Montag, den 30.01.06
Am Freitag wurden wieder 3
Leute entlassen. Schon da gute Gespräche, selbst mit dem
Abteilungsleiter über die Bestätigung marxistischer Kritik.
Jetzt sind wir nur noch ein Handvoll und die Angst
grassiert, auch in anderen Abteilungen.
(Auch wegen der Produktionsverlagerung nach China)
Jetzt ist es kurz nach 11 Uhr und ich war bis jetzt
unterwegs als "Sozialarbeiter",
"Betriebsrat ohne Amt", "Propagandist". Zur Arbeit bin ich noch
nicht gekommen, oder nur ein wenig.
Aus all den Gesprächen, die ich
führe, mit einzelnen Kolleginnen und Kollegen, kleinen Gruppen,
lerne ich wieder viel. Sie reizen mich zu
theoretischer Reflexion und ich überprüfe, mit welchen
Argumenten ich weiter komme und mit
welchen nicht.
Als "Propagandist":
Mit 3 Kollegen über die ökonomische Entwicklungstendenz der
Gesellschaft diskutiert. Was ist,
was kann man machen? Share-Holder-Kapitalismus,
Fall der Profitrate und Investitionen. "Flucht" des
Kapitals ins Ausland usw.
Meine Linie:
Kritik des Privateigentums, Vergesellschaftungsperspektive
(anknüpfend ans Grundgesetz und der
Möglichkeit der Vergesellschaftung, wenn das
Kapital seiner ?sozialen? Verpflichtung nicht nachkommt,
sprich das Privateigentum versagt. Das
ganze ergänzt durch den Hinweis, dass es
keine nationalen Lösungen gibt (internationale Arbeitsteilung am
Beispiel Auto, Teile aus vielen Ländern), es sei denn man will
die "deutschen" sozialen Probleme
nationalistisch auf Kosten anderer
Nationen lösen, bis hin zum Krieg. (Ich spüre natürlich wie die
"blitzsauberen" Kritiker die Nase rümpfen, bei der
Berufung auf das
Grundgesetz. Aber sowas stört mich schon lange nicht mehr, wenn
ich Leute dazu kriege,
Vergesellschaftung nicht einfach abzulehnen und
zuzuhören.)
Außerdem:
Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Dem Kapital trotzen, dass
es ihm weh tut. Beispiel Opel und
die Zugeständnisse von GM, Beispiel
AEG und das Gesprächsangebot von Elektrolux. Es lohnt sich in
jedem Fall! Diskussion über einen
fehlenden Betriebsrat und die Konkurrenz
unter den KollegInnen. Das alles lief
sehr gut und ich bin gut rübergekommen.
"Betriebsrat ohne Amt":
Einer der Entlassenen kam zu mir und fragte mich, was er machen
solle. Er hätte von anderen gehört,
ich würde einen guten Anwalt kennen. Er sei
im Rechtschutz und wollte wenigstens prüfen lassen, ob
alles ok ist. Auch er kam natürlich nicht
davon, ohne sich meine Kritik anhören zu
müssen und natürlich gab ich ihm die Telefonnummer und Adresse
von einem ausgezeichneten, sozial
engagierten Anwalt.
"Sozialarbeiter":
Ein anderer der Entlassenen kam zu mir und druckste etwas
rum. Dann, er sei jetzt 49 und für
ihn "sei die Sache wohl gelaufen". Bedrückt und
resigniert. In der Vergangenheit gehörte er zu denen, die
auch nur bei einem sanften Ansatz zu
Kapitalismuskritik mir vorhielt: "Ah jetzt
kommen wieder Deine Klassenkampfparolen." auch wenn davon
noch gar nicht die Rede war. Jetzt
hörte er mir zu. Ich habe aber auch
versucht, ihn etwas aufzubauen. Er sei schließlich
sehr qualifiziert, was er tatsächlich ist, und er solle
die Flinte nicht ins Korn werfen.
Fast alle Entlassenen hätten noch etwas gefunden.
Aufgeben ist immer Scheiße.
Das alles sind Erfahrungen, die ich nicht das erste Mal mache.
Irgendwann kippt das Ganze und es
finden völlig andere Diskussion statt.
Vor 4 Jahren wären solche Diskussionen, die ich jetzt fast jeden
Tag führe, nicht möglich gewesen. Ich
wäre vor eine Wand des ideologischen
Antikommunismus gelaufen! Man muss einen langen Atem und Geduld
haben.
Man kann nicht alles in jeder Situation sagen. Tut man es doch,
läuft man mit dem Kopf vor die Wand. Aber
die Wirklichkeit ist ein guter
Lehrmeister und wenn man sich dann seine Argumentationen gut
zurecht gelegt hat, halbwegs belesen und
informiert ist, auf Phrasen verzichtet,
dann hören die Leute zu und man bekommt auch Zustimmung, wo man
sie nicht erwartet hätte. Dies
alles im kleinen erlebt, bringt noch nicht
wirklich viel, aber es bereitet die Dinge im Großen vor.
Es zeigt, dass sich was tut und dass man
intervenieren kann, die Offenheit für anderes
Denken sich entwickelt und man nicht vor die Wand laufen
muss. Wem das alles nicht genug ist, wer
nicht warten kann und sich nicht für die
Situationen rüstet, der kann genau so gut aufhören. Das Kapital
arbeitet uns objektiv zu, aber den subjektiven Rest
müssen wir erledigen, unter Verzicht auf
Dogmatismus, und durch nachvollziehbare lebendige
Kritik etc.
Der Tag fing gut an!
Am Mittagstisch ging es mit 2 Kollegen aus dem technischen
Einkauf weiter: Hauptthema war
diesmal die "Zusammenbruchstendenz" des Kapitals,
natürlich nicht unter dieser Überschrift. Aber es wurde
lebhaft diskutiert, ob Zerschlagung von
produzierenden Unternehmen, Vermehrung
von Geld und vor allem Wertpapieren ohne Produktion auf Dauer
gut gehen kann. Ich lerne dabei auch
immer etwas, weil die Kollegen auch was
wissen, z. B. über Veränderungen in der betriebswirtschaftlichen
Kostenrechnung bzw. die Kenne
davon, das abstruse "reporting" für die
Börse, etc..
Den Rest der Mittagspause verbringe ich dann im Internet und
finde (Heise online-Ticker) die
Nachricht, dass dem SAP-Chef die
Software-Programmierer in Indien zu teuer geworden sind. SAP
will weiter ziehen nach China. Hat aber
Sorge, weil dort "geistiges Eigentum" nicht
geachtet wird! Wie schön!
Ausdrucken und rumlaufen! Ich verbreite die Nachricht, dass ein
Hoffnungsschimmer besteht. Hinter
China liegt nur noch der Pazifik! Weiter
kann das Kapital nicht ziehen! Entweder wir saufen alle ab oder
es wird durchgeschwommen und das Kapital beginnt in den
USA von vorne! Der Galgenhumor kennt
keine Grenzen mehr! Die Stimmung schwankt zwischen
Lust auf beißende Kritik, bedrückender Resignation und
eben Galgenhumor!
An einem Tag wie heute, habe ich auch mein theoretisches
Rüstzeug überprüft! Das mache ich
immer und komme damit voran. Wie kann man mit
den Leuten grundsätzliche Kapitalismuskritik und
sozialrevolutionäre Perspektiven
diskutieren, ohne gleich gegen einen diffusen Antikommunismus
angehen zu müssen? Grundsätzlich ist Offenheit da, wenn
das Privateigentum sich in Frage stellt.
Zwei Beispiele:
1. Betriebswirtschaftlichen Kostenrechnung
Habe mir vorgenommen, die Sache näher ins Visier zu
nehmen. Mit manchen Dingen kann man
hervorragend arbeiten und ich glaube, es hat auch
theoretische Relevanz. Etwa der Break-Even-Point (der
Umsatz bis zur Kostendeckung) und der
Profit als unbezahlte Mehrarbeit, aus dem Umsatz
der Waren, die über diesen Punkt hinaus verkauft werden.
Von wegen "alle Arbeit ist bezahlt".
Klar, in der Kostendeckung sind auch die Overhead-Kosten
enthalten, also wirkliche unbezahlte Mehrarbeit fängt
viel früher an. Aber man kann sehr konkret, in der
Sprache der Ökonomie mit Erfolg argumentieren, und zeigen, dass
der Profit auf nicht bezahlter Arbeit
beruht. Er beginnt eben da, wo die Kosten durch den
Umsatz gedeckt sind. Nur die
Arbeit, die die Menge Waren erzeugt deren
Verkauf Geld einbringt, dass über die Kosten hinausgeht, schafft
den Profit. Und diese Arbeit ist nicht
bezahlt!
Daran anknüpfend lässt sich vielleicht auch sehr gut mit den
fixen und variablen Kosten
argumentieren, auch wenn die Ökonomie etwas anderes
darunter versteht, als deren Kritiker Marx. Man kann aber
auch in diesem Zusammenhang zeigen,
besonders auf der Basis unserer Erfahrung, dass der
Break-Even-Point nicht mehr zu erreichen ist, wenn die
variablen Kosten (vor allem
"Personalkosten") unter ein gewisses Niveau sinken. Bei
abnehmenden Personalkosten muss die Produktivät entsprechend
steigen, wenn bei steigenen Fixkosten der
Break-Even-Point überschritten werden
soll. Dieser Produktivitätszuwachs läßt sich aber immer
schwieriger erreichen. .... (konkrete
Erfahrungen) Der Frage muss ich unbedingt
konkreter nachgehen! Die Diskussion am Mittagstisch mit den
Einkäufern war interessant!
2. Stichwort
Vergesellschaftung:
Hinweis darauf, dass das Grundgesetz Vergesellschaftung
vorsieht, vor dem Hintergrund der
Erfahrung der Weltwirtschaftskrise, kommt gut! Auch
Hinweis auf Ahlener Programm der CDU wirkt! (Historischer
Zusammenhang des Zusammenbruchs wichtig!)
Im Artikel 14 GG steht der denkwürdige
Satz, dass das Eigentum verpflichtet! Man nennt das auch die
soziale
Bindung des Eigentums! Hervorragend! Was also tun, wenn das
Privateigentum, ob gewollt oder nicht, sozial versagt? Das
Grundgesetz sagt: Enteignen! Prima! Wer
nicht dogmatisch verblödet ist, kann damit
arbeiten, ohne die Vergesellschaftung im Namen der
Verwirklichung dieses abstrakten Rechts
zu fordern. Es geht um Annäherung! Die Frage der Vergesellschaftung
muss "pragmatisch" nicht "ideologisch" diskutiert
werden, wie es unsere Politiker
verlangen! Womit ich wieder bei der
Wasserwirtschaft wäre, um zeigen zu können, dass geplante
Wirtschaft nicht gleich Mangel und
schlechter Qualität ist. Das ist
natürliche alles nur so rasch runtergeschrieben und wird den
Kämpfern um die richtige Linie ein Graus sein. Ich
arbeite dran, dass es auch theoretisch
halbwegs sauber wird.
Ach ja, kapitalproduktiv
gearbeitet habe ich heute auch noch und eine kleine
Projekt-Dokumentation fertig gestellt.
Editorische Anmerkungen
Peter
Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine
Kommentare zum Zeitgeschehen.
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