Das Wetter könnte schlechter werden, die
Hubschrauber fliegen heute so tief:
Bei strahlendem Sonnenschein und unter Palmen, doch in einem Anschein von
Belagerungszustand begann am Mittwoch vergangener Woche der informelle
Gipfel der 26 Verteidigungsminister der Nordatlantischen
Vertragsorganisation (NATO) in Nizza. Keinen Vergleich mit den Temperaturen
drei Tage später in München, wo die alljährliche "Sicherheitskonferenz"
stattfand. Dort hatte am Ende nicht nur der deutsche Bundeskanzler Grippe,
einige Teilnehmer waren auch diplomatisch verschnupft. Verschlechtert hatte
sich im Laufe der vergangenen Woche vor allem die diplomatische Atmosphäre
zwischen einigen der westlichen Großmächte.
Nicht so in Nizza zur Wochenmitte. "Ein Willkommen den Soldaten des
Friedens" hieß es auf zahlreichen Propagandaplakaten der Stadtverwaltung
unter Bürgermeister Jacques Peyrat (früher Front National, jetzt UMP). Auf
ihnen war eine weibliche Soldatin vor den Umrissen der mittelamerikanischen
Landbrücke von Mexiko bis Kolumbien zu sehen. Ein kurioser
Plakathintergrund, da diese geopolitische Region nach bisher vorliegenden
Erkenntnissen weder zum Territorium noch zu den Einsatzgebieten des
nordatlantischen Militärpakts zählt. Neben den üblichen Polizeikräften
überwachten auch 1.200 französische Berufsmilitärs die Sicherheitslage in
der Stadt an der Côte d'Azur. Helikopter der Luftwaffe überflogen in
regelmäßigen Abständen im Tiefflug die Uferpromenade, das Kriegsschiff Jean
Bart kreuzte mit 250 Mann an Bord vor der Küste
Condoleeza Rice in Paris: Transatlantisches Tauwetter?
Begonnen hatte die diplomatische Woche aber bereits am Dienstag in Paris,
mit dem Besuch der neuen US-Außenministerin Condoleeza Rice, die am Abend an
der prestigereichen politikwissenschaftlichen Fakultät Science Po eine viel
erwartete Rede vor handverlesenem Publikum hielt. Ihr Auftritt wurde
allgemein als Signal interpretiert, dass es der US-Administration derzeit
tendenziell um die Beilegung der während des Irakkriegs 2003 aufgetretenen
Divergenzen innerhalb des Militärbündnisses gehe. Zwar, so meinte etwa die
Pariser 'Libération', könne man in US-Medien auch heute noch bisweilen etwa
der Simpson family bei einem Besuch im französischen Militärmuseum zusehen
wo lauter Soldaten zu sehen sind, die vor Angst grün aussehen und weiße
Flaggen der Kapitulation schwenken, denn die Franzosen sind eben Feiglinge.
Dennoch stünden im offiziellen Diskurs die
Zeichen eher auf Abbau der
Differenzen. Vor allem, seitdem Paris eine wichtige Forderung der
US-Amerikaner annahm und (als einer der größter Gläubiger des früheren
irakischen Regimes unter Saddam Hussein) dem jetzigen Irak 80 Prozent der in
Frankreich aufgehäuften Schulden erließ. Denn seit einigen Monaten hat man
in Washington plötzlich die "illegitimen Schulden" entdeckt, die daraus
resultieren, dass autoritäre und diktatorische Regime (auf dem Rücken
"ihrer" Bevölkerung) ihr Land beispielsweise für Rüstungskäufe im Ausland
und v.a. gegenüber den westlichen Metropolen verschulden. Das ist zwar in
der Sache absolut richtig, und das alte irakische Regime mit seinen massiven
Waffenkäufen (u.a. in den USA selbst und in Frankreich, aber auch in
Westdeutschland) ist ein sehr treffendes Beispiel dafür. Nur hat das die
US-Administration bisher nie interessiert, und die Kritik an solchen
Wirtschaftsbeziehungen wird für sie erst jetzt und nur im Falle des Irak
relevant, da sie selbst hinter dem derzeitigen irakischen (je nach
Standpunkt, Übergangs- oder Marionetten-) Regime stehen. Fakt ist
jedenfalls, dass die Pariser Regierung in der Gunst der US-Administration
durch den Erlass des größten Teils der irakischen Auslandsschuld sehr
gewachsen ist.
Auch im französischen Establishment sind
derzeit die Befürworter einer
Annäherung an die US-Politik im Vormarsch. Die konservative Regierungspartei
UMP ist in einen traditionell-gaullistischen, auf militärpolitische
Eigenständigkeit bedachten Flügel einerseits und die Pro-Atlantiker um
Parteichef Nicolas Sarkozy andererseits gespalten. Die Atlantiker sind seit
einigen Wochen in der Offensive. Letztere bereiteten sich im Vorfeld der
Wahlen im Irak am 30. Januar auf eine neue Offensive vor. An deren Ausgang
bestand in Frankreich kaum ein Zweifel, denn dort erinnert man sich an die
Wahlen im algerischen Bürgerkrieg von 1995, an der auch zwei Millionen
Stimmberechtigte auf französischem Boden teilnahmen. Auch damals bedrohten
radikale Islamistengruppen die Wählenden mit dem Tod, und Millionen Menschen
gingen gerade deswegen zur Abstimmung, um ihnen eine Abfuhr zu erteilen
ohne dewegen notwendig die algerische Militärregierung zu goutieren.
Ähnliches wurde für den Irak erwartet. Doch die Pro-Atlantiker stellten
alsbald die erfolgreiche Durchführung der Wahlen als Legitimierung der
US-Politik gegenüber dem Irak dar, um eine Wiederannäherung zu forcieren.
"Wir hatten Meinungsverschiedenheiten",
plädierte Außenministerin Rice in
ihrer Rede "Es ist Zeit, sie zu überwinden, ein neues Kapitel in unseren
Beziehungen, ein neues Kapitel in unserer Allianz aufzuschlagen." Ansonsten
plädierte die frühere Expertin für den sowjetischen Block vor dessen
Zusammenbruch für die Idee, dass alsbald im Mittleren Osten "die
Reformkräfte triumphieren werden, so wie der Westen den Kalten Krieg
gewonnen hat".
Nizza: Konsens über Afghanistan, begrenzte
Differenzen bezüglich des Irak
Am folgenden Tag in Nizza war allein der Ort
des Gipfeltreffens auf
Ministerebene ein kräftiges Symbol. Denn zum ersten Mal fand ein solches
NATO-Treffen in Frankreich statt: Das Land trat 1966 unter Präsident de
Gaulle aus dem militärischen Verbund der NATO aus und blieb nur in einigen
politischen Gremien, wenngleich sein Amtsnachfolger Jacques Chirac seit Ende
1995 eine deutliche Wiederannäherung einleitete.
Frankreich ist derzeit nach den USA mit
dem zweigrößten Kontingent an
auswärtigen Einsätzen des Nordatlantikpakts beteiligt und hat den Oberbefehl
über die beiden wichtigsten Missionen inne: Die NATO-Streitkräfte im Kosovo
(KFOR) und die Afghanistantruppe ISAF. Hinsichtlich der Afghanistanmission
konnte in Nizza rasch Einigkeit erzielt werden: Die ISAF wird um 500
Soldaten aus Spanien, Italien und Litauen auf 8.500 Mann aufgestockt. Und
sie soll ihre Präsenz von Kabul und dem Norden des Landes aus auch auf
Westafghanistan ausdehnen.
Umstritten blieb nach wie vor das
Operationsfeld Irak. Dort hätte
ursprünglich einmal eine Feuertaufe für die ersten "out of area-Einsätze der
NATO", außerhalb der Perspektive eines West-Ost-Konflikts in Europa,
stattfinden können. Ende Juni 1990 hatte der damalige deutsche
NATO-Generalsekretär Manfred Wörner in einer Rede in Paris dafür plädiert,
die Allianz nach dem Ende des Kalten Krieges auf neue Einsätze gegen
Bedrohungen aus Ländern des Südens, "vor allem aus dem Nahen Osten und dem
Mittelmeerraum", vorzubereiten.
Sechs Wochen später begann der Konflikt um
die irakische Besetzung Kuwaits,
und die USA begannen ihren Truppenaufmarsch am Golf. Andere NATO-Mächte
wollten mitziehen, darunter das frisch souverän gewordene, wiedervereinigte
Deutschland. Schon im Oktober 1990 wollte Verteidigungsminister Gerhard
Stoltenberg 72 Tornado-Bomber in die Türkei verlegen und philosophierte über
den "Bündnisfall": Würde die Türkei in den Krieg einbezogen, dann müssten
auch die Deutschen voll am Konflikt teilnehmen. Doch die allzu rasch auf
eine größere militärische Rolle drängende BRD wurde durch ihre Verbündeten
ausgebremst, es blieb bei einem halben Dutzend kleinerer Alpha-Kampfjets der
Bundeswehr in der Südtürkei. Frankreich seinerseits nahm mit 20.000 Soldaten
am Golfkrieg von 1991 teil. Aber Frankreichs regionale Rolle blieb danach
auf den Wiederaufbau des Libanon wo der Bürgerkrieg kurz zuvor zu Ende
gegangen war beschränkt, während US-Amerikaner und Briten die weit
lukrativeren Aufbauverträge in Kuwait erhielten. Paris fühlte sich
abgespeist.
2002/03 opponierten die beiden Mächte gegen
den erneuten Waffengang im Irak,
Belgien zog mit. Die NATO schien definitiv militärpolitisch gespalten. Seit
ihrem Gipfel in Istanbul im vergangenen Juni drängt die US-Administration
jedoch auf ihre vermehrte Einbeziehung und bot an, die Militärorganisation
könne irakische Soldaten und Polizisten ausbilden. Vor allem Frankreichs
Präsident Chirac stellte sich quer: Da Ausbilder der NATO zu Zielen von
Attacken im Irak werden könnten und der Militärpakt so zur Konfliktpartei
würde, drohten die anderen Mächten, in politische Mitverantwortung für das
Vorgehen der USA im Irak hinein gezogen zu werden.
In Nizza kam die Frage nun erneut aufs Tapet.
Die Tagung endete mit einem
Kompromiss: Frankreich etwa wird sich verstärkt an der Ausbildung künftiger
irakischer Militärs und Gendarmen beteiligen und 15 Millionen Euro dafür
aufwenden aber in Schulen, die im Golfstaat Katar und auf französischem
Boden liegen, also außerhalb des Irak. Die USA ihrerseits wollen den Boden
dafür bereiten, auf dem nächsten formellen NATO-Gipfel Ende des Monats in
Brüssel die Beteiligung der Organisation an der Ausbildung irakischer
Truppen zu verkünden.
München: Schröder verlangt Machtzuwachs
und verärgert einige Bündnispartner
Die Münchner Sicherheitskonferenz war
wesentlich stärker von symbolischen
Konflikten überschattet. Ein Teil der europäischen NATO-Mächte ging dort in
die Offensive, um eigene Ambitionen stärker berücksichtigt zu sehen.
Der frühere niederländische Außenminister und
jetzige NATO-Generalsekretär
Haap de Joop Scheffer regte einen Einsatz der Militärorganisation in der
Zone des israelisch-palästinensischen Konflikts an: Würde die NATO von
beiden Seiten um Hilfe gebeten, "muss das Bündnis bereit sein, seine volle
Rolle zu übernehmen". Von dieser Aussicht dürften freilich Israelis und
US-Amerikaner wenig begeistert sein. Auch aus Sicht der Palästinenser dürfte
die Aussicht, die seit 1967 israelisch besetzten Gebiete in ein
internationales Militärprotektorat zu verwandeln, wenig mit der Idee von
Selbstbestimmung zu tun haben. Der deutsche Verteidigungsminister Peter
Struck, der den erkrankten Kanzler Schröder vertrat, beeilte sich freilich
zu antworten: "Wenn die NATO auf Bitten beider Seiten diese Verantwortung
wahrnähme, gibt es keinen Zweifel, dass auch Deutschland seiner
Verantwortung gerecht wird."
Doch die deutsche Seite hatte noch mehr
Böllerschüsse im Gepäck. In seiner
Rede, die durch Minister Struck verlesen wurde, plädierte Schröder für die
Einsetzung einer Kommission zur "Reform" des Mlitärbündnisses, das sich den
"veränderten Realitäten" noch nicht ausreichend angepasst habe. Als
Begründung nannte er, dass die strategischen Herausforderungen heute
"sämtlich jenseits der alten Beistandszone des Nordatlantik-Pakts" während
des Konflikts mit der Sowjetunion lägen. Ferner werde der derzeitige Dialog
zwischen den europäischen NATO-Mächten und den USA "weder dem wachsenden
Gewicht der (Europäischen) Union noch den Anfordernissen transatlantischer
Zusammenarbeit" gerecht. Einige Minuten später fiel die Forderung nach einem
deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat; die BRD habe 7.000 Soldaten im Ausland
eingesetzt, und ihre Bedeutung in der Weltpolitik sei gewachsen. Damit
bekräftigte er, dass es ihm vorrangig darum ging, zusätzliche
Machtpositionen für Deutschland zu erstreben.
Andere Teilnehmer zeigten (nach einer
Formulierung, die Beobachter vom
Internetmagazin telepolis über die FAZ bis zur Welt am Sonntag benutzten)
ihre "Irritation". Die BILD-Zeitung sag den Kanzler gar "abgewatscht".
US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld antwortete auf Schröder, die NATO
sei "das entscheidende Militärbündnis der Welt und die erfolgreichste
Allianz in der Geschichte der Menschheit", auf den Zusammenbruch des
sowjetischen Blocks anspielend. Gleichzeitig betonte er aber auch, dass die
USA sich zukünftig die Option auf wechselnde Partner für Militäroperationen
offen hielten: "Der Auftrag bestimmt die Koalition". Auch der
niederländische NATO-Generalsekretär widersprach des Kanzlers Rede vom
"Reformbedarf": Die NATO befinde sich bereits in einem Wandlungsprozess, und
"Handeln ist wichtiger als Reden". Wie stark die Allianz sei, zeigten ihre
internationalen Einsätze.
Zu Anfang dieser Woche stellte
NATO-Generalsekretär Haap de Joop Scheffer
sich dann plötzlich hinter Schröders Forderung nach einer "Reform" der NATO
und wollte nunmehr auch über die (veränderte) Zukunft des nordatlantischen
Militärbündnisses diskutieren.
Editorische Anmerkungen
Der Autor stellte uns seinen Text
am 16.2.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung. Eine Kurzfassung
erschien (unter dem Titel "Jerusalem oder Bagdad") in "Jungle
World" vom 16. Februar 05.
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