Kritische Theorie von bleibendem Interesse sind. Zumal Marxens Skizze eines historischen Materialismus eben im wesentlichen Programm geblieben ist, noch dazu ein solches, das vor dem Hintergrund seines Spätwerkes in vielen Teilen der Modifikation bedürfen würde. Vielleicht ist das keine wirklich befriedigende Antwort auf Deine Frage, aber es ist an dieser Stelle auch nicht leicht entsprechende Übersetzungsleistungen vorzunehmen. Bei Luhmann werden die beiden klassischen (und auch für Marx noch konstitutiven) Unterscheidungen einmal
von Subjekt und Objekt, das andere mal von Erkenntnis und Gegenstand, gleichermaßen ersetzt bzw. "aufgehoben" in der Unterscheidung einer Pluralität von System/Umwelt-Differenzen. Das bedeutet nicht weniger, als dass das Subjekt als Zentrum der Weltkonstitution massiv relativiert wird (und damit auch das von Marx bei Feuerbach übernommene und dann weitergeführte kritische Projekt der Rückführung sozialer Objektivität in die konstituierende Subjektivität). Man kommt hier sehr schnell auf sehr
grundlegende Fragestellungen: Für Luhmann ist das was Marx als Verselbständigung bezeichnet ein unhintergehbarer Tatbestand moderner Vergesellschaftung, aber man sollte das nicht gleich als Affirmation der bestehenden Verhältnisse interpretieren. Luhmann vertritt eben ein weitaus allgemeineres Konzept der Nicht-Identität von Menschen und Gesellschaft als es im Kontext der Kritischen Theorie artikuliert wurde. Worum es mir einfach nur geht derzeit, ist, - nachdem im Zuge der "Neuen Marx-Lektüre" sozusagen
der Kernbestand der Marschen Kritik der politischen Ökonomie erfolgreich verteidigt wurde, bei Preisgabe vermeintlicher marxistischer Binsenweisheiten - sinnvolle Frageperspektiven zu eröffnen. 

3. Frage: Luhmanns Selbstreferentialität des Geldmediums erscheint mir sowohl verkürzt im Hinblick auf die bei ihm nicht reflektierte Zirkulationsform der Ware (Luhmann verbleibt eigentlich im Rahmen einer unterentwickelte Zirkulationsform der Ware) als auch mit Blick auf die wertförmige Fundierung des Geldes in menschlicher (Arbeits-)Tätigkeit. Ersteres bedeutet letztlich, dass er den Selbstzweck-Charakter der kapitalistischen Produktionsweise eigentlich nur universell voraussetzt, aber nicht mit Blick auf die Ware-Geld-Beziehungen plausibel macht. Letzteres bedeutet, dass er das Geld eigentlich "warenfetischistisch" begreift und nicht erkenntniskritisch als Ausdrucksform menschlicher Tätigkeit unter bestimmten (Produktions-)Bedingungen. Dieser Punkt wird m.E. ganz deutlich in einer Randbemerkung des späten Luhmann in einem Aufsatz aus dem Jahre 1994 ("Kapitalismus und Utopie"), in dem Luhmann schreibt: "Arbeit zum Beispiel ist keine Notwendigkeit der Reproduktion des Menschen(!!!), wohl aber, für die meisten, eine Notwendigkeit der Refinanzierung ihrer Ausgaben(!)". Ich habe den Aufsatz damals als Student kurz nach seiner Veröffentlichung durchgelesen und diesen Satz dickangestrichen. Auf der Rückseite habe ich dann notiert: "Was sind ,Refinanzierungen von Ausgaben' anderes als monetär vermittelte Arbeitsprozesse, in denen ,Ausgaben' Arbeitsprodukte vermitteln? Luhmann hat den Zusammenhang zwischen Geld und Arbeit nicht verstanden".
Habe ich mit dieser Bemerkung damals also einen wirklichen Punkt getroffen oder habe ich Luhmann nur noch nicht hinreichend verstanden gehabt?

Antwort: Nein ich denke schon, dass Du mit diesen Überlegungen problematische Punkte bei Luhmann getroffen hast. Ich hatte oben so weit ausgeholt weil ich denke, dass im weiteren Kontext der Geldmedientheorie vermutlich mehr zu holen ist als in ihrem Kern, also bei der Beschreibung der modernen Wirtschaft die sich bei Luhmann findet. Man könnte hier einschränkend bemerken, dass Luhmanns Buch über die Wirtschaft der Gesellschaft nicht wirklich die Systematik und Geschlossenheit der anderen Funktionssystemmonografien besitzt und er in den Wirtschaftswissenschaften auch kaum ein ähnliches Wissen hatte wie beispielsweise bei der Rechtstheorie. Die "Wirtschaft der
Gesellschaft" hat er als Aufsatzsammlung veröffentlicht, wohl mehr getrieben als gewollt, weil sein damaliger Schüler Dirk Baecker mit seiner Dissertation in den Startlöchern stand - und wer lässt sich schon gerne von seinem Schüler überholen. Aber vermutlich ist das keine zureichende Erklärung. Nun aber genau zu Deinen Punkten: Ich gebe Dir mit Blick auf die Zirkulation der Ware völlig Recht, etwas Ähnliches wie z.B. bei Marx im zweiten Band des „Kapital“ findet man bei Luhmann nirgends. Also Marx untersucht dort ja den Zirkulationsprozess des Kapitals, die allgemeine Formel des Kapitals aus dem ersten Band (G-W-G') wird präziser analysiert als Kreislauf des Kapitals (G-W...P...W'-G'). Marx abstrahiert zunächst von der empirisch im modernen Kapitalismus immer schon gegebenen Existenz von Geldhandlungskapital (Banken) und Warenhandlungskapital (Handel) und geht lediglich von einer Totalität industrieller Kapitalien und deren Lohnarbeitern aus. Je nach Wahl der Anfangs- und Endpunkte der Kreislaufformel ergeben sich drei verschiedene Betrachtungsweisen, und damit lässt sich schon eine ganze Menge
anstellen. In meiner Arbeit habe ich vor allem auf zwei Punkte abgestellt, die sich bei Marx ergeben: Zum ersten ist er in der Lage (auch wenn er das nicht so ausführlich darstellt wie es wohl wünschenswert gewesen wäre) die ihm vorangegangenen Theorieschulen der Ökonomie in der Relativität (und Defizienz) ihrer jeweiligen Beobachterstandpunkte zu rekonstruieren und somit als verschiedene Formen eines "erscheinenden Wissens" darzustellen. Das ist ganz grandiose Wissenssoziologie auf dem Feld der Ökonomie. Zum
anderen - und das betrifft dann eher die strukturelle Dimension - kann er nachweisen, wie das Prozessieren der industriellen Kapitalien aus sich selbst heraus bestimmte Kreditformen und intrinsisch wertloses Papiergeld generiert. Das ist auch heute noch brandaktuell, einmal mit Blick auf die Morphogenese der Geldträger, das andere mal mit Blick auf die Positionen heterodoxer Ökonomen, die in den letzten Jahren immer wieder auf die empirisch-historische Vorgängigkeit von Kredit und Zins gegenüber dem modernen Kapitalismus gepocht haben. Marx liefert im zweiten Band nichts weniger als den Nachweis eines intrinsischen Zusammenhangs von industriellem Kapital und Kredit, und von dieser Warte aus wird ganz deutlich, dass die historische Vorgängigkeit einzelner ökonomischer Kategorien nur einen begrenzten Aussagewert hat um das System der modernen Ökonomie zu erklären.Bei Luhmann findet man dazu so gut wie nichts, mal abgesehen von seiner Konzeption eines Doppelkreislaufs im Wirtschaftssystem (einmal Warenumlauf, das andere mal spiegelbildlich dazu Geldumlauf). Gegenüber der Neoklassik
pocht Luhmann zwar auf einer Art Dominanz des Geldkreislaufs, der als Motor der ganzen Bewegung gedacht wird, aber das wird einfach so dahingestellt und nicht weiter abgeleitet. Insofern fällt die Beschreibung eher in die Abteilung dessen, was bei Marx als einfache Zirkulation firmiert. Zur Kopplung von Arbeit, Wert und Geld findet man bei Luhmann ebenfalls so gut wie nichts. Ich habe das in meiner Arbeit nur angetippt, auch mit Blick auf
Marx, erstens weil ich da nicht genügend drin stecke um fundierte Aussagen zu machen, zum anderen weil ja auch im Kontext der Rekonstruktion der Marxschen Theorie immer noch heftig darum gestritten wird wie dieser Zusammenhang genau zu begreifen ist. Luhmann kannte natürlich die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie auch nicht gut genug, um zu erkennen, dass dort etwas anderes vorliegt als in der klassischen, prä-monetären Arbeitswerttheorie Ricardos. Das nehmen ja auch die allermeisten Ökonomen
bis heute nicht zur Kenntnis. Zum zweiten würde ich mal vermuten, dass Luhmann sich an der ja durchaus gängigen Praxis seitens gewisser Strömungen der kritischen Soziologie der 1970er Jahre gestört hat, die Kapital/Arbeit-Differenz als Leitdifferenz bei der Beschreibung der modernen Gesellschaft anzusetzen. Und da würde ich ihm auch recht geben, nur ist er dann sicher über das Ziel hinausgeschossen indem er die Arbeit bei seiner Beschreibung der Autopoiesis der modernen Wirtschaft in die allerletzte Reihe verbannt hat. Arbeit taucht nur noch als Einkommensquelle eines bestimmten Segments von an Wirtschaft beteiligten Entitäten auf (Haushalte), andererseits als Leistung im Kontext von Organisationen. Die Verbindung zu Geldtheorie wird mehr oder minder vollständig gekappt, und das halte ich nicht für eine sinnvolle Option, ganz gleich ob man den Marxschen Lösungsvorschlag nun akzeptiert oder nicht. Zu dem Zitat von Luhmann das Du erwähnt hast: Zum einen ist dies einfach ein Resultat aus dem eben erläuterten Kappen eines reproduktionstheoretisch bedeutungsvollen Zusammenhangs von Arbeit und Geld. Den ersten Satz könnte man aber auch durchaus positiver Interpretieren: Dass Arbeit keine Notwendigkeit der Reproduktion des Menschen ist, sondern eine historisch-spezifische Veranstaltung, ist ja eine These, die etwa von Seiten der Krisis-Gruppe vor einigen Jahren nicht nur gegen die Mainstream-Ökonomie geltend gemacht wurde, sondern auch gegen arbeitsontologische Lesarten der Marxschen Theorie. Was man wohl immer brauchen wird ist ein Stoffwechselprozess von Menschen mit der sie umgebenden Natur, aber das muss weder die Form von Lohnarbeit noch von Arbeit überhaupt annehmen. Es sind ja Maschinen denkbar die sich selbst warten, oder auch Maschinen, die Maschinen
bauen, die Maschinen bauen usw. Solange wir es mit einer kapitalistischen Ökonomie zu tun haben muss dies immer durch das Nadelöhr der (Lohn-)Arbeit, und dass dies an allen Ecken und Enden mehr oder minder absurde Effekte zeitigen kann ist ja hinlänglich bekannt.Um noch mal auf meine Perspektive weiter oben zu sprechen zu kommen: Ich denke dass wir uns bei der Beschreibung des inneren Funktionszusammenhangs der modernen Ökonomie mit Marx weiterhin auf der sicheren Seite befinden, es gibt hier wenig bis gar nichts was an die Stelle der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie treten könnte. Sicher lohnt der ein oder andere Seitenblick auf Theorieinnovationen diverser heterodox aufgestellter Ökonomen, ich denke beispielsweise an die Eigentumstheorie des Wirtschaftens von Heinsohn und Steiger, aber das sollte sich ja von selbst verstehen. Wo
ich denke wo wir mehr als nur einen Seitenblick auf die Theorie sozialer Systeme riskieren sollten betrifft vor allem die Kopplung der Ökonomie mit anderen gesellschaftlichen Sphären. Hier denke ich ist bei Marx einfach nicht genug zu holen, was natürlich auch dem Fragmentcharakter seiner Theorie geschuldet ist, ebenso wie der - gelinde gesagt - etwas unglücklichen Rezeptionsgeschichte dieser Theorie. 

4. Frage: Die moderne, neoklassische Wirtschaftswissenschaft ist weder mit Luhmann noch mit Marx kompatibel, denn das Geld ist ihr nur ein „neutraler“ Schleier über einer „realen“, prämonetären Tauschstruktur. Der Selbstzweckcharakter der   Kapitalakkumulation, die Selbstreferentialität der Geldform, ist mit ihren Mittel nicht darstellbar, denn letztendlich löst sich das ganze Geschehen auf in effiziente, frei getätigte Tauschhandlungen rational vereinheitlichter Marktsubjekte. Diese Theorie wurde von Piero Sraffa durch die immanente Kritik der neoklassischen Kapitaltheorie gründlich zerpflückt, von marxistischer Seite hat die Neue Marxlektüre die erkenntnistheoretischen Defizite dieser Theorie (und nebenbei auch Sraffas!) herausgestellt. Dennoch konnte all dies der „herrschenden Theorie“ nichts anhaben, „Wissenschaftlichkeit“ scheint im ökonomischen Fach ein sehr delikater Maßstab zu sein. Meine Erfahrung ist, dass Ökonomen meist gar nicht wissen wovon sie reden und was für Voraussetzungen ihre (subjektivistischen, prämonetären) Modelle eigentlich implizieren. Allein die Fragestellung wird dort schon nicht mehr verstanden, denn sie berührt offensichtlich einen derart wunden Punkt, dass hier kollektive Verdrängung zur conditio sine qua non des ökonomischen Selbstverständnisses gemacht wird. Wie sieht Dein Blick als Soziologe auf die ökonomische Theorie aus vor dem Hintergrund dieser kritischen Diskurse des Gegenstandes ökonomischer Wissenschaft? 

Antwort: Zu diesem Problemkomplex lassen sich sowohl von Marx wie von Luhmann aus einige Antworten geben. Ich möchte das einfach mal nacheinander angehen und überlasse es dem Leser, zu entscheiden, inwieweit sich beiderleiStellungnahmen ergänzen oder in die Quere geraten.Bei Marx fällt diese Frage ja grundsätzlich in die Abteilung"Ideologiekritik", aber hier muss man sicher etwas genauer hinsehen. Zum Teilgab es ja recht krude Auslegungen ideologiekritischer Verfahren, beispielsweise wenn unmittelbar von der Klassenlage eines Autors auf dessen theoretischen Output geschlossen wurde. Von so einer Warte aus müsste man die neoklassischen Ökonomen dann im Sinne einer "Priesterbetrugstheorie" begreifen, d.h. es würde sich um eine mehr oder minder bewusst praktizierte, politisch motivierte Verschleierung der realen ökonomischen Zusammenhänge handeln. Das mag in Einzelfällen eine Rolle spielen, man denke an die diversen Think Tanks, die ins Leben gerufen wurden, um neoliberale
Weltsichten zu verbreiten. Das scheint mir aber nicht der Witz zu sein. Bei Marx findet sich ja eingelassen in die positive Darstellung derkapitalistischen Produktionsweise in ihrem idealen Durchschnitt auch dieThese von systematischen Erkenntnisrestringierungen - man könnte auch vonkognitiven Verzerrungen sprechen - die dieser Strukturzusammenhang beim Betrachter hervorruft, ganz gleich ob es hier um Beteiligte am Wirtschaftsprozess oder um Wissenschaftler geht. Das prominente Beispiel wäre die Diskussion der trinitarischen Formel im dritten Band des "Kapital", wo Marx rekonstruiert, wie Denkformen, wie wir sie heute ja mit den Produktionsfaktoren immer noch kennen, zustande kommen woraus sie ihre Plausibilität beziehen. Ich möchte das hier nicht ausfalten sondern mich auf eine Charakterisierung der Neoklassik beziehen, die Du selbst gegeben hast. Du sagst dass man dort das wirtschaftliche Geschehen auflöst in Tauschhandlungen rational vereinheitlichter Marktsubjekte. Damit ist eine Position genannt - der methodologische Individualismus - die sich auch in der Soziologie finden lässt, nämlich als rationale Handlungstheorie. Und nun würde ich vermuten: Diese Theorieprogramme möchten die Eigendynamik der Ökonomie bzw. der Gesellschaft auflösen, verschieben das Problem aber faktisch nur in ihren eigenen Kategorienapparat. Denn dass es überhaupt sinnvoll ist, von der verallgemeinerten Existenz eines bestimmten Handlungsmodus bzw. einer Rationalitätsform auszugehen - und sei es auch nur methodologisch - sagt ja schon einiges über den Gegenstand aus. Insofern könnte man sagen dass der analytische Fokus auf rational choice nur die Kehrseite der zuvor negierten Eigendynamik des Gegenstands darstellt. Man müsste sich also zumindest klar werden, dass die eigenen Kategorien historisch affiziert sind, der homo oeconomicus müsste rückbezogen werden auf die Sozialstruktur der er korreliert, ein Aspekt den Marx im Begriff der Charaktermaske deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Was dann weiter ein Problem bei der Neoklassik sein dürfte, ist, dass sie wegen dieser unreflektierten kategorialen Voraussetzungen nicht mehr in der Lage ist, die realen Prozesse Vermittlungsprozesse von Individuen und Struktur in der Ökonomie adäquat zu beschreiben, sondern auf prekäre Konstruktionen angewiesen ist. Ich denke hier an den "Auktionator" bei Walras oder an Schumpeters Konstrukt der "sozialen Buchhaltung". Bei Luhmann fällt einem am ersten sein Konzept der "Reflexionstheorie" ein. Die Grundthese ist, dass mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft, der ja als Übergang zum Regime funktionaler Differenzierung beschrieben wird, also als Ausdifferenzierung einer Mehrzahl eigenlogischer "Wertsphären" oder "Funktionssysteme", zugleich Theorien entstehen, die spezifische Formen der Selbstbeschreibung darstellen. Ich möchte hier mal ein Zitat aus der Gesellschaft der Gesellschaft (S.973) anbringen, wo es ziemlich pauschal zur Wirtschaftswissenschaft heisst:
"Daß es sich, trotz aller theoretischen und ´wissenschaftlichen´ Aufbereitung, um eine Reflexionstheorie des Wirtschaftssystems handelt, erkennt man daran, daß die Theorie vom rational handelnden Individuum ausgeht. Darin liegt eine fundamentale Bestätigung der positiven Selbsteinschätzung der Wirtschaft. Rationalität ist (1) unschuldige und (2) wirksame Ursache im Aufbau einer sozialen Ordnung - der Wirtschaft, wenn nicht der Gesellschaft überhaupt. Alle weiteren Entwicklungen findet man, was klassische und neoklassische Theorieangebote angeht, innerhalb dieses Ansatzes, in dem dann weder über das Recht zur Rationalität noch über die kausale Wirksamkeit rationaler Dispositionen diskutiert werden kann."  Auch wenn Luhmann sicher keine Fundamentalkritik der Wirtschaftswissenschaften à la Marx im Sinne hat attestiert auch er diesem Theorietypus eine systematische Defizienz. Man könnte vielleicht in etwas anderen Worten sagen als Luhmann sie selbst benutzt hat: Die Wirtschaftswissenschaft verabsolutiert die Rationalität nur eines Teilbereichs und rechnet diese umstandslos auf Gesellschaft hoch. Damit fallen tendenziell alle Fragen heraus, die diese Rationalität und die ihr zugeschriebene absolute Geltung als solche anzweifeln könnten. Der Fairness und Vollständigkeit halber sollte man aber wohl auch erwähnen dass es mittlerweile auch in den Wirtschaftswissenschaften - nicht gerade in der Neoklassik freilich - Positionen gibt, etwa im Kontext der "Ökologischen Ökonomie", die ein durchaus kritisches Verständnis gegenüber ihrem Objektbereich entwickelt haben.     
Im Zuge seines Buchs zu "Ökologischer Kommunikation" (1986) und in kritischer Auseinandersetzung mit Habermas hat Luhmann ein systemtheoretisches Verständnis von "gesamtgesellschaftlicher Rationalität" entwickelt. Dahinter versteckt sich der Gedanke, ob eigenlogisch operierende Funktionssysteme dafür sensibilisiert werden können, in welcher Weise sie auf ihre psychische (Menschen) und natürliche Umwelt (Natur) einwirken. Im
Fall der Wirtschaft liesse sich also fragen, ob über Preise in adäquater Weise Auskunft zu erhalten ist über ökologische Knappheiten. Luhmann selbst war bekanntlich sehr skeptisch was externe Einflussnahmen auf Wirtschaft betrifft, etwa politischer Art. Aber immerhin eröffnet er mit dieser Fragerichtung einen Horizont, innerhalb dessen solche Fragen diskutiert werden können.

5. Frage: Ich stimme Dir zu, dass eine ideologiekritische Betrachtung der Neoklassik letztlich von der Höhe marxistischer Erkenntniskritik aus erfolgen muß. Es ist m.E. offensichtlich, dass Hans-Georg Backhaus' minutiöse Rekonstruktion der begrifflichen Probleme der Neoklassik, die lediglich ganz vereinzelt unkonventionellen Autoren wie Joseph Schumpeter oder Alfred Amonn bewußt wurden, hier zum Kern des Problems durchdringt: Der Frage nach der spezifischen Qualität der ökonomischen Kategorien sowie ihrer Genese durch gesellschaftliches Handeln. Letztlich, und das war mit meiner letzten Frage aber auch intendiert, scheitert das neoklassische Programm aber ganz umfassend, denn es läßt sich beispielsweise zeigen, dass auch der Zusammenbruch der neoklassischen Produktionsfunktion im Gefolge der neoricardianischen Kritik der sechziger Jahre u.a. seinen Grund darin hat, dass hier "erste" und "zweite Natur" verwechselt werden. Der Kapitalstock lässt sich eben nur wertförmig zusammenfassen, was aber das physische Konzept der „Grenzproduktivität“ zum Einsturz bringt. Die Cambridge-Ökonomin Joan Robinson pflegte ja zu fragen: "Was ist ΔK?", welchen Charakter hat also die aggregierte Größe "Kapital"? Darauf bekam sie keine Antwort, bis heute gibt es keine. Es ist also durchaus offensichtlich und schon lange ausgesprochen, dass hier ein ziemliches Problem vorliegt. Wie kann so etwas dennoch so erfolgreich verdrängt werden?

Antwort: Na ja, das sind schwierige Anschlussfragen, dabei geht es um Ursachenforschung und wohl auch um Funktionen von Wissenschaft. Ich kenne die Arbeiten von Backhaus ganz gut, seine Rekonstruktion der immanenten Probleme der Neoklassik und sein Herauspräparieren von relevanten Aussagen so unterschiedlicher Denker wie Schumpeter, Amonn oder eben Joan Robinson. Und diese Fundamentaleinwände sind bei ihren eigentlichen Adressaten tatsächlich weitestgehend verhallt, ebenso wie beispielsweise die Kritik von Karl-Heinz Brodbeck ("Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie") oder die Gegenentwürfe heterodoxer Ökonomen von Otto Steiger bis Hajo Riese, oder für den angloamerikanischen Diskursraum exemplarisch: Geoffrey Ingham oder Nigel Dodd.
Backhaus zeichnet sich natürlich durch seine unglaubliche Beharrlichkeit aus, wie er Stück für Stück einzelne Puzzleteile zusammensetzt zu einem Gesamtbild der Neoklassik, wo dann gar nichts an dieser Theorie mehr stimmt. Heinsohn und Steiger haben es sehr gut verstanden, ihren eigenen Gegenentwurf zur "Schulökonomie" zu vermarkten. Gleichwohl lässt sich für alle diese Fälle feststellen, dass die inhärierte Kritik nur ganz fragmentarisch zur Kenntnis genommen wurde.
Deine Ausführungen suchen die Engführung mit der Frage der immanenten Stimmigkeit der neoklassischen Theorie. Ich bin mir nicht sicher welche "Contraits" im Einzelnen zu einer weitgehenden Missachtung der vorgebrachten Kritik geführt haben. Ich würde aber vermuten, dass die Ebene eines "zwanglosen Zwangs des besseren Arguments" (Habermas) meistens gar nicht betreten wurde. Die Neoklassik prozessiert einfach weiter - eine Art autistisches Diskursuniversum (diese Kritik gab es ja auch schon) - und dort
dringen Fundamentaleinwände nicht durch. Ich für mich würde daraus die Konsequenz ziehen, sich nicht auf eine Kritik dieser Theorie zu versteifen, sondern den Schwerpunkt darauf zu verlegen, eine eigene Theorie der Wirtschaft fortzuschreiben. Man wird damit nicht Jede(n) überzeugen können (aber wer will das schon), aber man baut halt Alternativen.    

6. Frage: Wenn wir uns nun einmal den empirischen, gegenwärtig existierenden Kapitalismus anschauen, steht meiner Ansicht nach die Marxsche Theorie als analytisches Instrument nicht schlecht da. Wir sehen eine historisch einmalige soziale Polarisierung sowohl innerhalb kapitalistischer Nationen als auch zwischen den Nationen des Zentrums und denen der Peripherie, Überproduktion und Unterkonsumtion, gewaltige Monopolkapitalien und Unmengen fiktiven Kapitals, die derzeit im Rahmen der kreditinduzierten „Subprime-Krise“ verzweifelt buchhalterisch zum sanften Verschwinden gebracht werden wollen. Robert Kurz hat in seinem Aufsatz „Die neue Krise des Geldes“ geschrieben, dass den Neoliberalismus-Monetarismus vom Keynesianismus lediglich unterscheidet, „dass sich die irreguläre Expansion der Geldmenge vom Staat auf das kommerzielle Kreditsystem und die transnationalen Finanzmärkte verlagerte(!!!). Auf diese neue Basis der zusätzlichen Geldschöpfung wurde sehr bald ein spekulativer Boom aufgesattelt, der bekanntlich in der ganzen Welt eine riesige Blase von fiktiven Wertsteigerungen hervorgetrieben hat“. Es scheint, dass er da einen ganz richtigen Punkt getroffen hat und das Kapital seine eigene Reproduktion nur durch eine permanente Zerrüttung seiner monetären Reproduktionsgrundlagen erreichen und gleichzeitig sabotieren kann. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass wir auf einen Zusammenbruch zusteuern, aber ungemütlich könnte die Krise der hoch verschuldeten US-Ökonomie angesichts der internationalen Verflechtungen schon werden.

Antwort: Ja, ich denke auch dass man mit der Marxschen Theorie nach wie vor über ein gutes Instrument verfügt um aktuelle empirische Phänomene kapitalistischen
Wandels zu erklären. Sonst wäre es auch nur noch unter dogmengeschichtlicher
Perspektive interessant sich mit dieser Theorie zu beschäftigen, und das
wäre nichts für mich.
Deinen Hinweis auf die These von Robert Kurz finde ich sehr interessant, also die Annahme einer Verlagerung der Expansion der Geldmenge vom Staat auf das kommerzielle Kreditsystem. Dem würde es vermutlich lohnen näher nachzugehen. Du sagst am Ende - gegen Kurz - dass wir natürlich nicht auf einen Zusammenbruch hinsteuern, dass uns aber sehr wahrscheinlich turbulente Zeiten ins Haus stehen. Die Vermutung habe ich auch - nicht nur mit Blick auf die gegenwärtige Verschuldung der USA - und das wirft die Frage auf, wie man kritische Theorie angesichts dieser Situation zu situieren hätte, abgesehen natürlich davon welche Möglichkeiten eines praktischen Eingriffs denkbar wären.
Zunächst müsste man sich grundsätzlich über die Funktion von Krisen in der kapitalistischen Ökonomie verständigen, da würde ich - auch eher gegen Kurz gerichtet - vermuten, dass Krisen ein gewichtiges Moment der Selbststeuerung dieses Strukturzusammenhangs sind. Denn insofern dieses System nicht über ein intentionales Steuerungszentrum verfügt, sondern prozessiert als heterarchische Vernetzung privater Produzenten, erscheint es evident, dass Steuerungsimpulse als nicht-intentionale, systemische Effekte zu denken sind.  
Damit möchte ich die Existenz von Krisen natürlich nicht rechtfertigen, nur muss man sich über das Normalitätskriterium des Kapitalismus verständigen wenn man ihn kritisieren möchte. Michael Heinrich hat vor einiger Zeit in der Jungle World unter dem sicherlich provokanten Titel "Profit ohne Ende" - und angesichts der aktuellen Debatten um einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" - die These untermauert, wonach dass 21.Jahrhundert
"zunächst eher eines des Kapitalismus als des Sozialismus werden" wird (siehe
http://www.jungle-world.com/seiten/2007/28/10250.php ). Ihm liegt natürlich nichts ferner als Prophetie, sondern es geht nur um den Hinweis, dass es äusserst problematisch ist, von der Krisenhaftigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung - gleichsam kulminationspunktartig - auf dessen nahendes Ende "Kurz"zuschliessen (man verzeihe mir diesen blöden Wortwitz, ich bin selbst nicht unwesentlich durch die Texte von Robert Kurz
dazu gekommen, mich intensiver mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu beschäftigen ab Mitte der 1990er Jahre). Wenn man zurückblickt auf die einschlägigen Debatten, die in den letzten vierzig Jahren unter Berufung auf Marx geführt wurden, dann gab es zumindest latent immer wieder diese Verkopplung von krisenhafter kapitalistischer
Dynamik und Endzeit- bzw. Übergangszeit-Prophetie. Und da würde ich heute sagen, dass sich ziemlich eindeutig gezeigt hat, dass das, was zu Ende gegangen ist, zunächst einmal nur eine spezifische Phase des Kapitalismus war, das, was seitens der Regulationstheoretiker als Fordismus ausgeflaggt wurde. Und ich habe den Eindruck dass viele Theoretiker und Kritiker des Kapitalismus ihre Kritik- bzw. Analyse-Masstäbe zu sehr am Fordismus ausgerichtet haben, diesen implizit als Normalitätskriterium kapitalistischer Vergesellschaftung mitgeführt haben. Und selbst Middle-Range-Verfechter wie die besagten Regulationstheoretiker haben vielleicht bei ihrer Suche nach einem postfordistischen Akkumulationsregime zu sehr auf Kohärenz geschaut. In den 1980er Jahren war man fasziniert von neuen Entwicklungstendenzen auf der Ebene des Produktionsprozesses (Stichwort: neue Managementkonzepte, Toyotismus), im Zuge des
börsengeleiteten Aufstiegs und Niedergangs der New Economy ist dann die Zirkulationssphäre stärker in den Blick geraten, es wurde nach den Möglichkeiten eines finanzgetriebenen Akkumulationsregimes gefragt. In der Tat scheint sich gegenwärtig auf der Ebene des Produktionsprozesses kein dem Taylorismus vergleichbares dominantes Paradigma zu etablieren, wie es für die fordistische Phase kennzeichnend war, eher ist von einem diffusen Mix der verschiedensten Konzepte von Arbeitsorganisation auszugehen. Bezogen auf die Zirkulationssphäre ist natürlich an die Dominanz des Shareholder-Value-Prinzips zu denken, darin manifestieren sich ja nichts weiter als grössenmässig konkret determinierte Ansprüche auf Verwertung, und die volonte generale der Börse überlässt es dann den Managementabteilungen der Einzelkapitale, wie diese Ansprüche durch die Reorganisation des Produktionsprozesses bedient werden könnten. Die sind natürlich auch nicht doof und reichen die damit gestiftete Kontingenz oftmals nach unten weiter, so dass die Lohnabhängigen im Extremfall mit dem Imperativ "Macht was ihr wollt aber seit profitabel" konfrontiert werden. Die Soziologin Sabine Pfeiffer hat solche Problemstellungen sehr avanciert theoretisch bearbeitet, in dem sie die Kategorie des Arbeitsvermögens ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, es geht also um die Frage, wie der Gebrauchswert der Arbeitskraft jeweils historisch-spezifisch formatiert wird.    
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich denke dass schon bei Marx ganz deutlich die Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus ausgefaltet wurde, ich hab dies immer als morphogenetisches Potential bezeichnet. Die relativ kohärente und rückblickend vergleichsweise übersichtliche Phase des Fordismus sollte vielleicht nicht als Normalfall, sondern eher als Ausnahmeerscheinung gedeutet werden. Oder ganz schlicht gesagt: Vollbeschäftigung plus allinkludierende Versicherungen plus sichere Renten - in den Metropolen jedenfalls - das gab es in einer Zeitspanne von nicht einmal 50 Jahren, die moderne, monetär ausdifferenzierte Ökonomie a.k.a. Kapitalismus ist aber schon ein paar Jahrhunderte alt. Es ist schwierig theoretisch zu bestimmen, ob es irgendwelche definitiven Stoppregeln dieser Art von Wirtschaft gibt. Bei Luhmann wird dies übrigens ganz deutlich markiert: "Wir wissen heute nicht einmal", so heisst es in der Wirtschaft der Gesellschaft (S.67), "ob auf dieser Grundlage eine dauerhafte (oder mindestens für einige Jahrhunderte stabile) Gesellschaftsstruktur evoluieren wird". Und da würde ich sagen: ja, das wissen wir in der Tat nicht. Und man könnte anschliessen mit Lenins Kardinalfrage: "Was tun?". 

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten von Hans-Peter Büttner zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.

Der zweite und letzte Teil des Interviews folgt in Trend 03/2008