NATO-Gipfel in Nizza, Condoleeza Rice in Paris und "Sicherheitskonferenz" in München:
Inner-imperialistische Konflikte und Interventionen "out of area"

von Bernhard Schmid in Nizza

02/05

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Das Wetter könnte schlechter werden, die Hubschrauber fliegen heute so tief: Bei strahlendem Sonnenschein und unter Palmen, doch in einem Anschein von Belagerungszustand begann am Mittwoch vergangener Woche der informelle Gipfel der 26 Verteidigungsminister der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) in Nizza. Keinen Vergleich mit den Temperaturen drei Tage später in München, wo die alljährliche "Sicherheitskonferenz" stattfand. Dort hatte am Ende nicht nur der deutsche Bundeskanzler Grippe, einige Teilnehmer waren auch diplomatisch verschnupft. Verschlechtert hatte sich im Laufe der vergangenen Woche vor allem die diplomatische Atmosphäre zwischen einigen der westlichen Großmächte.

Nicht so in Nizza zur Wochenmitte. "Ein Willkommen den Soldaten des Friedens" hieß es auf zahlreichen Propagandaplakaten der Stadtverwaltung unter Bürgermeister Jacques Peyrat (früher Front National, jetzt UMP). Auf ihnen war eine weibliche Soldatin vor den Umrissen der mittelamerikanischen Landbrücke ­ von Mexiko bis Kolumbien ­ zu sehen. Ein kurioser Plakathintergrund, da diese geopolitische Region nach bisher vorliegenden Erkenntnissen weder zum Territorium noch zu den Einsatzgebieten des nordatlantischen Militärpakts zählt. Neben den üblichen Polizeikräften überwachten auch 1.200 französische Berufsmilitärs die Sicherheitslage in der Stadt an der Côte d'Azur. Helikopter der Luftwaffe überflogen in regelmäßigen Abständen im Tiefflug die Uferpromenade, das Kriegsschiff Jean Bart kreuzte mit 250 Mann an Bord vor der Küste

Condoleeza Rice in Paris: Transatlantisches Tauwetter?  

Begonnen hatte die diplomatische Woche aber bereits am Dienstag in Paris, mit dem Besuch der neuen US-Außenministerin Condoleeza Rice, die am Abend an der prestigereichen politikwissenschaftlichen Fakultät Science Po eine viel erwartete Rede vor handverlesenem Publikum hielt. Ihr Auftritt wurde allgemein als Signal interpretiert, dass es der US-Administration derzeit tendenziell um die Beilegung der während des Irakkriegs 2003 aufgetretenen Divergenzen innerhalb des Militärbündnisses gehe. Zwar, so meinte etwa die Pariser 'Libération', könne man in US-Medien auch heute noch bisweilen etwa der Simpson family bei einem Besuch im französischen Militärmuseum zusehen ­ wo lauter Soldaten zu sehen sind, die vor Angst grün aussehen und weiße Flaggen der Kapitulation schwenken, denn die Franzosen sind eben Feiglinge.  

Dennoch stünden im offiziellen Diskurs die Zeichen eher auf Abbau der Differenzen. Vor allem, seitdem Paris eine wichtige Forderung der US-Amerikaner annahm und (als einer der größter Gläubiger des früheren irakischen Regimes unter Saddam Hussein) dem jetzigen Irak 80 Prozent der in Frankreich aufgehäuften Schulden erließ. Denn seit einigen Monaten hat man in Washington plötzlich die "illegitimen Schulden" entdeckt, die daraus resultieren, dass autoritäre und diktatorische Regime (auf dem Rücken "ihrer" Bevölkerung) ihr Land beispielsweise für Rüstungskäufe im Ausland und v.a. gegenüber den westlichen Metropolen verschulden. Das ist zwar in der Sache absolut richtig, und das alte irakische Regime mit seinen massiven Waffenkäufen (u.a. in den USA selbst und in Frankreich, aber auch in Westdeutschland) ist ein sehr treffendes Beispiel dafür. Nur hat das die US-Administration bisher nie interessiert, und die Kritik an solchen Wirtschaftsbeziehungen wird für sie erst jetzt und nur im Falle des Irak relevant, da sie selbst hinter dem derzeitigen irakischen (je nach Standpunkt, Übergangs- oder Marionetten-) Regime stehen. Fakt ist jedenfalls, dass die Pariser Regierung in der Gunst der US-Administration durch den Erlass des größten Teils der irakischen Auslandsschuld sehr gewachsen ist.  

Auch im französischen Establishment sind derzeit die Befürworter einer Annäherung an die US-Politik im Vormarsch. Die konservative Regierungspartei UMP ist in einen traditionell-gaullistischen, auf militärpolitische Eigenständigkeit bedachten Flügel einerseits und die Pro-Atlantiker um Parteichef Nicolas Sarkozy andererseits gespalten. Die Atlantiker sind seit einigen Wochen in der Offensive. Letztere bereiteten sich im Vorfeld der Wahlen im Irak am 30. Januar auf eine neue Offensive vor. An deren Ausgang bestand in Frankreich kaum ein Zweifel, denn dort erinnert man sich an die Wahlen im algerischen Bürgerkrieg von 1995, an der auch zwei Millionen Stimmberechtigte auf französischem Boden teilnahmen. Auch damals bedrohten radikale Islamistengruppen die Wählenden mit dem Tod, und Millionen Menschen gingen gerade deswegen zur Abstimmung, um ihnen eine Abfuhr zu erteilen ­ ohne dewegen notwendig die algerische Militärregierung zu goutieren. Ähnliches wurde für den Irak erwartet. Doch die Pro-Atlantiker stellten alsbald die erfolgreiche Durchführung der Wahlen als Legitimierung der US-Politik gegenüber dem Irak dar, um eine Wiederannäherung zu forcieren.  

"Wir hatten Meinungsverschiedenheiten", plädierte Außenministerin Rice in ihrer Rede "Es ist Zeit, sie zu überwinden, ein neues Kapitel in unseren Beziehungen, ein neues Kapitel in unserer Allianz aufzuschlagen." Ansonsten plädierte die frühere Expertin für den sowjetischen Block vor dessen Zusammenbruch für die Idee, dass alsbald im Mittleren Osten "die Reformkräfte triumphieren werden, so wie der Westen den Kalten Krieg gewonnen hat".  

Nizza: Konsens über Afghanistan, begrenzte Differenzen bezüglich des Irak  

Am folgenden Tag in Nizza war allein der Ort des Gipfeltreffens auf Ministerebene ein kräftiges Symbol. Denn zum ersten Mal fand ein solches NATO-Treffen in Frankreich statt: Das Land trat 1966 unter Präsident de Gaulle aus dem militärischen Verbund der NATO aus und blieb nur in einigen politischen Gremien, wenngleich sein Amtsnachfolger Jacques Chirac seit Ende 1995 eine deutliche Wiederannäherung einleitete.  

Frankreich ist derzeit ­ nach den USA ­mit dem zweigrößten Kontingent an auswärtigen Einsätzen des Nordatlantikpakts beteiligt und hat den Oberbefehl über die beiden wichtigsten Missionen inne: Die NATO-Streitkräfte im Kosovo (KFOR) und die Afghanistantruppe ISAF. Hinsichtlich der Afghanistanmission konnte in Nizza rasch Einigkeit erzielt werden: Die ISAF wird um 500 Soldaten aus Spanien, Italien und Litauen auf 8.500 Mann aufgestockt. Und sie soll ihre Präsenz von Kabul und dem Norden des Landes aus auch auf Westafghanistan ausdehnen.  

Umstritten blieb nach wie vor das Operationsfeld Irak. Dort hätte ursprünglich einmal eine Feuertaufe für die ersten "out of area-Einsätze der NATO", außerhalb der Perspektive eines West-Ost-Konflikts in Europa, stattfinden können. Ende Juni 1990 hatte der damalige deutsche NATO-Generalsekretär Manfred Wörner in einer Rede in Paris dafür plädiert, die Allianz ­ nach dem Ende des Kalten Krieges ­ auf neue Einsätze gegen Bedrohungen aus Ländern des Südens, "vor allem aus dem Nahen Osten und dem Mittelmeerraum", vorzubereiten.  

Sechs Wochen später begann der Konflikt um die irakische Besetzung Kuwaits, und die USA begannen ihren Truppenaufmarsch am Golf. Andere NATO-Mächte wollten mitziehen, darunter das frisch souverän gewordene, wiedervereinigte Deutschland. Schon im Oktober 1990 wollte Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg 72 Tornado-Bomber in die Türkei verlegen und philosophierte über den "Bündnisfall": Würde die Türkei in den Krieg einbezogen, dann müssten auch die Deutschen voll am Konflikt teilnehmen. Doch die allzu rasch auf eine größere militärische Rolle drängende BRD wurde durch ihre Verbündeten ausgebremst, es blieb bei einem halben Dutzend kleinerer Alpha-Kampfjets der Bundeswehr in der Südtürkei. Frankreich seinerseits nahm mit 20.000 Soldaten am Golfkrieg von 1991 teil. Aber Frankreichs regionale Rolle blieb danach auf den Wiederaufbau des Libanon ­ wo der Bürgerkrieg kurz zuvor zu Ende gegangen war ­ beschränkt, während US-Amerikaner und Briten die weit lukrativeren Aufbauverträge in Kuwait erhielten. Paris fühlte sich abgespeist.  

2002/03 opponierten die beiden Mächte gegen den erneuten Waffengang im Irak, Belgien zog mit. Die NATO schien definitiv militärpolitisch gespalten. Seit ihrem Gipfel in Istanbul im vergangenen Juni drängt die US-Administration jedoch auf ihre vermehrte Einbeziehung und bot an, die Militärorganisation könne irakische Soldaten und Polizisten ausbilden. Vor allem Frankreichs Präsident Chirac stellte sich quer: Da Ausbilder der NATO zu Zielen von Attacken im Irak werden könnten und der Militärpakt so zur Konfliktpartei würde, drohten die anderen Mächten, in politische Mitverantwortung für das Vorgehen der USA im Irak hinein gezogen zu werden.  

In Nizza kam die Frage nun erneut aufs Tapet. Die Tagung endete mit einem Kompromiss: Frankreich etwa wird sich verstärkt an der Ausbildung künftiger irakischer Militärs und Gendarmen beteiligen und 15 Millionen Euro dafür aufwenden ­ aber in Schulen, die im Golfstaat Katar und auf französischem Boden liegen, also außerhalb des Irak. Die USA ihrerseits wollen den Boden dafür bereiten, auf dem nächsten formellen NATO-Gipfel Ende des Monats in Brüssel die Beteiligung der Organisation an der Ausbildung irakischer Truppen zu verkünden.  

München: Schröder verlangt Machtzuwachs und verärgert einige Bündnispartner  

Die Münchner Sicherheitskonferenz war wesentlich stärker von symbolischen Konflikten überschattet. Ein Teil der europäischen NATO-Mächte ging dort in die Offensive, um eigene Ambitionen stärker berücksichtigt zu sehen.  

Der frühere niederländische Außenminister und jetzige NATO-Generalsekretär Haap de Joop Scheffer regte einen Einsatz der Militärorganisation in der Zone des israelisch-palästinensischen Konflikts an: Würde die NATO von beiden Seiten um Hilfe gebeten, "muss das Bündnis bereit sein, seine volle Rolle zu übernehmen". Von dieser Aussicht dürften freilich Israelis und US-Amerikaner wenig begeistert sein. Auch aus Sicht der Palästinenser dürfte die Aussicht, die seit 1967 israelisch besetzten Gebiete in ein internationales Militärprotektorat zu verwandeln, wenig mit der Idee von Selbstbestimmung zu tun haben. Der deutsche Verteidigungsminister Peter Struck, der den erkrankten Kanzler Schröder vertrat, beeilte sich freilich zu antworten: "Wenn die NATO auf Bitten beider Seiten diese Verantwortung wahrnähme, gibt es keinen Zweifel, dass auch Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird."  

Doch die deutsche Seite hatte noch mehr Böllerschüsse im Gepäck. In seiner Rede, die durch Minister Struck verlesen wurde, plädierte Schröder für die Einsetzung einer Kommission zur "Reform" des Mlitärbündnisses, das sich den "veränderten Realitäten" noch nicht ausreichend angepasst habe. Als Begründung nannte er, dass die strategischen Herausforderungen heute "sämtlich jenseits der alten Beistandszone des Nordatlantik-Pakts" während des Konflikts mit der Sowjetunion lägen. Ferner werde der derzeitige Dialog zwischen den europäischen NATO-Mächten und den USA "weder dem wachsenden Gewicht der (Europäischen) Union noch den Anfordernissen transatlantischer Zusammenarbeit" gerecht. Einige Minuten später fiel die Forderung nach einem deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat; die BRD habe 7.000 Soldaten im Ausland eingesetzt, und ihre Bedeutung in der Weltpolitik sei gewachsen. Damit bekräftigte er, dass es ihm vorrangig darum ging, zusätzliche Machtpositionen für Deutschland zu erstreben.  

Andere Teilnehmer zeigten (nach einer Formulierung, die Beobachter vom Internetmagazin telepolis über die FAZ bis zur Welt am Sonntag benutzten) ihre "Irritation". Die BILD-Zeitung sag den Kanzler gar "abgewatscht". US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld antwortete auf Schröder, die NATO sei "das entscheidende Militärbündnis der Welt und die erfolgreichste Allianz in der Geschichte der Menschheit", auf den Zusammenbruch des sowjetischen Blocks anspielend. Gleichzeitig betonte er aber auch, dass die USA sich zukünftig die Option auf wechselnde Partner für Militäroperationen offen hielten: "Der Auftrag bestimmt die Koalition". Auch der niederländische NATO-Generalsekretär widersprach des Kanzlers Rede vom "Reformbedarf": Die NATO befinde sich bereits in einem Wandlungsprozess, und "Handeln ist wichtiger als Reden". Wie stark die Allianz sei, zeigten ihre internationalen Einsätze.  

Zu Anfang dieser Woche stellte NATO-Generalsekretär Haap de Joop Scheffer sich dann plötzlich hinter Schröders Forderung nach einer "Reform" der NATO und wollte nunmehr auch über die (veränderte) Zukunft des nordatlantischen Militärbündnisses diskutieren.

Editorische Anmerkungen

Der Autor stellte uns seinen Text am 16.2.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung. Eine Kurzfassung erschien (unter dem Titel "Jerusalem oder Bagdad") in "Jungle World" vom 16. Februar 05.