MODELLE DER
MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK

BEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von
HEINZ KIMMERLE
02/07

trend
onlinezeitung

KAPITEL IV
VLADIMlR ILJlC LENIN
Andreas Arndt

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A. HAUPTPUNKTE DER AUSEINANDERSETZUNG MIT LENINS KONZEPTION MATERIALISTISCHER DIALEKTIK: STREIT UM DIE "LENINSCHE ETAPPE" DER MARXISTISTISCHEN PHILOSOPHIE UND BEGINN DER ERFASSUNG SEINER DIALEKTIK-KONZEPTION

Die Auseinandersetzungen mit Lenins Konzeption materialistischer Dialektik konzentrieren sich auf zwei Problemkreise, nämlich den nach Lenins Tod zuerst von Stalin erhobenen Anspruch, der Leninismus sei nicht nur die „Wiederherstellung, sondern auch die Konkretisierung und Weiterentwicklung der kritischen und revolutionären Methode von Marx, seiner revolutionären Dialektik,"(1) und den Inhalt und die systematische Bestimmung dieser „Leninschen Etappe" in der Entwicklung der marxistischen Philosophie.

Die Übereinstimmung der Positionen Lenins mit denen von Marx und Engels wurde zunächst von Pannekoek und Korsch bestritten.(2) Ihre Kritik zielt darauf, daß Lenin sich philosophisch auf dem Boden des bürgerlichen, vormarxistischen Materialismus angesiedelt habe. Zum Beleg dient vor allem die 1909 veröffentlichte Streitschrift „Materialismus und Empiriokritizismus." Die Kritik Korschs und Pannekoeks beeinflußt bis heute die Polemik gegen die sogenannte „Widerspiegelungstheorie" Lenins und wurde von der westlichen Lenin-Kritik weitgehend aufgegriffen.(3) Dieser Richtung der Auseinandersetzung ist gemeinsam, daß Lenins entwickelte Dialektik-Konzeption der Jahre 1914/15 entweder gar nicht berücksichtigt oder nur als unzureichende Korrektur der früheren Auffassungen gewertet wird.

Demgegenüber war in der III. Internationale lediglich der Anspruch, Lenin habe die materialistische Dialektik weiterentwickelt, ein Diskussionsgegenstand. Diese Diskussion wurde formell abgeschlossen, als Ende 1930 gegen die Gruppe um den sowjetischen Philosophen Deborin eine Resolution angenommen wurde, in der es hieß, Deborin habe die Bedeutung des „Leninismus in der Philosophie als einer neuen Entwicklungsstufe des dialektischen Materialismus"(4) verkannt. In der Kommunistischen Bewegung ist seitdem die Anerkennung einer „Leninschen Etappe" in der Entwicklung der marxistischen Philosophie unbestritten und Lenins Konzeption gehört von dorther wie die Modelle von Marx und Engels zu den Voraussetzungen jeder Bestimmung und Weiterentwicklung der materialistischen Dialektik. Dabei sind unterschiedliche und in entscheidenden Positionen auch in der politischen Konsequenz divergierende Dialektik-Modelle ausgearbeitet worden, die sich alle als „leninistisch" verstehen.(5) Obwohl im Rahmen der Diskussion über den Leninismus in der Philosophie 1929/30 die 1914/15 entstandenen „Philosophischen Hefte" Lenins erstmals vollständig veröffentlicht wurden, trat die systematische Aufarbeitung der darin enthaltenen Konzeption lange Zeit zugunsten der „Widerspiegclungstheorie" in „Materialismus und Empiriokritizismus" zurück, die als der entscheidende Beitrag Lenins akzentuiert wurde.(6) Erst seit Mitte der 50er Jahre zeichnet sich in der Sowjetunion und ihrem ideologischen Einflußbereich eine deutliche Akzentverschiebung zugunsten einer systematischen Erfassung und Ausarbeitung der Dialektik-Konzeption ab.(7) Die Diskussionen betreffen vor allem den Aufbau der materialistischen Dialektik als Logik, ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften und ihre Bedeutung für aktuelle Probleme gesellschaftlicher Entwicklung. In diesem Rahmen erhält die Kategorie des Widerspruchs besondere Bedeutung durch die Auseinandersetzung mit Mao Tsetungs Modell der Widerspruchsdialektik, das sich ausdrücklich auf Lenin bezieht und dessen politische Konsequenzen denen der sowjetischen Theorie direkt entgegenstehen.

B. LENIN UND DIE PHILOSOPHIE: PHILOSOPHISCHE THEORIE ALS ,HEBEL FÜR DIE VERÄNDERUNG DER WELT'

„Materialismus und Empiriokritizismus" und die „Philosophischen Hefte" bewegen sich scheinbar ganz im Rahmen einer philosophischen Argumentation; ihr Bezug auf die politische Theorie-Praxis Lenins ist sehr vermittelt. Es scheint daher möglich zu sein, sie als eine Darlegung der Leninschen Philosophie zu lesen, die aus sich selbst hinreichend interpretierbar ist. In dieser Weise haben Pannekoek und Korsch Lenins Text verstanden. Auch in der sowjetischen Diskussion steht, wie schon die Problemstellung „Lenin als Philosoph" zeigt, die immanente Interpretation der genannten Texte als Darlegung der Leninschen Philosophie weitgehend im Vordergrund.(8)

Dagegen läßt sich geltend machen, daß Lenin in erster Linie Revolutionär ist, für den sich theoretische Fragestellungen im Zusammenhang mit der politischen Praxis ergeben. Wenn er sich dabei auf die Diskussion über die Philosophie des Marxismus einläßt, wäre zunächst zu fragen, welche praktisch-politischen Notwendigkeiten er dafür sieht und welche Funktion er der Philosophie im revolutionären Prozeß zuweist. Geht man von Lenins eigenen Voraussetzungen aus, so gilt für die Philosophie als Bestandteil der Theorie des Marxismus, was er in einer seiner ersten Schriften programmatisch formulierte: an erster Stelle steht unbedingt die praktisch-politische Arbeit und die theoretische Arbeit antwortet auf die Fragen, die von ihr erhoben werden.(9) Umgekehrt hat freilich die Praxis, um nicht „blind" gegenüber ihren Bedingungen zu sein, sich notwendig auf die revolutionäre Theorie zu beziehen.(10) Diese Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis ist für die gesamte Tätigkeit Lenins als grundlegend zu unterstellen und kennzeichnet seine Parteikonzeption als Verbindung des wissenschaftlichen Sozialismus mit der spontanen Arbeiterbewegung ebenso wie die politökonomischen Analysen der gesellschaftlichen Entwicklung Rußlands oder die situationsbezogenen Analysen zur Begründung einer revolutionären Taktik.

In der Beziehung aller theoretischen Arbeit auf die politische Praxis, die nicht pragmatisch mißzuverstehen ist, sondern Erfassung der Bedingungen und Möglichkeiten verändernden Handelns bedeutet, sowie in der Vielschichtigkeit der theoretischen Argumentationen in ihrer „Nähe" zur Praxis folgt Lenin Marx und Engels, auf deren Werke er sich als theoretische Voraussetzungen methodisch und inhaltlich bezieht. Charakteristisch für Lenin ist indessen, daß der größte Teil seiner Schriften auf unmittelbar praktisch-politische Konsequenzen ausgerichtet ist und sich in ihnen daher das Bezogensein auf die Praxis auf einer anderen Ebene darstellt als in den grundlegenden Werken von Marx und Engels, was damit zusammenhängt, daß Lenin als Parteiführer in die Tagesfragen des Klassenkampfes direkt involviert war. Diese Tatsache ist auch entscheidend für die Entwicklung der Leninschen Dialektik-Konzeption. Lenin mußte in ganz anderem Maße als Marx und Engels die Dialektik nicht nur als Methode der wissenschaftlichen Erfassung und Darstellung grundlegender gesellschaftlicher Zusammenhänge thematisieren, sondern als Methode der Analyse konkreter Situationen des Klassenkampfes, die sich unmittelbar praktisch herstellen und theoretisch nicht vorab durchkonstruiert werden können.

Für diesen neuen Schritt, die Bestimmung der Dialektik als Methode der konkreten Analyse einer konkreten Situation, fand Lenin einen theoretischen Bezugspunkt zunächst im Briefwechsel von Marx und Engels, in dem die Dialektik im Prozeß der unmittelbaren Entwicklung der revolutionären Politik und Theorie gleichsam „in Aktion" erscheint.(11) Die Bedeutung der materialistischen Dialektik als theoretische Voraussetzung revolutionärer Politik unterstreicht Lenin in seinem Aufsatz „Karl Marx," wo es heißt: „Die Hauptaufgabe der Taktik des Proletariats bestimmte Marx in strenger Übereinstimmung mit allen Leitsätzen seiner materialistisch-dialektischen Weltanschauung."(12)

Die Notwendigkeit der Reflexion auf die methodischen Grundlagen des Marxismus erklärt sich aus den spezifischen gesellschaftlichen Voraussetzungen marxistischer Theorie und Politik in Rußland. Der Übernahme der auf westeuropäisch-kapitalistische Verhältnisse bezogenen Untersuchungen von Sachzusammenhängen und einer ihnen entsprechenden Taktik waren dadurch Grenzen gesetzt, daß der Kapitalismus sich in Rußland erst inmitten vorkapitalistischer Strukturen zu entwickeln begann, wodurch das „Kapital" nur insoweit herangezogen werden konnte, wie es eine Darstellung der Notwendigkeit und der Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung in Rußland ermöglichte.(13) Von Anfang an verstand Lenin daher den Marxismus und besonders das „Kapital" im Sinne einer materialistischen Methode der Soziologie, der „Untersuchung und Erklärung der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmter Länder,"(14) deren Anwendung auf Rußland nur darin bestehen kann, unter „Ausnutzung der erarbeiteten Mittel der materialistischen Methode und der theoretischen politischen Ökonomie die russischen Produktionsverhältnisse und ihre Entwicklung zu untersuchen."(15)

Bei der ökonomischen Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland thematisiert Lenin die Methode allerdings nur am Rande. Die wenigen Bemerkungen in den frühen Schriften Lenins beziehen sich darauf, daß in der dialektischen Methode „die Gesellschaft als ein lebendiger, in ständiger Entwicklung begriffener Organismus betrachtet wird (und nicht als etwas mechanisch Verkettetes, das infolgedessen eine beliebige willkürliche Kombination der einzelnen gesellschaftlichen Elemente zuließe)."(16) Zugleich erklärt Lenin, daß „ein Bestehen auf Dialektik, ein Auswählen von Beispielen, die die Richtigkeit der Triade bestätigen sollen, nichts anderes sind als Überbleibsel jenes Hegelianertums, aus dem der wissenschaftliche Sozialismus hervorgegangen ist, Überbleibsel seiner Ausdrucksweise."(17) Der Bezug auf die Methode ist somit zunächst der Bezug auf den Geschichtsmaterialis-mus überhaupt und nicht auf die materialistische Dialektik als Philosophie. Das Vorbild Lenins ist dabei Plechanov, der führende Theoretiker des russischen Marxismus, der in ähnlicher Weise den Geschichtsmaterialismus akzentuiert und den historischen Prozeß als Entwicklung in dialektischen Sprüngen vom Feudalismus über den Kapitalismus zum Sozialismus dargestellt hatte, wobei diese Entwicklungsetappen als notwendig betrachtet wurden.(18)

Dieses Schema lag der Bestimmung der Aufgaben der russischen Revolution bei Plechanov und Lenin zugrunde. Der Inhalt der Revolution konnte zunächst nur bürgerlich-demokratisch sein, d.h. sie mußte dem Kapitalismus und der Entwicklung seiner Produktivkräfte erst zum Durchbruch verhelfen. Für Plechanov bedeutete dies politisch bürgerliche Demokratie nach westlichem Vorbild. Hier bezog Lenin in der ersten russischen Revolution 1905/06 aufgrund der Analyse vor allem der spontanen Bauernbewegung einen entgegengesetzten politischen Standpunkt, dessen Begründung weitreichende Konsequenzen auch für die Bestimmung der materialistischen Dialektik hatte. Lenin hielt die Errichtung einer „revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" für möglich, die die Bourgeoisie politisch entmachtet und die Agrarverhältnisse so umgestaltet, daß dieEnt-wicklung der Produktivkräfte zugleich den Übergang zu sozialistischen Maßnahmen und politisch zur Diktatur des Proletariats ermöglichte.(19) In der Begründung dieser taktischen und strategischen Festlegungen praktizierte Lenin ein Verfahren der konkreten Analyse, das als paradigmatisch für die Methode der konkreten Analyse der konkreten Situation betrachtet werden kann.

Die Erkenntnis des allgemeinen Ganges der gesellschaftlichen Entwicklung ermöglicht die Bestimmung des Grundwiderspruchs der russischen Revolution als Widerspruch zwischen kapitalistischen Produktivkräften und vorkapitalistischen Strukturen. Dieser Widerspruch bestimmt alle anderen Widersprüche der Gesellschaft. Soweit ist Lenin mit Plechanov einig, die Differenzen brechen erst an der Frage auf, wie diese Determination aufzufassen ist. Lenin wirft Plechanov vor, „einlinig" zu argumentieren,(20) indem er das Verhältnis der Klassen und die Aufgaben der Revolution aus dem Grundwiderspruch rein logisch ableite21 und damit gegen den von ihm selbst betonten Grundsatz verstoße, daß die Wahrheit immer konkret sei.(22) Lenins Kritik beruht darauf, daß er die Klassenwidersprüche zwar als durch den Grundwiderspruch bestimmt begreift, ihre Entwicklung jedoch auch von anderen Faktoren abhängig macht, d.h. sowohl ihre Determination als auch ihre relative Selbständigkeit berücksichtigt. Dabei zeigt sich, daß Proletariat und Bauernschaft das größte Interesse an der radikalsten Durchführung der demokratischen Revolution auch gegen die Bourgeoisie haben und den Grundwiderspruch lösen können, ohne die Bourgeoisie an die Macht zu bringen. Lenin geht also von der Existenz der Widersprüche in einem gesellschaftlichen Ganzen aus, die durch den Grundwiderspruch determiniert werden, sich aber nicht allein aus ihm herleiten lassen, sondern relativ selbständig entwickeln. Dadurch entstehen Situationen, die einen Klassenwiderspruch bestimmend werden lassen, der nicht aus dem Grundwiderspruch ausschließlich logisch ableitbar ist. Lenin nennt dies später den „Hauptwiderspruch" der Revolution, der sich in jeder Etappe ändern kann, ohne daß sich dadurch der Grundwiderspruch verändert hätte.(23) Diese nicht einlinig-mechanische, sondern dialektische Bestimmung der Determination führt zum Bruch Lenins mit Plechanov und anderen Theoretikern der II. Internationale, die davon ausgehen, daß die Produktivkräfte die allein entscheidende Determinante der gesellschaftlichen Entwicklung darstellen. In diesem Sinne spricht Lenin 1915 von zwei grundlegenden Triebkräften, der Entwicklung der Produktivkräfte und dem Klassenkampf.(24)

Die Praxis des Klassenkampfes ist für Lenin Grundlage, aber auch Moment der konkreten Analyse. Er identifiziert daher das Verfahren Plechanovs mit dem des mechanischen Materialismus, der die Welt interpretiert, es aber nicht versteht, die „richtige Interpretation zu einem Hebel für die Veränderung der Welt, zu einem Werkzeug für den weiteren Fortschritt zu machen."(25) Das heißt, eine gegebene Situation nicht objektivistisch, sondern im Hinblick auf die Möglichkeiten verändernden Handelns zu analysieren und darin die Einheit von Theorie und Praxis zu verwirklichen, die für Lenin die Grundlage des revolutionären Marxismus überhaupt ist.(26) Diesen Standpunkt, der die Parteilichkeit der Analyse fordert, hat Lenin in der Imperialismusanalyse gegen Kautskys „afe/ra^-theoretische"27 Fragestellung gewendet, die sich mit der Möglichkeit eines „Ultraimperialismus" und seiner Bedeutung für den Übergang zum Sozialismus befaßte, während es für Lenin darauf ankam, die „akuten Aufgaben der Gegenwart" zum Bezugspunkt der theoretischen Erfassung der Widersprüche des Imperalismus zu machen.(28) Diese Aufgaben sind durch die konkrete Situation ebenso bestimmt wie durch die revolutionäre Zielsetzung, die in jeder Situation angemessen zur Geltung gebracht werden muß. Solche ZielvorsteHungert sind, wie Lenin in „Staat und Revolution" zeigt, nicht aus der Annahme einer Teleolo-gie der gesellschaftlichen Entwicklung abgeleitet, sondern sind theoretische und praktische Antizipation einer objektiv möglichen Entwicklung, Verallgemeinerung der Erfahrungen der Klassenkämpfe auf der Grundlage der Erfassung der Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung.(29)

Die von Lenin praktizierte Methode der konkreten Analyse läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß sie auf die Einheit von Theorie und Praxis abzielt, indem sie die Praxis zur Grundlage und zum Ziel der Analyse macht, die konkrete Situation als komplexes Ganzes in ihrer Entwicklung und ihren Beziehungen nicht einlinig determinierter Widersprüche begreift, in der der Klassenkampf selbst als Determinante erscheint und auf dieser Grundlage den jeweiligen Hauptwiderspruch bestimmt, dessen Lösung zur Verwirklichung der taktischen und strategischen Zielvorstellungen beiträgt.

Lenin praktiziert die Dialektik als Methode der konkreten Analyse und entwickelt einzelne ihrer Bestimmungen, ohne sie in einem systematischen hilosophische Zusammenhang darzustellen. Wenn daher von Lenins Beitrag zur Philosophie des Marxismus die Rede ist, so ist zunächst davon auszugehen, daß sie in seinem Werk implizit vorliegt und in ihrer Entwicklung und Systematik rekonstruiert werden muß.

Dasselbe gilt für das Verständnis von „Materialismus und Empiriokritizismus," der einzigen von Lenin publizierten Schrift, die sich ausdrücklich auf eine philosophische Kontroverse bezieht. Lenin argumentiert hier zwar ausdrücklich im Blick auf die in Frage stehenden philosophischen Positionen; wie er argumentiert und welche Fragen er in den Mittelpunkt rückt, wird jedoch von praktisch-politischen Interessen bestimmt. Die Schrift entstand in den Reaktionsjahren nach der ersten russischen Revolution, unter deren Druck sich die Ideologen der bürgerlich-demokratischen Bewegung von den demokratischen und materialistischen Traditionen der russische Aufklärer lossagten und auf idealistische und mystizistische Positionen übergingen; eine Entwicklung der herrschenden Ideologie, die auch Teile der Sozialdemokratie erfaßte.(30) In dieser Situation ging es Lenin darum, die gemeinsame ideologische Grundlage der Arbeiterbewegung und der kleinbürgerlich-demokratischen Bauernbewegung in den materialistischen Traditionen hervorzuheben, die Einheit der Partei bei Wahrung der politischen Differenzen zu erhalten und die Fraktionsauseinandersetzungen von der philosophischen Diskussion zu trennen.(31) Lenins Eingreifen in die Kontroverse ist daher bewußt auf eine philosophische Argumentation beschränkt und bringt die politischen Grundlagen dieses Eingriffs und seine Intentionen nur auf der philosophischen Abstraktionsebene zum Ausdruck; ebenso bewußt beschränkt ist der Bereich seiner philosophischen Argumentation: die Darstellung des allem Materialismus Gemeinsamen.(32)

Dieses Gemeinsame ist die Anerkennung des Primats der Materie und der Objektivität der Erkenntnis im Sinne der Erkennbarkeit der Welt und Bemessung der Erkenntnis an einer außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein existierenden Realität. Die Ausdrücke „Widerspiegelung," „Abbild" usw. verweisen auf dieses grundlegende Verhältnis von Sein und Bewußtsein. Wo Lenin über diese These hinausgeht, bezieht er sich auf die Praxis als Grundlage und Kriterium der Erkenntnis und grenzt die Dialektik des Erkenntnisprozesses vom Relativismus ab. Das geschieht jedoch nur soweit, wie es notwendig ist, das grundlegende Verhältnis von Sein und Bewußtsein in der Beschränkung dieser Gegenüberstellung einsehbar zu machen. Der Verweis auf die Praxis als Grundlage und Kriterium der Wahrheit der Erkenntnis begründet die materialistische Position außerhalb eines philosophischen Prinzips und erlaubt zugleich die Formulierung der philosophischen Kategorie „Materie" als einer außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein existierenden Realität. Die Abgrenzung vom Relativismus soll die These der Objektivität der Erkenntnis im Sinne einer „Widerspiegelung" dieser Realität auch im Prozeß der Relativierung alles Wissens im Erkenntnisfortschritt sichern. Lenin versteht den Erkenntnisprozeß im Rahmen dieser Problemstellung als Annäherung an die absolute Wahrheit durch die Summe der relativen Wahrheiten.(33) Diese Unterscheidung dient dazu, in der Philosophie eine Trennungslinie zu markieren: „Sie ist gerade .unbestimmt' genug, um die Verwandlung der Wissenschaft in ein Dogma ... zu verhindern, sie ist aber zugleich ,bestimmt' genug, um sich auf das entschiedenste und unwiderruflichste vom Fideismus und vom Agnostizismus, vom philosophischen Idealismus und von der Sophistik der Anhänger Humes und Kants abzugrenzen . . . Dies ist die Trennungslinie zwischen dialektischem Materialismus und Relativismus."(34)

Lenins Philosophie-Strategie ist von dorther mit Althusser als Eingriff in die Philosophie zu bestimmen,(35) der in einem unmittelbar praktisch-politischen Zusammenhang steht und nicht zu einer philosophischen Argumentation im Sinne einer Begründung und Darstellung für sich gestellter kategorialer Bestimmungen in ihrem Zusammenhang führt. Das schließt nicht aus, daß dabei philosophische Kategorien entwickelt werden („Materie," „Praxis," „absolute Wahrheit," „relative Wahrheit"), deren Funktion aber darin besteht, „Trennungslinien" zu markieren, die Anspruch und Konsequenzen jeder „rein logischen" Spekulation zurückweisen und auf die konkrete Erforschung des Gegenstandes außerhalb der Philosophie orientieren. In diesem Sinne sind auch die Zurückweisung der hegelianischen Konstruktion in Triaden in den frühesten Schriften Lenins und die Bestimmungen der Dialektik als Methode der konkreten Analyse zu verstehen.

Wenn Lenin 1914/15 einen entscheidenden Schritt weiter geht und die materialistische Dialektik als Philosophie ins Zentrum seiner Studien stellt, so ist zu fragen, ob in ihnen in gleicher Weise ein praktisch-politisches Interesse zugrunde gelegt ist und ob die in der konkreten Analyse praktizierte Dialektik auf der Ebene philosophischer Bestimmungen adäquat aufgenommen wird.

c. Lenins konzeption materialistischer Dialektik in den  „philosophischen heften" (1914/15)

1. Voraussetzungen von Lenins Auseinandersetzung mit der Philosophie

Lenins „Philosophische Hefte" sind keine systematische Darstellung seiner Dialektik-Konzeption, sondern zur Selbstverständigung verfaßte Exzerpte und Notizen zu Hegels „Logik," dessen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" und die „Philosophie der Weltgeschichte", zu Feuerbachs „Leibniz," Lassalles „Heraklit" und zur „Metaphysik" des Aristoteles. Daneben finden sich Notizen zur Literatur über Hegel, zu naturwissenschaftlichen Fragen und zwei eigenständige Entwürfe Lenins („Plan der Dialektik (Logik) Hegels," „Zur Frage der Dialektik").(36) Anlaß dieser philosophischen Studien war die Abfassung eines Lexikon-Artikels über Karl Marx,(37) in dem Lenin anhand aller ihm bekannten Äußerungen von Marx und Engels zu diesen Fragen den philosophischen Materialismus und die Dialektik darzustellen versuchte. Der kurz zuvor publizierte Briefwechsel zwischen Marx und Engels, in dem sich Bemerkungen über die Bedeutung aller von Lenin herangezogenen Positionen finden, war Grundlage des Programms seiner Lektüre.(38)

Lenins philosophische Studien scheinen auf den ersten Blick alles andere als praktisch-politisch bezogen zu sein und sich eher der durch Kriegsausbruch und Exil erzwungenen Isolation von der unmittelbaren Praxis zu verdanken, aber auch dies war nur ein äußerer Anlaß, denn, wie Krupskaja schreibt: „Das Ziel seiner philosophischen Studien war, sich eine Methode zu eigen zu machen, die die Philosophie in eine konkrete Anleitung zum Handeln umgestalten konnte."(39) Dies wird dadurch belegt, daß Lenins Studien unmittelbar in die Ausarbeitung der Imperialismusanalyse und die Vorarbeiten zu „Staat und Revolution" übergingen. Diesen Schritt hat Lenin freilich nicht in der Weise reflektiert, daß sich an die Erfassung der allgemeinsten Bestimmungen der materialistischen Dialektik eine Ausarbeitung der Methode der Gesellschaftsanalyse oder eine Theorie der Besonderheiten gesellschaftlicher Widersprüche anschließt.

Die Konzeption der „Philosophischen Hefte" erweist sich so als relativ abgehoben von der praktisch-politisch bezogenen Theoriebildung, aber ein solches Zurückgehen auf die abstraktesten Grundlagen des Marxismus war selbst Erfordernis einer politischen Situation. Angesichts des Zusammenbruchs der H. Internationale und der Notwendigkeit des vollständigen Bruchs mit ihren reformistischen Positionen kam es Lenin darauf an, den revolutionären Marxismus „wiederherzustellen" - und dies auf allen Ebenen der revolutionären Theorie.(40) Erst wenn gezeigt wird, daß sich alle philosophischen Bestimmungen auf die marxistische politische Theorie-Praxis beziehen lassen, was Lenin in „Karl Marx" voraussetzt, kann die materialistische Dialektik als Grundlage des revolutionären Marxismus aufgefaßt werden. Nur von dorther läßt sich auch Lenins Verfahren rechtfertigen, die dialektische Methode in einem für sich gestellten philosophischen Begründungszusammenhang darzustellen, der allerdings einen völlig neuen Typ der

Philosophie bezeichnet. Lenin setzt dabei schon immer voraus, daß die gesellschaftliche Praxis die Grundlage aller Theorie und daher auch der Philosophie ist; ebenso setzt er die Theorie Man;' und Engels' wie auch sein eigenes Verfahren der konkreten Analyse voraus. Von diesen in den „Philosophischen Heften" vielfach nicht mehr ausdrücklich thematisierten theoretischen Voraussetzungen ausgehend rekonstruiert Lenin den Bruch der materialistischen Dialektik mit der Hegeischen Dialektik und darin mit aller bisherigen Philosophie.

2. Der materialistische „Kern" der Hegeischen Dialektik

Lenin liest die Hegeische „Logik" nicht in der Absicht, ihre immanente Argumentationsstruktur im Ganzen zunächst rein zu erfassen. Gleich am Beginn der Lektüre notiert er: „Ich bemühe mich im allgemeinen, Hegel materialistisch zu lesen: Hegel ist auf den Kopf gestellter Materialismus (nach Engels)."(41) Das heißt aber zugleich, daß er in einzelnen Argumentationszusammenhängen Hegels Problemstellungen der materialistischen Dialektik aufweisen und Argumente für den Materialismus gewinnen kann. So ist der Leitfaden der materialistischen Lektüre die Kritik Hegels an der Kantischen Position, die darauf besteht, daß die Denkbestimmungen nicht ein subjektives Synthetisieren der Erscheinungen sind, die das Ding-an-sich als unerkennbar im Jenseits des Bewußtseins lassen. Die in dieser Kritik enthaltene These der Objektivität der Erkenntnis übernimmt Lenin auf materialistischer Grundlage, indem er den Anspruch Hegels zurückweist, die Wirklichkeit aus den Bestimmungen des reinen Denkens hervorgehen zu lassen. Die von Lenin gemeinte Objektivität der Erkenntnis ist daher nichts anderes als die These, daß das Bewußtsein das Sein widerspiegelt. Gleichzeitig haben für Lenin die Bestimmungen der Seinslogik und der Wesenslogik rationelle Inhalte, einen „Kern," den er „entdecken, begreifen, hinüberretten, herausschälen, reinigen" will: „Bewegung und 'Selbstbewegung' (dies NB! selbsttätige (selbständige), spontane, innerlich-notwendige Bewegung), .Veränderung,' .Bewegung und Lebendigkeit,' .Prinzip jeder Selbstbewegung,' .Trieb' zur .Bewegung' und zur .Tätigkeit' - Gegensatz zum ,toten Sein'"42 - in diesen Bestimmungen resümiert Lenin Hegels Entwicklung des Widerspruchs.

Der Vollzug des reinen Denkens kann überhaupt nur Bestimmungen aus sich hervorgehen lassen, weil Hegel die Unmittelbarkeit (das reine Sein, die absolute Identität) in die Vermittlung übergehen läßt, ein Verhältnis Entgegengesetzter in ihrer Einheit. Streicht man, wie Lenin, die Voraussetzung der Unmittelbarkeit, die nichts anderes ist als die vorausgesetzte Voraussetzungslosigkeit reinen Denkens, so bleibt die Bestimmung des Widerspruchs, der Einheit Entgegengesetzter, als Quelle der Selbstbewegung und Triebkraft jedes Prozesses. In diesem Sinne versteht Lenin den „Kern" der Hegeischen Dialektik, wobei die Form des Prozesses, der Umschlag von Quantität in Qualität, das Abbrechen der Allmählichkeit und der dialektische Sprung in Bestimmungen gedacht werden kann, die bereits bei Hegel ausgearbeitet sind und die Lenin, dem Vorbild Engels' folgend, aufnimmt. „Bedingung der Erkenntnis aller Vorgänge in der Welt in ihrer ,Selbstbewegung,' in ihrer spontanen Entwicklung, in ihrem lebendigen Leben ist die Erkenntnis derselben als Einheit von Gegensätzen."(43) Jeder Anstoß der Bewegung von außen, durch „Gott, Subjekt usw.,"(44) wird damit ausgeschlossen.

Lenin bricht mit den ideologischen und idealistischen Voraussetzungen der Hcgclschen Dialektik, indem er als materialistische Voraussetzung das Bezogensein allen Denkens und Handelns auf einen objektiven Prozeß formuliert. Dabei kann aber die Struktur der Hegeischen Dialektik nicht bestehen bleiben. An die Stelle des Unmittelbaren, das erst in die Vermittlung übergeht, tritt als Ausgangspunkt materialistischer Dialektik ein Verhältnis,(45) das nicht eine durch einen einfachen zugrundeliegenden Widerspruch bestimmte Totalität darstellt, sondern ein Ganzes von in ihren Beziehungen und Entwicklungen relativ selbständigen Widersprüchen: „Ein Fluß und die Tropfen in diesem Fluß. Die Lage jedes Tropfens, sein Verhältnis zu den anderen; sein Zusammenhang mit den anderen; die Richtung seiner Bewegung; die Geschwindigkeit; die Linie der Bewegung ... Die Summe der Bewegung. Die Begriffe als das Erfassen der einzelnen Seiten der Bewegung, der einzelnen Tropfen (= ,der Sachen'), der einzelnen ,Ströme' usw."(46) Hegels Totalitätsbegriff, der das Einzelne schon immer im Allgemeinen aufgehoben hat, indem das Einzelne erst aus dem Übergang der Unmittelbarkeit in die Vermittlung hervorgeht, wird in diesem „Weltbild nach Hegels .Logik' ... minus den lieben Gott und das Absolute"(47) aufgegeben: das Einzelne in seiner Besonderheit und relativen Selbständigkeit wird zum Ausgangspunkt der Erfassung des Ganzen gemacht. Diese materialistische Auffassung der Totalität entspricht auf der Ebene philosophischer Bestimmungen dem von Lenin praktizierten und in der Kritik an Plechanov theoretisch begründeten Verfahren der konkreten Analyse.

Entscheidende Konsequenzen seines hier erst bildhaft vorgestellten Totalitätsbegriffs entwickelt Lenin in der Auseinandersetzung mit dem Kapitel der „Logik" über die absolute Idee als absolute Methode, das für ihn, schon durch die Häufigkeit seiner Anmerkungen belegbar (sie umfassen etwa 1/4 der Notizen zur „Logik"), den entscheidenden „Kern" der Hegelschen Dialektik enthielt. Dieses Kapitel habe „fast gar nicht spezifisch den Idealismus zum Inhalt, sondern sein Hauptgegenstand ist die dialektische Methode. Fazit und Resümee, das letzte Wort und der Kern der Hegelschen Logik ist die dialektische Methode."(48) In den Anmerkungen zu diesem Kapitel thematisiert Lenin das Verhältnis der endlichen Subjekte zum objektiven Prozeß, ihre Stellung im Gesamtprozeß und damit den widersprüchlichen Prozeß der Erkenntnis und Umgestaltung der Welt: das Verhältnis von Theorie und Praxis.

Hegel hatte in der „Logik" auf idealistischer Grundlage den Riß im Kantischen System zwischen theoretischer, an das Gegebensein der Erscheinungen und damit die Notwendigkeit gebundener Vernunft und der Autonomie der Vernunft als praktischer dadurch aufgehoben, daß er theoretische und praktische Vernunft im reinen Denken als gleich ursprünglich annahm, wodurch die Notwendigkeit ebensosehr die Bestimmungen der Freiheit (des absoluten Geistes) in sich schließt, wie die Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit ist. Auf dieser Grundlage vollzieht sich der Übergang vom subjektiven Begriff zur absoluten Idee in der „Logik" schon in der Struktur des Praxis-Prozesses der Erkenntnis: Praxis -Theorie - Praxis, von der Idee des Lebens über die Idee des Erkennens und die Idee des Guten als praktischer Idee zur absoluten Idee. Lenin knüpft an diese Struktur der Darstellung an und hat durch die Kritik an der Voraussetzung reinen Denkens dabei schon mit der bei Hegel noch sichtbaren Dominanz der Theorie über die Praxis gebrochen: Praxis ist ihm nicht die Tätigkeit reinen Denkens, sondern endliche Praxis endlicher Subjekte als Grundlage und Kriterium der Wahrheit der Erkenntnis.

Lenin unterscheidet „2 Formen des objektiven Prozesses: die Natur ... und die zwecksetzende Tätigkeit des Menschen."(49) Die zwecksetzende Tätigkeit hat aber die Natur zur Grundlage und kann Zwecke nur nach deren immanenten Gesetzen verwirklichen, sie ist als Praxis zugleich Grundlage jeder Erkenntnis und auf diese Erkenntnis für das Setzen der Zwecke angewiesen. In dieser Rückkehr von der Erkenntnis zur Praxis wird die Natur selbst verändert und der gesellschaftliche Lebenszusammenhang hergestellt, der unter dem Titel eines objektiven Prozesses gedacht wird. Ist auch der Arbeitsprozeß teleologisch, als zwecksetzende Tätigkeit gefaßt, so ist jedoch sein Resultat als Resultante von endlichen Tätigkeiten und im Verhältnis zum Naturprozeß ein objektiver, nichtteleologischer Prozeß: „Die .objektive Welt' ,geht ihren eigenen Gang,' und die Praxis des Menschen, die diese objektive Welt vor sich hat, begegnet .Hindernissen bei der Ausführung' des Zwecks, sie stößt sogar auf die .Unmöglichkeit.'"(50)

Die Theorie ist so zunächst Widerspiegelung des objektiven Prozesses auf der Grundlage der Praxis, aber auch mehr als nur Widerspiegelung, indem sie die Setzung von Zwecken ermöglicht. Sie ist zugleich rezeptiv (Widerspiegelung) und Antizipation objektiv möglicher Veränderungen: „Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nichl nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch."(51) Jede Erkenntnis ist für Lenin ein Schluß auf den Zusammenhang des objektiven Prozesses und enthält darin potentiell die Voraussicht seiner Entwicklung und der Bedingungen seiner Veränderung.(52) Im Konspekt zur Metaphysik des Aristoteles schreibt Lenin: „auch in der einfachsten Verallgemeinerung, in der elementarsten allgemeinen Idee ... steckt ein gewisses Stückchen Phantasie. (Vice versa: es ist unsinnig, die Rolle der Phantasie auch in der strengsten Wissenschaft zu leugnen .. .)."(53) Lenin verweist in diesem Zusammenhang auf ein von ihm in „Was tun?" ange- : führtcs Zitat über die Nützlichkeit von Träumen. Die objektive Phantasie, die antizipierende, zwecksetzende Funktion des Bewußtseins ermöglicht erst eine revolutionäre, auf Veränderung zielende Theorie und begründet die Bedeutung dieser Theorie, ohne die die Praxis ziellos wäre. Die Partei organisiert in Lenins Konzeption auf der Grundlage der revolutionären Theorie die revolutionäre Klasse zur zwecksetzenden, d.h. revolutionär verändernden Tätigkeit. Ohne diese Theorie, ohne diese Organisation, ohne diese Praxis machen die Massen keine Geschichte nach ihren Interessen, sondern werden von den herrschenden Interessen getrieben. Lenins vielzitierter Aphorismus, man könne Marx' „Kapital" nicht begreifen, ohne die ganze „Logik" Hegels durchstudiert und begriffen zu haben („Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen!")54 steht im Kontext der Darlegung des Schlusses und der mit ihm verbundenen wissenschaftlichen Voraussicht. Er identifiziert nicht die materialistische mit der Hegeischen Dialektik, sondern erinnert gegen ökonomistische Politik und mechanistischen Subjektivismus der II. Internationale an den praktisch-revolutionären Gehalt der Marxschen Theorie.

Die antizipierende Funktion der Theorie in ihrem Bezug auf die zwecksetzende Tätigkeit läßt den Übergang von der Theorie zur Praxis als notwendigen Sprung erscheinen; erst die Praxis kann in der Realisierung oder Unmöglichkeit der Zielsetzung die Wahrheit der Erkenntnis erweisen. Die Praxis ist daher „höher als die (theoretische) Erkenntnis, denn sie hat nicht nur die Würde des Allgemeinen, sondern auch der unmittelbaren Wirklichkeit."855) Der Praxis-Prozeß der Erkenntnis (Praxis - Theorie - Praxis) ist für Lenin ebenso widersprüchlich strukturiert wie auch das Bewußtsein, das rezeptiv (Widerspiegelung) und konstitutiv (Zwecksetzung) zugleich ist. Die Verwirklichung der Zielsetzungen in der gesellschaftlichen Praxis schafft die „wahrhaft seiende Objektivität,"(56) den gesellschaftlichen Prozeß als widersprüchliche Einheit von Naturprozeß und Praxis-Prozessen.

3. Der Rückbezug auf die „Logik des ,Kapital'"

Im Anschluß an die Lektüre der „Logik" Hegels finden sich in den „Philosophischen Heften" zahlreiche Verweise auf die „Logik des .Kapital.'"(57) Die Erfassung des methodischen Gerüsts der Marxschen Darstellung durch Lenin läßt sich anhand des bisher publizierten Materials nicht nachvollziehen, obwohl kein Zweifel besteht, daß Lenin das „Kapital" immer wieder gründlich studiert hatte und deshalb ein differenziertes methodisches Verständnis in die Lektüre der „Logik" einbringen konnte.(58) Das „Kapital" muß als der nächste theoretische Bezugspunkt der Leninschen Konzeption materialistischer Dialektik betrachtet werden. „Im ,Kapital' werden auf eine Wissenschaft Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie (man braucht keine drei Worte: das ist ein und dasselbe) des Materialismus angewendet, der,alles Wertvolle von Hegel übernommen und dieses Wertvolle weiterentwickelt hat."(59) Die „Logik des .Kapital"' ist daher nicht einfach Resultat der materialistischen Lektüre Hegels, einer „Umkehrung," sondern das entscheidende Paradigma des Bruchs materialistischer Dialektik mit aller bisherigen Philosophie, auch mit der Hegelschen Dialektik, von dem aus sich ihr „Kern" erst aneignen läßt,

Im „Kapital" liegt für Lenin die „Methode der Darstellung (resp. Erforschung) der Dialektik überhaupt"(60) vor, wobei er zwei Punkte besonders betont: den Bezug auf ein schon immer vorausgesetztes Verhältnis als Ausgangspunkt und die Erfassung des Ganzen und seiner Entwicklung über die Widersprüche als Triebkraft der Selbstbewegung. „Marx analysiert im .Kapital' zunächst das einfachste ... Verhältnis der bürgerlichen (Waren-) Gesellschaft: den Warenaustausch. Die Analyse deckt in dieser einfachsten Erscheinung ... alle Widersprüche (resp. die Keime aller Widersprüche) der modernen Gesellschaft auf. Die weitere Darstellung zeigt uns die Entwicklung ( sowohl das Wachstum als auch die Bewegung) dieser Widersprüche und dieser Gesellschaft ... von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende."(61) Dieses methodische Gerüst des „Kapital" ist für Lenin über die Analyse des Kapitalverhältnisses hinaus verallgemeinerbar, „denn die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft bei Marx ist nur ein spezieller Fall der Dialektik."(62)

Entsprechende Schritte zeichnet Lenin in den systematisch ausgerichteten Entwürfen „Plan der Dialektik (Logik) Hegels" und „Zur Frage der Dialektik" vor. In dem ersten Entwurf interpretiert er den Aufbau der Hegeischen „Logik" als eine „Verallgemeinerung der Geschichte des Denkens," den allgemeinen „Gang aller menschlichen Erkenntnis (aller Wissenschaft) überhaupt."(63) Der Zusammenhang der Kategorien und Begriffe ist für Lenin dadurch bestimmt, daß sich alle „Momente (Schritte, Stufen, Prozesse) der Erkenntnis ... in der Richtung vom Subjekt zum Objekt" bewegen, „wobei sie anhand der Praxis überprüft werden und durch diese Überprüfung zur Wahrheit (= absolute Idee) gelangen."(64) Das „Kapital" folgt diesem Gang, indem es sich auf die „Geschichte des Kapitalismus und die Analyse der sie resümierenden Begriffe"65 bezieht. Es deckt in der Ware ein soziales Verhältnis auf und verfolgt diesen Widerspruch in seiner Entwicklung und seinen Beziehungen durch eine „zweifache Analyse, eine deduktive und eine induktive - eine logische und eine historische (die Wertformen)."(66) Das Primat der Praxis in der materialistischen Dialektik und die Notwendigkeit des Bezugs auf die konkrete Wirklichkeit bei jedem Schritt der Ableitung von theoretischen Bestimmungen bestimmen diese zweifache Analyse.: „Die Überprüfung durch die Tatsachen resp. durch die Praxis findet hier bei jedem Schritt der Analyse statt."(67) In diesem Zusammenhang verweist Lenin auf den Übergang vom absoluten zum relativen Mehrwert, der in der gesellschaftlichen Entwicklung entscheidend durch den Kampf der Arbeiterklasse gegen die Verlängerung des Arbeitstages bestimmt ist.(68)

Lenin nennt damit Voraussetzungen, die materialistische Dialektik auch in einem logisch-kategorialen Zusammenhang darzustellen. Wenn Lenin von der Bewegung vom Subjekt zum Objekt, dem Praxis-Prozeß der Erkenntnis und Umgestaltung der Welt, ausgeht, stellt er ein neues Problem, das über den Aufweis dialektischer Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft hinausweist. Lenin intendiert eine Logik, in der die Formen der Erkenntnis „gehaltvolle Formen, Formen lebendigen, realen Inhalts ..., mit dem Inhalt untrennbar verbunden"(69) sein sollen. Ein entsprechender Typ der Logik, in dem die Erkenntnistheorie als Problem der Logik und Ontologie begriffen wird, liegt im Prinzip in der Hegeischen „Logik" vor. Diese Problemstellung nimmt Lenin auf, indem er fordert, daß die Kategorien der materialistischen Dialektik, wie z.B. die grundlegende Kategorie der Einheit der Gegensätze, als „Gesetz der Erkenntnis (und Gesetz der objektiven Welt)"(70) entwickelt werden sollen.

Dabei setzt Lenin voraus, daß es eine objektive Dialektik in Natur und Gesellschaft gibt, die eine solche Logik überhaupt erst ermöglicht. Der objektive Prozeß wird aber nicht auf einmal, sondern schrittweise aufgedeckt und reproduziert. Dieser Vorgang der Erkenntnis ist für Lenin das eigentliche philosophische Problem, das einen spezifischen Standpunkt der Verallgemeinerung und Zusammenfassung der objektiven dialektischen Gesetze verlangt, der mit der Bewegung vom Subjekt zum Objekt angegeben ist.

Andernfalls werden die dialektischen Kategorien, Begriffe und Gesetzmäßigkeiten als „Summe von Beispielen" vorgestellt, aber nicht in einen notwendigen philosophischen Zusammenhang gebracht.(71)

Lenins These, daß Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie ein und dasselbe sind, bezieht sich auf einen solchen neuen Typ der Logik, in der die Dialektik als Philosophie Theorie und Methode der Erkenntnis und Umgestaltung der Welt ist. Ihre Bestimmungen beziehen sich auf die Aufdeckung des Zusammenhangs objektiver Prozesse, ihre gedankliche Reproduktion und Veränderung, die in den Wissenschaften und der gesellschaftlichen Praxis konkret zu leisten ist, d.h. die Philosophie erfaßt sie nur in ihrer allgemeinsten logischen Form. Nur unter diesen Voraussetzungen sind Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie dasselbe, d.h. weder ist die Dialektik als Logik mit der objektiven Dialektik gleichzusetzen, noch ist sie mit der formalen Logik deckungsgleich.

Die Position in der Diskussion über die „Einheit" (ein Terminus, den Lenin vermeidet) von Dialektik, Logik, Erkenntnistheorie, die sie als widersprüchliche Einheit verstehen und in philosophische Spezialdisziplinen wie objektive Dialektik (Naturdialektik, historischer Materialismus), subjektive Dialektik (Logik, Methode) und Erkenntnistheorie (Widerspicgelungstheo-rie) aufspalten will,(72) geht an der Intention Lenins und der bei ihm vorausgesetzten Eingrenzung der philosophischen Problemstellung vorbei. „Die Dialektik ist eben die Erkenntnistheorie (Hegels und) des Marxismus."(73) Sie ist dann aber nicht objektive Dialektik als Naturdialektik und Geschichtsdialektik, sondern logische Verallgemeinerung des Praxis-Prozesses der Erkenntnis, der die objektive Dialektik erforscht und verändert.

4. Elemente der Dialektik

Lenin hat den systematischen Zusammenhang der materialistischen Dialektik selbst nicht umfassend dargestellt und begründet. Die wichtigsten Ansätze dazu finden sich in den „16 Elementen der Dialektik" im Kommentar zu Hegels Kapitel über die absolute Idee und in dem Fragment „Zur Frage der Dialektik." „Spaltung des Einheitlichen und Erkenntnis seiner widersprechenden Bestandteile ... ist das Wesen ... der Dialektik."(74) „Die Dialektik kann kurz als die Lehre von der Einheit der Gegensätze bestimmt werden. Damit wird der Kern der Dialektik erfaßt sein, aber das muß erläutert und weiterentwickelt werden."(75) Die Kategorie des Widerspruchs, der Einheit der Gegensätze, ist die grundlegende Kategorie materialistischer Dialektik. Der Widerspruch ist Triebkraft objektiver Prozesse und die Beziehungen der Widersprüche in ihrer Entwicklung bestimmen deren Struktur. Die Praxis als zwecksetzende Tätigkeit ist der Widerpruch zum Naturprozeß und bewegt sich im Widerspruch von Sein und Bewußtsein, Theorie und Praxis. Ebenso ist das Bewußtsein oder die Theorie widersprüchlich in ihrer Beziehung zur Praxis, nämlich zugleich rezeptiv und konsumtiv. Die Einheit der Gegensätze ist das grundlegendste und allgemeinste Gesetz der Erkenntnis und der objektiven Welt und in allen Natur- und Gesellschaftswissenschaften aufzuweisen, wie es Lenin an elementaren Beispielen deutlich macht.(76) Die Forderung, das Einheitliche zu spalten, ist nichts anderes als die Forderung, das schon immer gegebene Verhältnis als Ausgangspunkt der Erkenntnis und der Praxis zu erlassen.

Wie ist aber die Einheit der Gegensätze zu verstehen? Der Prototyp der Einheit der Gegensatz ist für Lenin das Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen, das sich in jedem beliebigen, nicht tautologischen Satz aufzeigen läßt: „die Blätter des Baumes sind grün; Iwan ist ein Mensch; Shutschka ist ein Hund u. dgl. Schon hierin ist (wie Hegel genial bemerkt hat) Dialektik: Einzelnes ist Allgemeines."(77)' Tautologisch wären dagegen formallogisch nach dem Satz der Identität (A = A) aufgebaute Sätze: Iwan ist Iwan usw. Das Einzelne ist das real Existierende in seiner unaufhebbaren Besonderheit, das Allgemeine der Zusammenhang dieses Einzelnen in der Totalität seiner Beziehungen, in diesem Falle seine Zugehörigkeit zu einer Spezies (Mensch, Hund). Dieses Allgemeine existiert nicht als „Mensch" oder „Hund" schlechthin, sondern nur im Einzelnen und durch das Einzelne. „Somit sind die Gegensätze (das Einzelne ist dem Allgemeinen entgegengesetzt) identisch: das Einzelne existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen führt. Das Allgemeine existiert nur im Einzelnen, durch das Einzelne. Jedes Einzelne ist (auf die eine oder andere Art) Allgemeines. Jedes Allgemeine ist (ein Teilchen oder eine Seite oder das Wesen) des Einzelnen. Jedes Allgemeine umfaßt nur annähernd alle einzelnen Gegenstände. Jedes Einzelne geht unvollständig in das Allgemeine ein usw. usw. Jedes Einzelne hängt durch Tausende von Übergängen mit einer anderen Art Einzelner (Dinge, Erscheinungen, Prozesse) zusammen usw."(78)

Schon aus diesen Ausführungen wird deutlich, daß für Lenin das Einzelne in seiner Besonderheit unaufliebbar ist und daher nicht vollständig in das Allgemeine eingeht, während das Allgemeine nur im Einzelnen existiert. Die Identität der Entgegensetzung ist daher partiell und relativ, die Nichtidentität absolut. „Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist."(79) Die Einheit der Gegensätze ist daher nichts anderes als der Zusammenhang der Entgegengesetzten in einer Totalität, als AIIgemeines die Determination des Einzelnen durch den Zusammenhang des Ganzen. Das heißt aber, daß das Einzelne in seiner Besonderheit nicht in der Vollständigkeit seiner Bestimmungen durch das Ganze determiniert wird, sondern seine Besonderheit erhält und sich auf der Grundlage seiner Determination relativ selbständig entwickelt. Eine solche Struktur der Totalität hatte Lenin in seiner konkreten Analyse vorausgesetzt.

Die Bedeutung dieser Bestimmungen für den materialistischen Charakter der Dialektik wird deutlich, wenn man sie auf die idealistische Dialektik Hegels zurückbezieht. Unter der Voraussetzung des reinen Denkens ist die Unmittelbarkeit oder die Identität der Ausgangspunkt; der Widerspruch geht zugrunde und das Einzelne oder Besondere wird in der Vollständigkeit seiner Bestimmungen aus dem Allgemeinen entwickelt. Der Bruch Lenins mit dieser Konzeption wird in der Beziehung der 16 Elemente der Dialektik auf Hegels Darstellung der absoluten Methode deutlich. Hegel geht aus von der Unmittelbarkeit des Allgemeinen, das sich als konkrete Totalität, d.h. Einheit ihrer Entgegengesetzten bestimmt. Lenin setzt an dem Punkt an, wo Hegel schreibt, daß das „anfängliche Allgemeine aus ihm selbst als das Andre seiner sich bestimmt,"(80) wodurch der Widerspruch der einfache Widerspruch der Totalität, des Allgemeinen mit sich ist. Lenin bezieht aber die Struktur des Widerspruchs wie selbstverständlich sofort auf das Einzelne als Element der Totalität, der Widerspruch ist „im Ding selbst"81 und die Totalität ist „die ganze Totalität der mannigfaltigen Beziehungen dieses Dinges zu den anderen."(82)

Die Reihenfolge der Elemente der Dialektik verdeutlicht Lenins Totali-tätsbegriff: i. Objektivität der Betrachtung des Dinges; 2. Die Totalität der Beziehungen dieses Dinges zu den anderen Dingen; 3. Die Entwicklung dieses Dinges; 4. Die innerlich widersprechenden Tendenzen in diesem Ding; 5. Das Ding als „Summe und Einheit der Gegensätze"(83); 6. Der Kampf dieser Gegensätze. Das Gegebensein eines Verhältnisses, einer konkreten Totalität, ist die Voraussetzung materialistischer Dialektik. Als Konkretes ist es die Einheit seiner widersprechenden Elemente, deren Beziehungen die Totalität bilden. Es ist daher ausgehend vom Einzelnen, dessen Widersprüchen und Beziehungen zu erkennen. Das Einzelne entwickelt sich auf der Grundlage seines inneren Widerspruchs und geht dabei Beziehungen zu allen anderen Dingen ein. Diese Beziehungen bilden die Struktur oder den Zusammenhang des Ganzen und determinieren ihrerseits das Einzelne, ohne es in seiner Besonderheit aufzuheben. Die Erkenntnisbewegung, die die Beziehungen der Elemente des Ganzen aufdeckt und als konkrete Totalität reproduziert, ist als „Vereinigung von Analyse und Synthese - das Zerlegen in einzelne Teile und die Gesamtheit, die Summierung dieser Teile"(84) zu bestimmen. Diese Bewegung vollzieht sich entsprechend der Entwicklung des objektiven Prozesses. Die Entwicklung des Widerspruchs in dem Ding kann seine Beziehungen zu den anderen Dingen verändern, wie umgekehrt seine Determination durch das Ganze das Ding verändern kann. Dieses dialektische Determinationsverhältnis bestimmt die Entwicklung des Ganzen und seiner Elemente als einen komplex strukturierten Prozeß des Ineinanderübergehens aller Bestimmungen, wie Quantität in Qualität usw. Dieses von Engels zu den drei Grundgesetzen der Dialektik gerechnete Gesetz erscheint hier in einem abgeleiteten Zusammenhang als Beispiel zum Ineinanderübergehen von Bestimmungen. Als ein zweites Beispiel nennt Lenin die Dialektik von Inhalt und Form, „Kampf des Inhalts mit der Form und umgekehrt. Abwerfen der Form, Umgestaltung des Inhalts."(85) Ebenso ist die Negation der Negation, von Lenin als „scheinbare Rückkehr zum Alten"(86) verstanden, in seiner Konzeption eine aus der grundlegenden Kategorie des Widerspruchs abgeleitete Bestimmung. In der Konsequenz ist damit der revolutionäre Gehalt der materialistischen Dialektik, die Erkenntnis der Möglichkeit und Notwendigkeit der Höherentwicklung und Veränderung der objektiven Welt zum Ausdruck gebracht.

Entscheidender als diese schon von Engels hervorgehobene Funktion einer Dialektik, die sich durch nichts imponieren läßt, ist jedoch Lenins Versuch, in einem philosophischen Zusammenhang das Verfahren der konkreten Analyse als Bestandteil des revolutionären Prozesses zu verallgemeinern. Als die zentralen Punkte, an denen in Lenins Konzeption die praktisch-politische Bedeutung der philosophische Bestimmungen hervortritt, sind der Totalitätsbegriff und die Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis anzusehen.

Die Konsequenzen der Leninschen Konzeption wären noch weiter zu entwickeln, indem man sie wiederum auf sein Verfahren der konkreten Analyse und die darin vorgenommenen Unterscheidungen qualitativ verschiedener Formen des Widerspruchs beziehen würde. Lenin weist später ausdrücklich darauf hin, daß „Antagonismus und Widerspruch ... durchaus nicht ein und dasselbe" sind,(87) also antagonistische und nichtantagonistische Widersprüche zu unterscheiden sind. Ebenso wäre die systematische Bedeutung des von Lenin eingeführten Begriffs „Hauptwiderspruch" zu klären. Lenin hat eine solche Theorie der Besonderheit des Widerspruchs nicht entwickelt, seine durchgearbeitete philosophische Konzeption bleibt dabei stehen, die Allgemeinheit des Widerspruchs als Besonderen zu bestimmen und er vollzieht von dort unmittelbar den „Sprung" in die konkrete historisch-gesellschaftliche Analyse der für die Praxis relevanten Widersprüche des Imperialismus. Die Konzeption materialistischer Dialektik gibt ihm dabei die Methode der praxisorientierten Analyse an die Handi sie entsprechend auf der Ebene der Philosophie thematisiert und in ihren Grundlagen entwickelt zu haben, ist Lenins Verdienst und das Entscheidende seines Beitrags zur Philosophie des Marxismus. Die Grenzen dieser Konzeption liegen darin, daß Lenin sie ausschließlich in der Auseinandersetzung mit der Philosophie entwickelte. Hätte er darüber hinaus seine eigene Theorie-Praxis im Hinblick auf die Theorie materialistischer Dialektik aufgearbeitet, wäre er zweifellos zu weitreichenderen Bestimmungen im Sinne einer Theorie der Besonderheit des Widerspruchs vorgestoßen. Darin und in der bei Lenin trotz vieler Hinweise noch ausstehenden Erfassung des kategorialen Zusammenhangs materialistischer Dialektik liegt die Notwendigkeit, im Anschluß an Lenin über Lenin hinauszugehen.

Anmerkungen

1) Stalin, Fragen des Leninismus, S. 23-24.

2) Pannekoek, Lenin als Philosoph; darin auch der Beitrag von Korsch, „Zur Philosophie Lenins."

3) Hier ist insbesondre auf die Lenin-Kritik der „Frankfurter Schule" zu verweisen.

4) Deborin/Bucharin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, S. 321. Es handelt sich um eine Resolution der Parteizelle des Instituts der Roten Professur für Philosophie und Naturwissenschaft in Moskau vom 29.12.1930.

5) Das gilt sowohl für die entgegengesetzten Dialektik-Modelle in China und der UdSSR wie auch für die Vielfalt von Positionen im sowjetischen Diskussionszusammenhang. Dazu Kursanow (Red.), Geschichte der marxistischen Dialektik, Die Leninsche Etappe.

6) Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie.

7) Kursanow (Red.), Geschichte der marxistischen Dialektik; Rosenta! (Red.), Lenin als Philosoph.

8) Das heißt nicht, daß Lenins Texte nicht auch auf ihre politische Bedeutung hin untersucht werden, ihre politische Funktion in der konkreten Situation ihrer Entstehung wird aber nicht zum Ausgangspunkt der Interpretation gemacht.

9) Lenin, „Was sind die,Volksfreunde,'" Werke, vol. i, S. 301.

10) Lenin, „Was tun?" Werke, vol. 5, S. 379.

11) Lenin, „Der Briefwechsel zwischen Kar! Marx und Friedrich Engels," Werke, vol. 19, S. 548-554.

12) Lenin, „Karl Marx," Werke, vol. 21, S. 64.

13) Lenin, „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland," Werke, vol. 3.

14) Lenin, „Was sind die .Volksfreunde,"' Werke,vq\. 1,8.267.

15) Ebenda. Die verschiedenen Arten der Hervorhebung in den Werken Lenins werden hier und im Folgenden durch Kursivdruck wiedergegeben.

16) a.a.O., S. 158.

17) a.a.O., S. 156-157.

18) Plechanov (Plechanow), Zur Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung; Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte; Beiträge zur Geschichte des Materialismus.

19) Diese Position Lenins findet sich in den Beiträgen zum III. Parteitag der SDAPR (Werke, vol. 8, S. 355-421) und folgenden Schriften: Lenin, „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution," Werke, vol. 9, S. 1-130; „Schlußwort zur Agrarfrage," Werke, vol. 10, S. 279-289; „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland," Vorwort zur zweiten Auflage, Werke, vol. 3, S. 17-21; „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution," Werke, vol. 13,8. 213-437.

20) Lenin, „Die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft," Werke, vol. 8, S. 292.

21) Lenin, „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland," Vorwort zur zweiten Auflage, Werke, vol. 3, S. 18. 11 Lenin, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück," Werke, vol. 7, S.416.

23) Lenin, „Über die Aufgaben der SDAPR in der russischen Revolution," Werke, vol. 23,S.369.

24) Lenin, „Der Zusammenbruch der II. Internationale," Werke, vol. 21, S. 211.

25) Lenin, „Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR," Werke, vol. 10, S. 346.

26) Lenin, „Vorwort zur russischen Übersetzung der Briefe von K. Marx an L. Kugelmann," Werke, vol. 12, S. 99.

27) Lenin, „Vorwort zu N. Bucharins Broschüre .Weltwirtschaft und Imperalsmus,'" Werke, vol. 22, S. 103.

28) "a.a.O., S. 106.

29) Lenin, „Staat und Revolution," Werke, vol. 25, S. 393-507; Marxismus und Staat.

30) Lenins Briefwechsel mit Gorkij (Briefe vol. 2) in den Jahren 1907-1909 zeigt die ideologischen und politischen Voraussetzungen und Intentionen von „Materialismus und Empiriokritizismus" am deutlichsten auf.

31) Lenin, Briefe, vol. 2, S. 135-144.

32) Lenin, „Materialismus und Empiriokritizismus," Werke, vol. 14,8.99.

33) a.a.O., p. 129; zum MateriebegrilF p. 127; zur Praxis S. 132-138.

34) Lenin, „Materialismus und Empiriokritizismus," Werke, vol. 14,8. 131.

35) Althusser, Lenin und die Philosophie; Lecourt, Lenins philosophische Strategie.

36) Lenin, „Philosophische Hefte," Werke, vol. 38.

37) Lenin,„Karl Marx," Werke,vol. 21,8. 31-80.

38) Lenin, Konspekt zum Briefwechsel zwischen Marx und Engels.

39) Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, S. 333.

40) Lenin, „Staat und Revolution," Werke, vol. 25, S. 397.

41) Lenin, „Philosophische Hefte", Werke, vol. 38, S. 94.

42) a.a.O., S. 131.

43) a.a.O., S. 339.

44) a.a.O., S. 339.

45) a.a.O., S. 340.

46) a.a.O., S. 137

47) Ebenda.

48) a.a.O., S. 226.

49) a.a.O., S. 178.

50 a.a.O., S. 205.

51) a.a.O., S. 203.

52) a.a.O., S. 170

53) a.a.O., S. 353

54) a.a.O., S. 170

55) a.a.O., S. 204

56) a.a.O., S. 210

57) a.a.O., S. 316

58) Biblioteka V. I. Lenina v Kremle, Katalog. Darin sind die verschiedenen, in Lenins Besitz befindlichen Ausgaben des „Kapital" verzeichnet, die durchweg Anstreichungen und Randbemerkungen aufweisen sollen.

59) Lenin, Philosophische Hefte, Werke, vol. 38, S. 316.

60) a.a.O., S. 340

61) Ebenda. ,

62) Ebenda

63)  a.a.O., S. 315

64) a.a.O., S. 316.

65) a.a.O., S. 319.

66) Ebenda.

67) Ebenda.

68) a.a.O., S. 316.

69) a.a.O., S. 84.

70) a.a.O., S. 338-

71) Ebenda.

72) Sandkühler, Praxis und Geschichtsbewußtsein; Kumpf, Probleme der Dialektik in Lenins Imperialismusanalyse; Kopnin, Dialektik, Logik, Erkenntnistheorie.

73) Lenin, „Philosophische Hefte," Werke, vol. 38, S. 343.

74) a.a.O., S. 338. 'a.a.O., S. 214.

76) a.a.O., S. 338. .

77) a.a.O., S. 340.

78) Ebenda.

79) a.a.O., S. 339.

80) Hegel, Logik, vol. i, S. 557.

81) Lenin, „Philosophische Hefte," Werke, vol. 38, S. 212.

82) a.a.O., S. 213.

83) Ebenda. ...-•. "* Ebenda. .

85) a.a.O., S. 214.

86) Ebenda.

87) Lenin, „Zamecanija na knigu N. I. Bucharina .Ekonomika perechodnogo perioda,'" Leninskij sbornik, vol. 11, S. 257.

 

 

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 4. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 85-106

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