Alles unter einem Strohdach

Ein Bericht über den Beginn und die ersten Tage des Weltsozialforums im westafrikanischen Bamako von Bernhard Schmid.

02/06

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Stöckelschuhe! Mindestens ein Dutzend Paar Stöckelschuhe fallen polternd aus dem geöffneten Koffer der Dame, die in der Warteschlange vor mir steht. Ob es sich nun um Eigenbedarf handelt oder darum, sämtliche weiblichen Verwandten in Burkina Faso damit einzudecken - der Angestellte von Air Burkina ist sichtlich genervt, da Madame den Verkehr aufhält. Aber dann klappt es doch noch mit der Abfertigung, und ohne jede Verspätung hebt der Flieger in den grauen und verregneten Himmel über Paris-Orly ab. In den kommenden Flugstunden klart es endlich auf, und unten ziehen die rötlich-grauen Weiten der algerischen Sahara vorbei. Nach fünfeinhalb Stunden vernehme ich die Ansage zur Ankunft in Ouagadougou: „Die Außentemperatur beträgt 32° Grad“. Das hört man gerne.  

Eine gute Stunde Aufenthalt in einer kleinen Halle, die irgendwie an einen Bahnhof aus der Kolonialzeit erinnert, und dann geht es weiter in Richtung Bamako – die Betonung liegt auf dem „o“: „Bammakoh“ -, der Hauptstadt des westafrikanischen Nachbarlands Mali. Dort wird ab dem folgenden Tag, dem Donnerstag vergangener Woche, einer der drei Schauplätze des „Polyzentrischen Weltsozialforum“ liegen. Im vorigen Jahr hatten die Veranstalter des WSF, das seit 2001 alljährlich im brasilianischen Porto Allegre und 2005 erstmals an anderem Ort stattfand – in Bombay -, beschlossen, das Forum an mehreren Orten gleichzeitig abzuhalten. Denn viele Menschen aus Afrika oder Asien können es sich beispielsweise nicht leisten, für ein paar Tage nach Brasilien zu fliegen. So kam es zu der Idee, drei Veranstaltungsorte im Trikont zugleich festzuhalten. Es wurden Caracas, wo das WSF in dieser Woche eröffnet wird, Bamako und Karachi in Pakistan. Aufgrund der Auswirkungen der schweren Erdbebenkatastrophe im letzten Oktober wurde die pakistanische Ausgabe des Forums jedoch um zweite Monate verschoben. 

Keine Groβwildjagd für Bürokraten 

Vor dem Abflug sagte mir Matthieu, ein Genosse, der in der CGT-Gewerkschaft bei Air France tätig ist und einige Stunden vor mir nach Bamako gedüst ist: „Zum Glück hat Mali sich bei der Bewerbung um die Austragung des Sozialforums 2006 gegen Kenya, den anderen afrikanischen Kandidaten, durchsetzen können. Sonst hätten wir unsere gesamten CGT-Bürokraten gehabt, die sich plötzlich für das Weltsozialforum erwärmt hätten. So nach dem Motto: Drei oder vier Tage Debatten nimmt man notfalls in Kauf, wenn man dadurch einen guten Vorwand erhält, um – am besten auf Organisationskosten -  im Anschluss eine Woche Grobwildsafari in Kenya zu machen.“ Da Mali kein derart klassisches Touristenland ist wie der ostafrikanische Staat, sondern im allgemeinen eher Alternativtouristen anzieht, ist diese Gefahr erst einmal gebannt. In der Hoffnung, dass sie sich 2007 nicht realisieren möge, denn dann wird das – wiederum an einem einheitlichen Ort weltweit vereinigte – Weltsozialforum in Nairobi (Kenya) tagen. Aber tun wir den kenyanischen OrganisatorInnen nicht von vornherein Unrecht, zumal das Problem – falls es auftaucht – sicherlich nicht bei ihnen liegt...  

Das diesjährige Tagungsland Mali bot sich aus mehreren Gründen an: Es handelt sich um ein Land, dessen Gesellschaft die frühere Militärdiktatur (unter Moussa Traoré) der Jahre 1968 bis 1991 erfolgreich gestürzt hat und seitdem eine demokratische Blüteperiode erlebt, in dem zahlreiche Bürgeriniativen und NGOs aktiv sind. Gleichzeitig lassen sich anhand des Beispiels Mali viele der verheerenden Auswirkungen des dominierenden wirtschaftlichen Einflusses aus dem Nord – und daneben mittlerweile auch südafrikanischen Kapitals – und der unter anderem aufgrund des Drucks von IWF und Weltbank verfolgten Privatisierungspolitik ablesen. 

Ankunft im Unbekannten 

Unterwegs nach Bamako sieht man aufgrund der tropischen Wolkendecke nicht viel. Dann geht die Sonne am Tropenhimmel, wie in diesen Breitengraden üblich, plötzlich und schnell unter, als ob jemand sie ausgeknipst hätte. Es ist Nacht bei der Landung in Bamako. Es beginnt der Aufbruch ins Ungewisse, da ich keine Ahnung habe, ob ich noch ein Dach über dem Kopf erhalte  - und vor allem zu welchem Preis. Die Eröffnungszeremonie findet erst am kommenden Tag statt, aber vielleicht sind schon jetzt nur noch teurere Hotels zu haben, denn immerhin werden 30.000 Leute von den Veranstaltern erwartet. (Von ihnen werden 15.000 bis 20.000 kommen, so jedenfalls die Angaben der Veranstalter zum Abschluss - die dabei nicht mit Selbstkritik ob der organisatorischen Mängel sparten und einen überaus ehrlichen Gesamteindruck erweckten.) Doch in der Flughafenhalle wartet ein kleines Empfangskomitee vom WSF auf die anreisenden Teilnehmer. Haben Sie eine Reservierung für ein Hotel? Eine Herberge? Nein? Ich antworte der 40jährigen Frau, dass ich mich auf der Webpage des Sozialforums in Bamako eingetragen und die Option „Privatunterkunft in einer maliensischen Familie“ gewählt habe – das ist doch immer interessanter. Sofort schlägt Fatma Traoré ein und nimmt mich mit zu sich nach Hause.  

Die Witwe ist in einer Initiative für die Förderung von Frauen- und Kinderrechten aktiv und seit Juni ehrenamtlich in der Vorbereitung tätig. lebt mit ihren sechs Kindern, die schon in jugendlichem Alter sind, in einem typischen Wohngebiet: Ein- bis anderthalbstöckige Backsteinhäuser mit flachem Dach, die oft durch die Bewohner selbst errichtet wurden und aus deren Dach mitunter noch Eisenträger hervorstehen, für den Fall, dass man sie weiterbauen würde. In einem kleinen Hinterhof stehen Mangobäume, in denen brütende Turteltauben sitzen; Tamarind wird in kleinen Blumentöpfen gezogen. Die Straben sind zum Grobteil ungeteert, bis auf die Hauptverkehrsadern, auf denen mehr Minibusse und Motorräder sowie Motorroller als Autos verkehren. Wie ich erfahre, ist die starke Präsenz motorisierter Zweiräder ein Ergebnis der chinesischen Wirtschaftsoffensive in Afrika, da der Import gefälschter Yamaha-Motorräder den Preis gegenüber den japanischen Maschinen auf ein Viertel bis Fünftel reduziert hat. Verkehrsregel Nummer 1: Gefahren wird grundsätzlich ohne Sturzhelm (von vielleicht 0,3 % der Beteiligten abgesehen), allenfalls mit Atemschutzmaske oder Wollmütze auf dem Kopf. Im Wohngebiet weiden magere Schafe und Bergziegen zwischen den Häusern. Denn viele Einwohner sind ökonomisch zum Teil auf Selbstversorgung angewiesen. Es gibt kaum Möbel, die Leute schlafen unter kunstvoll gebastelten Moskinonetz-Zelten auf ihren Matratzen. So ein Moskitozelt erhalte ich auch, das hat doch was Beruhigendes.  

Am folgenden Tag geht es zunächst zum malischen Vorbereitungskomitee. Stolz präsentiert Fatma „meinen Ausländer“ den Freundinnen – ich habe den Eindruck, dass bisher nicht so viele Teilnehmer für die Privatunterkunft optiert haben. Dann sammeln sich die Teilnehmer im und auf dem Rasen vor dem Kulturpalast von Bamako. Junge Männer mit der Kopfbedeckung der Tuareg heizen auf Motorrädern durch die Gegend, sie sind wohl aus dem Norden von Mali gekommen. Nach meinem ersten Eindruck kommen deutlich über 80 Prozent der Teilnehmer vom afrikanischen Kontinent, mit starken Kontingenten aus Mali selbst, den Nachbarländern und aus Südafrika. Zwischendurch diskutiere ich mit einer dreiköpfigen Gruppe der spanischen Izquierda Unida (Vereinigte Linke) und einem Kongolesen, der in einem sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum über Zivilgesellschaft und Konflikte im südafrikanischen Durban studiert und arbeitet. Die Veranstalter scheinen vom Andrang leicht überfordert, aber ich hatte mir das organisatorische Chaos sehr viel schlimmer vorgestellt und bin eher positiv überrascht. Am Nachmittag beginnt die Auftaktdemonstration, nur wann? Die Einen sagen 14 Uhr, Andere meinen 15 Uhr, wieder andere 16 Uhr. Anscheinend wurde der Anfang aufgrund der Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Teilnehmerandrangs verschoben. Um halb vier löst sich die Ungewisseheit aus: Kostenlose Busse sollen jetzt die Leute, die vor dem Kulturpalast warten, zu der Demo bringen, die bereits Aufstellung genommen hat.  

Ein munterer Auftakt, aber mit hässlichem Flaggenstreit 

Kaum ist unser VW-Bus dann auch am Boulevard der Unabhängigkeit angekommen, beginnt die Demo auch schon loszulaufen, ein munterer Marsch von irgendwo zwischen 10.000 und 20.000 Leuten (die Veranstalter werden im Anschluss von 18.000 Teilnehmern sprechen). Zahllose stehen an den Strabenrändern: Bewohnerkollektive gröberer Häuser, Verkäufer aus dem informellen Sektor mit ihren Leiterwägen, zahllose Kinder. Optisch prägend erscheinend mir zum Einen die zahlreichen Frauengruppen und –initiativen, zum Zweiten Angehörige der „Fair trade“-Bewegung und zum Dritten Gewerkschaften aus Europa und Afrika. Die französische CGT und die Basisgewerkschaften SUD-Solidaires, aus Italien die etablierte CGIL ebenso wie die gewerkschaftlichen Basiskomitees Sin Cobas... und viele  afrikanische Gewerkschaftsorganisationen. Aus Mali ist der Widerstand gegen die 2003 erfolgte Privatisierung des Eisenbahnnetzes und seine Übernahme durch ein französisch-kanadisches Konsortium namens Transrail, die mit der Schliebung von 26 der 36 Bahnhöfe einherging, und gegen die Entlassung gewerkschaftlich aktiver Mitarbeiter durch Transrail gut sichtbar. Auch der Zorn der Baumwollanbauer verschafft sich in der Demo Luft. Sie sehen den Preis für ihr Produkt immer weiter unkontrolliert fallen, zugleich wurde die mit dem Verkauf dieses wichtigen Exportprodukts befasste maliensische Textilgesellschaft CMDT unter internationalem Druck privatisiert und durch Franzosen aufgekauft, die drei Viertel der Erlöse aus dem Land abführen. Ansonsten gibt es eine Abschlusskundgebung im Stadion von Bamako mit einem Kulturprogramm, an dem Künstler aus verschiedenen Ländern des Kontinents – von Guinea bis Burundi – teilnehmen. Zu einer hässlichen Note kommt es am Schluss, als Teilnehmer aus Marokko und aus der seit 1975 durch dieses Land annektierten Westsahara sich erst einen Flaggenstreit auf dem Rasen liefern und es anschliebend fast zur gröberen Prügelei kommt. Die malische Polizei trennt die Kontrahenten, indem es die Saharaouis vom Rasen in die Tribünen abdrängt und die Marokkaner am Hinterhersetzen hindert. Aber in den kommenden Tagen wird es bei einer Debatte um das Westsaharaproblem nochmals zu Gerangel und zu Störererein kommen. 

Agiert so das marokkanische Sozialforum, das zu den wohl stärksten auf dem Kontinent gehört und auch in der Demo Präsenz zeigte? Bei Michèle, die aus der französischen KP kommt und seit langem Solidaritätsarbeit mit Afrika leistet, bleibt ein Zweifel zurück: „Nein, ich glaube, da hat auf jeden Fall auch die marokkanische Botschaft ihre Hände im Spiel gehabt. Aber es stimmt, dass sehr viele progressive Kräfte in Marokko versuchen, sich bei der Monarchie ihre Freiheit auf Kosten der Freiheit von Anderen einzukaufen, indem sie eine chauvinistische Linie zum Westsaharaproblem einnehmen und dadurch ernst genommen zu werden glauben.“ Dieser Auffassung sind auch andere Teilnehmer, die ergänzen, eine Vereinigung ehemaliger malischer Studenten in Marokko habe sich im Vorfeld manipulieren lassen, bei dem Ganzen mitzumischen. 

Thema: Kriminalisierung von Migration 

Freitag vormittag: Heute beginnen die thematischen Arbeitsgruppen. Zuerst begebe ich mich zum Kongresspalast, der in unmittelbarer Nähe des Niger-Ufers liegt. In einem durch Klimaanlagen völlig unterkühlten Konferenzraum im Erdgeschoss, mit Blick auf das « Pressezentrum vom französisch-afrikanischen Gipfel », das von der letzten Ausgabe des neokolonialen Präsidententreffens von Anfang Dezember stehen geblieben ist, geht es um das Thema « Kriminalisierung von Migration ». Lucile Damas von ATTAC Marokko geht scharf mit der europäischen Politik ins Gericht, die sich durch Heuchelei und Doppelbödigkeit auszeichen. Einerseits schliebe man dort, wo es um die Aufhebung von Schutzbarrieren für die Ökonomien des Südens und die Durchsetzung von Freihandelsinteressen der stärkeren Nationalökonomien gehe, Abkommen an, in deren Rhetorik viel von Zusammenarbeit zu gegenseitigem Nutzen die Rede sei und oft der Eindruck erweckt werde, als stünden die Verträge allein im Interesse der Länder des Südens und ihrer „Entwicklung“. Andererseits aber verschwinde diese Rhetorik sofort, wo es um den „Schutz“ Europas vor unerwünschter Zuwanderung gehe, und mache einer regelrechten „Obsession“ der Abwehr Platz. Staaten wie Marokko, Tunesien, Libyen und Ägypten lieben sich vor den europäischen Karren spannen, im Interesse einer vorgelagerten Abwehr- bzw. Selektionspolitik für Migranten, die detailliert untersucht wird. Die deutsche Europaparlamentarierin Gaby Zimmer berichtet von den Versuchen der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken (der die Linkspartei.PDS angehört), mehr über die dramatischen Bedingungen für unerwünschte Flüchtlinge und Migranten zu erfahren, die in Libyen oder den Italien vorgelagerten Inseln geparkt würden. Sie wünscht eine intensivere Zusammenarbeit mit Kräften im Süden, um genauer zu wissen, was in dieser Hinsicht in Ländern wie Marokko oder Libyen passert. Ich bin einigermaben erstaunt über die doch recht korrekten Äuberungen der Abgeordneten, aber ob sie das in Brandenburg auch so sagen würde? Der Abgeordnete Ag Ibarcane aus Gao im Norden Malis fordert die linken Abgeordneten und Gleichgesinnte auf, eine „Kampagne in den Tiefen Europas, bei ihren Wählern“ zu entfachen, um für eine Öffnung Europas für Immigranten einzutreten, denn auch Europa habe kein Interesse an einer dauerhaften Abschottung. 

Da später eine weitere Debatte über Ceuta und Melilla aufgrund thematischer Überschneidungen annulliert wird, folge ich einer Debatte über das so genannten afrikanische Partnerschaftsmodell „NEPAD und den südafrikanischen Imperialismus auf dem Kontinent“. Eine muntere Combo aus Südafrika, bestehend aus einer Schwarzen, einem Inder und einer Weiben, schildert die Offensive der dominierenden südafrikanischen Wirtschaft im übrigen Afrika, seitdem die Barrieren des Anti-Apartheid-Boykotts gefallen sind. Es kommt zu einer kleinen Kontroverse mit Teilnehmern aus Senegal, von denen etwa ein Hochschullehrer meint, eine Stärkung Südafrikas sei „als Gegengewicht zu den groben Wirtschaftsmächten wie der EU, Indien und China“ positiv zu werten. Eine Debatte, die mir von den Kontroversen über eine Haltung zur Europäischen Union als angebliches „Bollwerk“ gegen US-Hegemonie und Neoliberalismus bekannt vorkommt. Die linken Südafrikaner meinen dagegen, die aggressive Wirtschaftsoffensive erwecke bereits heute eher Ressentiments gegen das Land im übrigen Kontinent. 

Spontan entdeckte Genossen 

Drauben vor dem Kongresspalast ist ein riesengrobes Strohdach aufgebaut. Träge erheben sich in der Wärme des Nachmittags weibe Reihervögel von den Bäumen in Flussnähe. Einige Malier sitzen beim Essen zusammen und löffeln mit der Hand Reis mit Sauce aus einer Riesenschüssel. Ein jüngerer Mann lädt mich zur Teilnahme ein. Nach wenigen Sätzen Diskussion habe ich verstanden, dass der junge Mann sich als Kommunist bezeichnet. Rasch gebe ich zu verstehen, dass ich auch Kommunist sei – über genauere Definitionen, was man unter diesem Begriff fassen oder lieber draubenlassen sollte, lässt sich ein andermal diskutieren. Daraufhin nimmt er mich zu einer hitzigen Debatte mit, die unter einem riesigen Strohzelt vor den Toren des Kongresspalastes stattfindet und offenkundig durch die kommunistische Bewegung SADI (Afrikanische Solidarität für Entwicklung und Unabhängigkeit) organisiert wird, die den Kultur- und Tourismusminister stellt, aber de facto eher oppositionell ist. Seltsamerweise taucht dieser Ort in den offiziellen Programmen nicht auf. Hier läuft Sozialforum im besten Sinne: Fast ausschlieblich Malier sind gekommen, man erkennt allerdings auch etwa Jean-Claude Amara von der französischen Bewegung der „Sans“ (Sans papiers = ohne Aufenthaltstitel, sans domicile fixe = Obdachlose, sans travail = Arbeitslose...) Es wird in Bambara – das von einer Bevölkerungsmehrheit im Land gesprochen wird – vorgetragen und auf Französisch übersetzt. Minen- und Landarbeiter sowie arme Bauern sind hier zusammengekommen, die wütend ihren sozialen Protest vortragen. Hier wird auch nicht mit Kritik an der Regierung von Mali, die ansonsten auf dem WSF nicht so stark ins Visier genommen wird und die das Weltsozialforum – und sei es als Devisenbringer – eher unterstützt hat, hinter dem Berg gehalten.  

In einem Höllentempo werden an diesem, aber auch am folgenden Tag unter dem Zelt die drängendsten sozialen Fragen behandelt. Anwohner der Goldminen in Morila und anderen Orten, die durch ein französisch-südafrikanisches Kapitalkonsortium aufgekauft worden sind und für den Grobteil der Malier verschlossenes Terrain darstellen, berichten über grobflächige Verseuchungen mit Quecksilber, das zum Goldabbau eingesetzt und rücksichtslos in die Landschaft geblasen wird. Männer und Frauen berichten von Missbildungen an Kindern, „wir erleben eine Situation wie in Nagasaki nach dem Atombombenabwurf“. Gewerkschafter aus den Minen berichten über willkürliche Verhaftungen und Gefängnisaufenthalte ihrer Kollegen seit sechs Monaten ohne jede offizielle Begründung. Mutmablich analphabetische Bäuerinnen berichten über heftige Agrarkonflikte, über Wasser, das von den Feldern auf die Exportkulturen von Bananen umgeleitet wird, die einheimischen Reichen gehören, die auf die Komplizenschaft von Richtern und Gedarmen bauen können. Über Wasserrechnungen, die trotzdem bezahlt werden müssen („nur 58 unserer 250 Felder sind aber bewässert worden, aller Rest wurde umgeleitet“), und über brutale Misshandlungen durch die Gendarmerie für alle Zuwiderhandelnden. Die Frauen meinen, die Zeiten seien vorbei, wo man darauf bauen konnte, dass Ihresgleichen sich nicht für Politik interessiere. Hier findet Sozialforum at it’s best statt.  

Am Freitag abend steht ein anderes, auβerhalb des Kongressprogramms stehendes Vergnügen auf dem Programm: Im Stadion findet das Afrikanische Reggeafestival statt, mit einem Konzert des örtlichen, aber weit über Mali hinaus bekannten Stars Tiken Jah Fakoly (ausgesprochen „Tschicken Dschah Fakoly“). Der auch politisch engagierte Sänger ist u.a. mit dem Titel „Ainsi l’Afrique doit du fric“ (So so, Afrika schuldet also Kohle?) auch in Frankreich bekannt und in einschlägigen Kreisen beliebt. Nach sieben Vorgruppen kommt endlich Tiken Jah mit einem Kleinbus auf der Rasenfläche des Stadions vorgefahren, wo eine Bühne aufgebaut ist. Militärs und Gendarmen, die speziell hergestellte Gürtel mit Eisennieten als Schlaginstrumente einsetzen, hindern die zehntausenden jungen Leuten daran, von den Sitzreihen des Stadions aus auf den Rasen vorzudringen. (Am folgenden Tag fällt mir auf, dass auch jene Soldaten, die die zentralen Tagungsorte des Sozialforums bewachen, solche Schlaggürtel besitzen. Dort kommen sie aber freilich nicht zum Einsatz.) Dann überklettern aber immer mehr und mehr junge Leute den Zaun, der die Sitzreihen vom Rasen abtrennt. Nach zehn Minuten klettern auch meine malischen Begleiter, die zunächst eher zögerlich schienen, und ich ins Innere und finden uns in einer ausgelassenen Stimmung wieder. Es ist bald drei Uhr, als wir nach Hause zurückfahren. Im Moment graut mir ein bisschen beim Gedanken an das frühe Aufstehen morgen, aber ich möchte dennoch nichts vom Sozialforum versäumen. Kurz nach sieben Uhr stehe ich schon wieder auf den Füβen, wie die gesamte Familie. 

Auf der Suche nach Spannendem zur Banlieuefrage: enttäuscht... 

Am Wochenende finde ich ach längerem Suchen quer durch einen Komplex von Studentenwohnheimen und Hörsälen ich den ziemlich gut versteckten Konferenzraum, wo ein Sozialforschungszentrum aus Brasilien und  ine Initiative aus Mali eine Debatte über « Banlieues und grobstädtische Gewalt – Hintergrund für die Entwicklung vom Sozial- zum Strafstaat“ anbieten. Das verspricht spannend zu werden, vor allem auch möchte ich wissen, wie in anderen Teilen der Welt über die Ereignisse in den französischenTrabantenstädten vom vergangenen November – auf die der Titel offenkundig anspielt – diskutiert wird und welche Parallen die Brasilianer zu den Favelas ihrer Grobstädte ziehen. Schon bedauere ich heftig, dass ich zu spät dran bin. Das ist aber unnötig, wie sich herausstellt, denn die Brasilianer sind gar nicht gekommen. Generell ist Lateinamerika nach meinem Eindruck in Bamako gar nicht vertreten – gut, kein Wunder, wo doch nur wenige Tage später in Caracas der Vorhang für den zweiten Teil des Weltsozialforums aufgehen wird. Aus Mali sind einige Leute anwesend, aber im Wesentlichen zum Zuhören und Fragenstellen. So wird die Debatte im Wesentlichen unter Leuten aus Frankreich bestritten und endet in einer nervigen Polemik mit einem Vertreter der 2005 gegründeten Bewegung der « Indigènes de la République » (Eingeborenen der Republik): Er versucht nahezu alle Diskriminierungs-, Ghettoisierungs- und sozialen Probleme im heutigen Frankreich auf den Einheitsnenner einer « Fortsetzung des Kolonialismus » zu bringen und spricht einer sozioökonomischen, klassenmäbigen Analyse der Banlieueproblematik ihre Berechtigung ab. Eine legitime Reaktion könne jedenfalls in einer ersten Zeit nur von den postkolonialen Subjekten kommen, statt von einem gemeinsamen Kampf aller Marginalisierten. Auch so kann man universelle Solidarität verhindern... 

Internationale Gewerkschaftersolidarität: Deutsche Sozialdemokraten als falsche NGO-Fuffziger unterwegs 

Danach suche ich die Debatte über internationale Zusammenarbeit von Gewerkschaften und « die Überwindung der Zersplitterung » in der weltweiten Arbeiterbewegung, die von einer senegalesischen Lehrergewerkschaft angeboten wird. Also nichts wie hin. Aber auch hier  sind die Referenten leider nicht gekommen. Auf dem Flur wartet neben drei Mitgliedern der französischen linksalternativen Basisgewerkschaft SUD/Solidaires auch Monsieur Amrani aus Algerien, der als Organisationsbezeichnung « FES » auf seinem Button stehen hat. Da ich diese Abkürzung im algerischen Spektrum noch nicht kenne, frage ich ihn, welche Gewerkschaft denn hinter dem Kürzel stecke. Aber es steht für die Friedrich-Ebert-Stiftung, von der ich weib, dass sie ein Büro in Algier unterhält und sich dort durch Förderprogramme und Mittelverteilung sehr massiv in Aktivitäten der « Zivilgesellschaft » einzuschalten versucht. « Da drüben steht mein Boss » fügt Monsieur Amrani hinzu, und hinter mir erblicke ich einen vielleicht 50jährigen, untersetzten Deutschen, der wohl für die Parteistiftung der SPD arbeitet. Mit dem muss ich jetzt aber wirklich nicht diskutieren. Lieber begebe ich mich auf die Suche nach einer Debatte über „Globalisierung von unten“ in einem anderen Saal, die zur Abwechslung auch wirklich stattfindet.

Später am Tag komme ich wieder vor dem Kongresspalast an. Dort sind inzwischen zahlreiche Transparente angebracht worden. Eines ist etwa vom Nigeria Social Forum. Unter ihm steht, weniger erfreulich, auf einem anderen zu lesen: « Die Friedrich-Ebert-Stiftung begrübt sie zum polyzentrischen Weltsozialforum ». Die schon wieder! Nicht überall, wo NGO drauf steht, ist eben auch wirklich eine non gouvernemental Organisation drin. Langsam beginnen die Heinis von der  Stiftung der deutschen Regierungspartei aber wirklich zu nerven. 

Noch viele interessante Debatten gibt es bis zum Abschluss am Montag abend zu entdecken, darunter an herausragender Stelle die Diskussion über Perspektiven der Frauenbewegung in Nord und Süd sowie ihrer Zusammenarbeit oder die Augenzeugenberichte afrikanischer Migranten, die in Ceuta und Melilla am Stacheldrahtzaun scheiterten. Und die elenden deutschen Spezialdemokraten können ja, zum Glück, nicht überall stecken.

Editorische Anmerkungen

Bernhard Schmid stellte uns seinen Artikel in der vorliegenden Fassung zur Verfügung. Er weist daraufhin, dass dies eine Ausführliche Fassung eines Reportagetextes ist, der am Mittwoch (24. Januar 06) deutlich gekürzt in der Wochenzeitung „Jungle World“ erschien.

Die Fotos stammen auch vom Autor. Sie zeigen Eindrücke von der Auftaktdemo. Danke!!!