Peter Trotzig Kommentare zum Zeitgeschehen

Kein Tag wie jeder andere!
Veränderte gesellschaftliche Praxis oder wenn das Kapital sich selbst in  Frage stellt, protokollarische Notizen
02/06

trend
onlinezeitung


Montag, den 30.01.06

Am Freitag wurden wieder 3 Leute entlassen. Schon da gute Gespräche, selbst mit dem Abteilungsleiter über die Bestätigung marxistischer Kritik. Jetzt sind wir nur noch ein Handvoll und die Angst grassiert, auch in anderen Abteilungen. (Auch wegen der Produktionsverlagerung nach China) Jetzt ist es kurz nach 11 Uhr und ich war bis jetzt unterwegs als "Sozialarbeiter", "Betriebsrat ohne Amt", "Propagandist". Zur Arbeit bin ich noch nicht gekommen, oder nur ein wenig.

Aus all den Gesprächen, die ich führe, mit einzelnen Kolleginnen und Kollegen, kleinen Gruppen, lerne ich wieder viel. Sie reizen mich zu theoretischer Reflexion und ich überprüfe, mit welchen Argumenten ich weiter komme und mit welchen nicht.

Als "Propagandist":
Mit 3 Kollegen über die ökonomische Entwicklungstendenz der Gesellschaft  diskutiert. Was ist, was kann man machen? Share-Holder-Kapitalismus, Fall der Profitrate und Investitionen. "Flucht" des Kapitals ins Ausland usw.

Meine Linie:
Kritik des Privateigentums, Vergesellschaftungsperspektive (anknüpfend  ans Grundgesetz und der Möglichkeit der Vergesellschaftung, wenn das Kapital seiner ?sozialen? Verpflichtung nicht nachkommt, sprich das Privateigentum versagt. Das ganze ergänzt durch den Hinweis, dass es keine nationalen Lösungen gibt (internationale Arbeitsteilung am
Beispiel Auto, Teile aus vielen Ländern), es sei denn man will die  "deutschen" sozialen Probleme nationalistisch auf Kosten anderer Nationen lösen, bis hin zum Krieg. (Ich spüre natürlich wie die "blitzsauberen" Kritiker die Nase rümpfen, bei der Berufung auf das
Grundgesetz. Aber sowas stört mich schon lange nicht mehr, wenn ich  Leute dazu kriege, Vergesellschaftung nicht einfach abzulehnen und zuzuhören.)

Außerdem:
Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Dem Kapital trotzen, dass  es ihm weh tut. Beispiel Opel und die Zugeständnisse von GM, Beispiel  AEG und das Gesprächsangebot von Elektrolux. Es lohnt sich in jedem Fall! Diskussion über einen fehlenden Betriebsrat und die Konkurrenz unter den KollegInnen. Das alles lief sehr gut und ich bin gut rübergekommen.

"Betriebsrat ohne Amt":
Einer der Entlassenen kam zu mir und fragte mich, was er machen solle.  Er hätte von anderen gehört, ich würde einen guten Anwalt kennen. Er sei  im Rechtschutz und wollte wenigstens prüfen lassen, ob alles ok ist. Auch er kam natürlich nicht davon, ohne sich meine Kritik anhören zu müssen und natürlich gab ich ihm die Telefonnummer und Adresse von einem ausgezeichneten, sozial engagierten Anwalt.

"Sozialarbeiter":
Ein anderer der Entlassenen kam zu mir und druckste etwas rum. Dann, er  sei jetzt 49 und für ihn "sei die Sache wohl gelaufen". Bedrückt und resigniert. In der Vergangenheit gehörte er zu denen, die auch nur bei einem sanften Ansatz zu Kapitalismuskritik mir vorhielt: "Ah jetzt kommen wieder Deine Klassenkampfparolen." auch wenn davon noch gar nicht  die Rede war. Jetzt hörte er mir zu. Ich habe aber auch versucht, ihn etwas aufzubauen. Er sei schließlich sehr qualifiziert, was er tatsächlich ist, und er solle die Flinte nicht  ins Korn werfen. Fast alle Entlassenen hätten noch etwas gefunden. Aufgeben ist immer Scheiße.
Das alles sind Erfahrungen, die ich nicht das erste Mal mache.  Irgendwann kippt das Ganze und es finden völlig andere Diskussion statt. Vor 4 Jahren wären solche Diskussionen, die ich jetzt fast jeden Tag führe, nicht möglich gewesen. Ich wäre vor eine Wand des ideologischen Antikommunismus gelaufen! Man muss einen langen Atem und Geduld haben.
Man kann nicht alles in jeder Situation sagen. Tut man es doch, läuft man mit dem Kopf vor die Wand. Aber die Wirklichkeit ist ein guter Lehrmeister und wenn man sich dann seine Argumentationen gut zurecht gelegt hat, halbwegs belesen und informiert ist, auf Phrasen verzichtet, dann hören die Leute zu und man bekommt auch Zustimmung, wo man sie  nicht erwartet hätte. Dies alles im kleinen erlebt, bringt noch nicht wirklich viel, aber es bereitet die Dinge im Großen vor. Es zeigt, dass sich was tut und dass man intervenieren kann, die Offenheit für anderes Denken sich entwickelt und man nicht vor die Wand laufen muss. Wem das alles nicht genug ist, wer nicht warten kann und sich nicht für die Situationen rüstet, der kann genau so gut aufhören. Das Kapital arbeitet uns objektiv zu, aber den subjektiven Rest müssen wir erledigen, unter Verzicht auf Dogmatismus, und durch nachvollziehbare  lebendige Kritik etc.

Der Tag fing gut an!
Am Mittagstisch ging es mit 2 Kollegen aus dem technischen Einkauf  weiter: Hauptthema war diesmal die "Zusammenbruchstendenz" des Kapitals, natürlich nicht unter dieser Überschrift. Aber es wurde lebhaft diskutiert, ob Zerschlagung von produzierenden Unternehmen, Vermehrung von Geld und vor allem Wertpapieren ohne Produktion auf Dauer gut gehen kann. Ich lerne dabei auch immer etwas, weil die Kollegen auch was
wissen, z. B. über Veränderungen in der betriebswirtschaftlichen  Kostenrechnung bzw. die Kenne davon, das abstruse "reporting" für die Börse, etc..
Den Rest der Mittagspause verbringe ich dann im Internet und finde  (Heise online-Ticker) die Nachricht, dass dem SAP-Chef die Software-Programmierer in Indien zu teuer geworden sind. SAP will weiter ziehen nach China. Hat aber Sorge, weil dort "geistiges Eigentum" nicht geachtet wird! Wie schön!
Ausdrucken und rumlaufen! Ich verbreite die Nachricht, dass ein  Hoffnungsschimmer besteht. Hinter China liegt nur noch der Pazifik! Weiter kann das Kapital nicht ziehen! Entweder wir saufen alle ab oder es wird durchgeschwommen und das Kapital beginnt in den USA von vorne! Der Galgenhumor kennt keine Grenzen mehr! Die Stimmung schwankt zwischen Lust auf beißende Kritik, bedrückender Resignation und eben Galgenhumor!
An einem Tag wie heute, habe ich auch mein theoretisches Rüstzeug  überprüft! Das mache ich immer und komme damit voran. Wie kann man mit den Leuten grundsätzliche Kapitalismuskritik und sozialrevolutionäre Perspektiven diskutieren, ohne gleich gegen einen diffusen Antikommunismus angehen zu müssen? Grundsätzlich ist Offenheit da, wenn
das Privateigentum sich in Frage stellt.

Zwei Beispiele:
1. Betriebswirtschaftlichen Kostenrechnung
Habe mir vorgenommen, die Sache näher ins Visier zu nehmen. Mit manchen  Dingen kann man hervorragend arbeiten und ich glaube, es hat auch theoretische Relevanz. Etwa der Break-Even-Point (der Umsatz bis zur Kostendeckung) und der Profit als unbezahlte Mehrarbeit, aus dem Umsatz der Waren, die über diesen Punkt hinaus verkauft werden. Von wegen "alle Arbeit ist bezahlt". Klar, in der Kostendeckung sind auch die  Overhead-Kosten enthalten, also wirkliche unbezahlte Mehrarbeit fängt viel früher an. Aber man kann sehr konkret, in der Sprache der Ökonomie mit Erfolg argumentieren, und zeigen, dass der Profit auf nicht bezahlter Arbeit beruht. Er beginnt eben da, wo die Kosten durch den  Umsatz gedeckt sind. Nur die Arbeit, die die Menge Waren erzeugt deren Verkauf Geld einbringt, dass über die Kosten hinausgeht, schafft den Profit. Und diese Arbeit ist nicht bezahlt!
Daran anknüpfend lässt sich vielleicht auch sehr gut mit den fixen und  variablen Kosten argumentieren, auch wenn die Ökonomie etwas anderes darunter versteht, als deren Kritiker Marx. Man kann aber auch in diesem Zusammenhang zeigen, besonders auf der Basis unserer Erfahrung, dass der Break-Even-Point nicht mehr zu erreichen ist, wenn die variablen Kosten (vor allem "Personalkosten") unter ein gewisses Niveau sinken. Bei abnehmenden Personalkosten muss die Produktivät entsprechend steigen, wenn bei steigenen Fixkosten der Break-Even-Point überschritten werden soll. Dieser Produktivitätszuwachs läßt sich aber immer schwieriger erreichen. .... (konkrete Erfahrungen) Der Frage muss ich unbedingt
konkreter nachgehen! Die Diskussion am Mittagstisch mit den Einkäufern war interessant!

2. Stichwort Vergesellschaftung:
Hinweis darauf, dass das Grundgesetz Vergesellschaftung vorsieht, vor  dem Hintergrund der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise, kommt gut! Auch Hinweis auf Ahlener Programm der CDU wirkt! (Historischer Zusammenhang des Zusammenbruchs wichtig!) Im Artikel 14 GG steht der denkwürdige Satz, dass das Eigentum verpflichtet! Man nennt das auch die soziale
Bindung des Eigentums! Hervorragend! Was also tun, wenn das Privateigentum, ob gewollt oder nicht, sozial versagt? Das Grundgesetz sagt: Enteignen! Prima! Wer nicht dogmatisch verblödet ist, kann damit arbeiten, ohne die Vergesellschaftung im Namen der Verwirklichung dieses abstrakten Rechts zu fordern. Es geht um Annäherung! Die Frage der  Vergesellschaftung muss "pragmatisch" nicht "ideologisch" diskutiert  werden, wie es unsere Politiker verlangen! Womit ich wieder bei der Wasserwirtschaft wäre, um zeigen zu können, dass geplante Wirtschaft nicht gleich Mangel und schlechter Qualität ist. Das ist natürliche alles nur so rasch runtergeschrieben und wird den Kämpfern um die richtige Linie ein Graus sein. Ich arbeite dran, dass es auch theoretisch halbwegs sauber wird.

Ach ja, kapitalproduktiv gearbeitet habe ich heute auch noch und eine  kleine Projekt-Dokumentation fertig gestellt.

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.