Im Namen Gottes und des Königs
Die bisher errungene Pressefreiheit in Marokko gerät unter Druck. Ursächlich dafür sind die Institutionen der Monarchie ebenso wie islamistischer Druck

von Bernard Schmid

02/07

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Seien wir froh, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist! Diese Haltung dominierte die Reaktionen auf ein Urteil, das als solches immer noch als skandalös gelten muss. Am 15. Januar verurteilte ein Gericht in der marokkanischen Wirtschaftsmetropole Casablanca das Wochenmagazin En-Nichane zu einem zweimonatigen Erscheinungsverbot. Der presserechtliche Verantwortliche Driss Ksikes und die Journalistin Sanaa El-Aji wurden zu je drei Jahren Bewährungsstrafe sowie einer Geldbube in Höhe von 80.000 Euro (umgerechnet 7.200 Euro) verdonnert.  

Grundlage des Urteils ist die „Verletzung heiliger Werte“ sowie die „Veröffentlichung und Verbreitung von Schriften, die gegen die Moral und guten Sitten verstoben“. Mit den heiligen Werten sind die islamische Religion einerseits und die marokkanische Monarchie andererseits gemeint. Anlass für die Anklage und den Urteilsspruch ist eine Sammlung von Witzen, die das erst seit wenigen Monaten existierende  Wochenmagazin in seiner Ausgabe vom 9. Dezember publiziert hatte. Sanaa El-Aji zeichnete als Autorin dafür verantwortlich.  Darin wird dargestellt, „wie die Marokkaner über die Religion, über Sex und Politik lachen“. Alles in allem war die Darstellung nicht sonderlich spektakulär -- zumal die Zeitschrift nach eigenem Bekunden noch die eher harmloseren unter den Witzen, die im Königreich zirkulieren, herausgesucht hatte. Diese Art von Witzen, bei denen es auch um die Monarchie, um den Propheten und um mehr oder minder trick- oder aussichtsreiche Versuche zur Steigerung der sexuellen Leistung geht, ist zudem in Marokko allgemein bekannt oder geläufig. Aber wie in jeder konservativen Gesellschaftsformation gibt es einen Doppelstandard: Das, was verboten oder „unschicklich“ ist, wird insgeheim von vielen um so mehr geschätzt und praktiziert – aber in der Öffentlichkeit umso lautstarker verurteilt.

Wie die Lawine ins Rollen kam

Doch manche Kräfte verstehen auch überhaupt keinen Spab mit dem, was ihnen und – so ihre Betrachtungsweise – auch allen Anderen heilig zu sein hat. Und so kam der Stein ins Rollen. Allerdings nicht sofort: Erst nach der einwöchigen Verkaufsperiode, also nachdem das Wochenmagazin schon wieder von den Kioskwänden verschwunden war, brach der Skandal aus. Eine islamistische Webpage klagte die Journalisten an, „Gott schwer beleidigt“ zu haben. Eine islamistisch beeinflusste Studierendengewerkschaft in Kenitra nahm daraufhin die Sache in ihre Hand und verurteilte Flugblätter, auf denen die Bestrafung „des Verbrechens“ gefordert wurde. Ein Teil der marokkanischen Presse schloss sich daraufhin der Kampagne an. Im fernen Kuwait, am anderen Ende der arabischen Welt, publizierte daraufhin eine Versammlung von religiösen Gelehrten ein Kommuniqué, das im Tonfall und Aufbau an eine Fatwa erinnert. Am 20. Dezember 06 erlieb der marokkanische bürgerlich-nationalistische Regierungschef Driss Jettou ein vorläufiges Verbot des Wochenmagazins. Es kam zure Anklage und zum Prozess.  

Der Richterspruch: Nicht so hart wie die Forderungen der Staatsanwaltschaft

Das Urteil bleibt jedoch weit hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurück. Diese hatte in ihrem Plädoyer am 8. Januar 07 eine drei- bis fünfjährige Haftstrafe ohne Bewährung sowie eine definitive Schliebung und ein Berufsverbot für die beiden Angeklagten gefordert. Hinzu kommen sollte eine Geldstrafe zwischen umgerechnet 900 und 9.000 Euro. Die in Paris ansässige internationale Vereinigung „Reporter ohne Grenzen“ hatte daraufhin in einem scharfen Kommuniqué „ein unsinniges und archaisches Plädoyer“ des Staatsanwalts attackiert. Die Forderungen der Staatsanwaltschaft waren umso exorbitanter, als die Anklage aufgrund eines Verstobes gegen das Pressegesetzes erfolgte, aber ein Berufsverbot gar nicht aufgrund des Pressegesetzes, sondern allein des Strafgesetzbuchs ausgesprochen werden kann.  

Als dann der Richterspruch fiel, erklärte der Direktor des Wochenmagazins, Driss Kiskes, sich gegenüber der Nachrichtenagentur AFP erleichtert: „Ich bin zufrieden, dass der Richter nicht den Forderungen des Staatsanwalts nachgekommen ist, besonders  der nach einem Berufsverbot“. Dennoch werde er Berufung gegen das Urteil einlegen. Letzteres habe immerhin den Verdienst, „dass es die Debatte über die Freiheitsstrafen gegen Journalisten wieder anfacht“. Auch der Direktor des seit langem existierenden französischsprachigen Wochenmagazins Tel Quel, Ahmed Benchemsi – dessen Publikation zur selben Unternehmensgruppe zählt wie die erst im September lancierte, arabischsprachige Zeitschrift En-Nichane – argumentiert ähnlich: „Wir sind zufrieden, dass das Berufsverbot nicht (vom Richter) übernommen, und dass die Haftstrafe auf Bewährung ausgesetzt wurde. Auch wenn wir drei Jahre lang finden“ erklärte der Pressevertreter. Unterdessen gab es aber auch Unmutsäuberungen in Marokko. Auf diversen Weblogs wird längst heftig debattiert. Eine Solidaritätspetition fand und findet eine Reihe von Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern, unter: http://www.nichane.ma/communique/petition/ 

Vor einer Lockerung des Pressestrafrechts? 

Erleichtert zeigte sich aber auch der amtierende Kommunikationsminister im marokkanischen Kabinett, Nabil Benabdallah. Er erklärte, er sei froh, dass die Journalisten keine Haftstrafen ohne Bewährung davon getragen hätten, und fügte hinzu: „Der (geplante) Gesetzentwurf, der die bestehenden Haftdrohungen gegen Journalisten in 20 Artikeln aufheben wird, wird in diesem Frühjahr dem Parlament vorgelegt werden.“  

Haftstrafen für Pressedelikte würden, wenn das Gesetz in der angekündigten Form verabschiedet wird, dann noch in vier Artikeln des Pressegesetzes stehen bleiben. Es bliebe allerdings auch dann noch bei der Androhung von Freiheitsstrafen bei journalistischen „Angriffen“ auf einen geschützten Kernbereich. Zu diesem gehören der Bestand und die Ehre der Monarchie, die „territoriale Integrität“ Marokkos – dieser Begriff umschreibt den Anspruch über die seit 1975 okkupierte Westsahara – sowie das prinzipielle Verbot der Blasphemie.  

„Kommandeur der Gläubigen“ 

Angriffe auf den Islam gelten zugleich als Attacken gegen die Monarchie, da der sunnitische Islam im konservativen und postfeudal verfassten Marokko als Staatsreligion gilt. Der Status des Königs als Amir al-mouamim (Befehlshaber der Gläubigen) ist offiziell festgeschrieben. Dies hat lange Jahre hindurch das Aufkommen des politischen Islam als eigenständige Bewegung verhindert, da die Religion gleichermaben verstaatlicht war – aber nicht im Sinne eines islamistischen Staatsverständnisses, derzufolge alles staatliche Handeln sich über ursprünglich koranische Regeln legitimieren muss. 1993 lieb der damalige marokkanische König Hassan II. in Casablanca die gröbte Moschee der Erde einweihen, mittels derer er sich auch selbst ein Denkmal setzen wollte. Ihr Bau war „das“ Millionengeschäft des französischen Betonriesen Nummer 1, in Gestalt des Bouygues-Konzerns, gewesen. 

Seit Anfang dieses Jahrzehnts kommt jetzt allerdings der politische Islam auch in Marokko stärker auf, mit Verspätung gegenüber seinen Nachbarländern wie Algerien, aber nunmehr relativ heftig. Die legale „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (PJD), die eher den konservativen und die Monarchie respektierenden Flügel des Islamismus abdeckt – neben ihr existieren auch mehr oder minder illegale, sozialpopulistisch und pseudo-revolutionär auftretende Varianten – dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit die nächsten Parlamentswahlen gewinnen. Diese finden in diesem Jahr, spätestens im September, statt. Ob im Falle ihres Regierungseintritts die geplante Lockerung des Presserechts beibehalten wird, bleibt abzuwarten. Mit dem Urteil von Casablanca gegen En-Nichane zeigten sich Vertreter der PJD eher unzufrieden, da sie sich eine härtere Bestrafung erhofft hätten. 

„Demokratische Öffnung“... und ihre Grenzen 

Trotz einer repressiven Gesetzgebung hatte Marokko in den letzten Jahren eine relativ freie und pluralistische Presse, innerhalb gewisser Grenzen. 1996 hatte der alternde König Hassan II., der damals eine demokratische Öffnung einleitete – sie sollte den Regierungseintritt der Sozialdemokraten (1998) einleiten und so die Institutionen der Monarchie langfristig stabilisieren – sogar ein Dekret erlassen, das Strafverfolgungen aufgrund von „Majestätsbeleidigung“ ausdrücklich verbot. Sein Sohn Mohammed VI., der im Sommer 1999 als neuer Monarch auf den Thron kam, hat dieses Dekret aber wieder abgeschafft. 

In den letzten drei Jahren gab es einige Skandale, da die Behörden versucht, die real ausgeübte Pressefreiheit wieder autoritär einzuschränken. 2003 war der prominente Journalist Ali Lmrabet wegen „Majestätsbeleidigung“ zu vier Jahren verurteilt, er führte einen viel beachteten Hungerstreik durch. Zu Anfang des folgenden Jahres wurde er durch den König begnadigt. Aber im Juni 2005 wurde er aufgrund eines anderen Artikels in Rabat, in zweiter Instanz, zu zehnjährigem Berufsverbot verurteilt. Er hatte es gewagt, in einem Artikel zu behaupten, die vor den marokkanischen Truppen geflohenen Westsahara-Flüchtlinge, die in Tindouf – im Südwesten Algeriens – in Flüchtlingslagern leben, würden dort nicht gegen ihren Willen festgehalten. Vielmehr seien sie selbst es, die unter gegebenen Umständen nicht unter marokkanischer Besatzung in der Westsahara leben wollten oder könnten. Das gilt als schweres politisches Sakrileg. Die offizielle marokkanische Staatsdoktrin lautet, diese Menschen würden dort durch die Westsahara-Befreiungsfront Polisario geiselartig festgehalten. 

Die jüngste Affäre betrifft das marokkanische Newsmagazin Le journal hebdomadaire, dessen Gründung 1997 als Anzeichen der Öffnung des Landes zum politischen Pluralismus genannt wurde. Sein Gründer und früherer Direktor Aboubaker Jamaï war im vorigen Dezember zu einer horrenden Geldstrafe von 3 Millionen Dirham (umgerechnet 270.000 Euro) verurteilt. Seine Straftat? Die angebliche „Diffamierung“ des Europäischen Zentrums für strategische Forschung, Analyse und Beratung (ESISC) in Brüssel. Das Magazin hatte in seiner Ausgabe vom 3. Dezember 2005 eine Studie des ESISC in Frage gestellt, worin die offizielle marokkanische Staatsposition zur Westsahara übernommen wird. Das ESISC stellte daraufhin Strafanzeige, was man seitens der marokkanischen Monarchie durchaus gerne sah. Jamaï ist nicht in der Lage, diese Rekordstrafe aus eigener Tasche zu bezahlen. Damit die Staatsmacht nicht Rückgriff auf seine bisherige Zeitschrift nimmt und den Vorwand nutzt, um diese ihrerseits zu ruinieren, trat der Journalist und bisherige Direktor am 18. Januar 2007 von allen Funktionen beim Journal hebdomadaire zurück.

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Text am 3.2.2007 vom Autor.