Das neue Jahr begann mit einer Nachricht, die wohl die allermeisten
Algerier und Algerierinnen aufatmen lässt: Die Groupes islamiques armés
(GIA, Bewaffnete islamische Gruppen), deren bloße Erwähnung die Bevölkerung
vor allem im Umland der Hauptstadt Algier jahrelang in Angst und Schrecken
versetzte, sind so gut wie zerschlagen. Damit ist das wohl blutigste Kapitel
der jüngeren algerischen Geschichte quasi abgeschlossen.
Ende der "Bewaffneten islamischen Gruppen" (GIA)?
Am 3. Januar dieses Jahres zog ein relativ nüchternes Kommuniqué des
algerischen Innenministeriums die Bilanz einer Operation, die in den
vorangegangenen zwei Monaten unter weitgehender Geheimhaltung durchgeführt
wurde. Anfang November war es den staatlichen Ordnungskräften erstmals
gelungen, einen "nationalen Emir (Befehlshaber)" der GIA lebend
festzunehmen: Boudiafi Nouereddine alias "Noureddine PRG" fiel ihnen in Bab
Ezzouar, einem etwas außerhalb gelegenen Stadtteil von Algier, in die Hände.
Aus diesem Anlass konnten auch einige "schlafende" Unterstützerzellen in der
Hauptstadt ausgehoben werden. Mit den Angaben, die aus dem "Emir"
herausgeholt werden konnten und die bei den Durchsuchungen der bisherigen
Verstecke aufgefunden wurden, konnten Polizei und Armee die verbleibenden
Reste der Organisation am Kopf treffen. Seit kaum 14 Tagen an die Spitze der
GIA aufgerückt, wurde der neue "Emir" Chaâbane Younès, genannt "Lyès", am 1.
Dezember in der Nähe der westalgerischen Stadt Chlef erschossen. Sein
Begleiter "Abu Bakr" legte die Waffen nieder und ergab sich.
In der Vergangenheit war es den bewaffneten Kräften des Staates kaum
möglich
gewesen, Spitzenleute der GIA lebend oder sogar tot in ihre Hände zu
bekommen: Die Philosophie der extrem gewalttätigen, sektenähnlichen
Gruppierung sah vor, dass ein Kampf nur siegreich oder mit dem Tod enden
könne. Und die GIA sammelten ihre Leichen ein oder verbrannten ihre Finger,
damit keine Identifizierung der Toten durch deren Abdrücke mehr gelingen
könne. Dadurch sollte ein Mythos der "Unbesiegbarkeit" aufrecht erhalten
werde. Während der ersten Jahre ihrer Existenz, von 1992 bis 1996, hatte ein
"Emir" der Dschamaa al-islamiya al-mossalahane, wie die Gruppen auf arabisch
hießen, allerdings faktisch nur eine Lebenserwartung von durchschnittlich
sechs Monaten. In diesem Zeitraum fielen die meisten im Kampf mit den von
ihnen taghout (Götzenanbeter) genannten staatlichen Kräften, eine Minderheit
fiel auch blutigen "Säuberungen" im Inneren der GIA zum Opfer.
Die GIA: Guerilla oder Hooligantum?
Im Gegensatz zu islamistischen Organisationen in anderen Kontexten
praktizierten die GIA jedoch so gut wie nie die "Technik" des
Selbstmordattentats. Das hängt damit zusammen, dass diese Strömung des
bewaffneten Islamismus in Algerien in einer Periode aufkam, als ihre
Aktivisten allgemein von einer Erwartung des herannahenden baldigen Sieges
ausgingen, anstatt sich subjektiv im Kampf gegen ein übermächtiges Unrecht
zu wähnen. Die kollektive Fantasie der Anhänger der GIA oder verwandter
Gruppen war ferner stark durch eine verzerrte, verfälschende "Erinnerung" an
den algerischen Befreiungskrieg von 1954 bis 62 geprägt.
Der Unabhängigkeitskampf gegen den französischen Kolonialismus - der ein
politischer und kein religiöser Kampf gewesen war - wurde im Algerien der
70er und 80er Jahre in Schulbüchern und im Unterricht oftmals nachträglich
als ein Krieg "für den Islam" dargestellt. Das hängt damit zusammen, dass
die regierende Nationale Befreiungsfront (FLN) ihre ursprünglich teils
marxistischen, teils auf ein etatistisches nationales Entwicklungsmodell
bezogenen Vorstellungen in jenem Zeitraum zunehmend durch einen
"identitätsbezogenen" national-religiösen Diskurs austauschte und dabei das
Bildungssystem zunehmend religiösen Kräften überließ. Ursächlich dafür waren
das Scheitern des Versuchs, eine vom westlichen Imperialismus unabhängige
Ökonomie aufzubauen, und die immer konservativer werdende Logik einer mehr
und mehr von Korruption und Autoritarismus durchsetzten Staatspartei. Deren
Eliten wiederum legitimierten ihren im Laufe der Jahre angehäuften Reichtum
damit, dass sie angeblich eine so wichtige Rolle im Befreiungskampf gespielt
hätten.
Diese nachträgliche Wahrnehmung des Krieges, der zur Gründung des
modernen
Algerien geführt hatte, durch die heranwachsende männliche Jugend prägte die
bewaffneten Gruppen, die Anfang der 90er Jahre entstanden, nachdem die
Parteistrukturen des FIS (Islamischen Rettungsfront) durch die Verhaftung
der führenden Kader enthauptet worden waren. Durch einen vermeintlichen
Glaubenskrieg schnell Reichtum und Reputation zu erlangen, das war die
prägende Vorstellung dieser jungen "Kämpfer". Viele von ihnen hatten noch
zwei Jahre davor eher von Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone als
von Mohammed geträumt, wie der französisch-algerische Forscher Luis Martinez
beobachtete.
Dem politisch strukturierten Islamismus gerieten diese autonom
agierenden,
bewaffneten Gruppe deshalb schnell außer Kontrolle. Diese stellten zunächst
eine Art Hooliganismus mit Kalaschnikow und eher oberflächlicher
ideologischer Legitimation dar. Dieser machte sich im Rahmen eines
anfänglich weitgehend unkontrollierten Krisenprozesses breit, vor dem
Hintergrund des Zusammenbruchs der vormaligen staatssozialistischen
Ökonomie.
Vor 10 Jahren: Wendung im Bürgerkrieg?
Vor genau zehn Jahren sah es noch so aus, als ob dieser Krisenprozess zu
Veränderungen des Regimes führen oder zumindest von politischen Kräften in
diesem Sinne genutzt werden könne. Ali Belhadj, der "radikale" Chefideologie
des FIS, der damals vom Regime das unter Druck stand und zu verhandeln
suchte aus seiner Gefängniszelle in Blida befreit worden war und in Algier
unter Hausarrest stand, schickte im Herbst 1994 der GIA-Führung Schreiben,
in denen er sie zum Durchhalten und zu verstärkten Kampfanstrengungen
aufforderte. Daraufhin landete er wieder im Gefängnis. Kurz darauf eröffnete
derjenige Teil der politischen Elite Algeriens, der damals nicht zum engeren
Zirkel der Macht gehörte, in Rom unter internationaler Aufsicht
Verhandlungen mit dem FIS, unter Vermittlung der katholischen Gemeinschaft
von SantŒEgidio.
Diese führten am 13. Januar 1995 zum Abschluss des so genannten "Vertrags
von Rom". Auf der einen Seite standen die ehemalige Staatspartei FLN, die
Berberpartei FFS eine Mitgliedsorganisation der so genannten
Sozialistischen Internationale, des Zusammenschlusses sozialdemokratischer
Parteien und einige kleinere Formationen. Auf der anderen Seite
unterschrieben führende Kader des FIS, die in Deutschland sowie den USA im
Exil lebten. Einer von ihnen, Anouar Haddam, der den FIS in Washington
vertrat und damals auch Kontakte ins dortige Außenministerium hatte,
veröffentlichte aber in jenen Tagen auch Bekennerschreiben der GIA. So
übernahm er für ein GIA-Attentat mit über 50 zivilen Toten am 30. Januar
1995 die politische Verantwortung.
Der Contrat de Rome sollte angeblich, unter den Fittichen wichtiger Teile
der politischen Klasse Europas und der USA, einen Ausweg aus der damaligen
Bürgerkriegssituation offerieren: Militärs, FIS und andere Kräfte sollten
sich am Runden Tisch über Modalitäten eines künftigen Machtübergangs
einigen. Doch in Wirklichkeit handelte es sich lediglich um einen
Formelkompromiss. Um ihn zu erreichen, musste der FIS einigen
Allerweltserklärungen zu demokratischen Prinzipien zustimmen nachdem er
zuvor stets betonte hatte, die göttliche Souveränität sei die Quelle
politischer Macht und nicht die Volkssouveränität. Im Gegenzug erreichte er,
dass auch etwa das Bekenntnis zum "Vorrang des legitimen Gesetzes" in den
Text aufgenommen wurde.
Man könnte mit etwas Naivität annehmen, dass damit etwa an das Naturrecht
als Quelle unveräußerbarer Rechte des Menschen gedacht sei. Was der FIS
darunter verstand, war aber glasklar: das angebliche göttliche Recht. Die
Islamistenpartei weigerte sich zunächst, die französische Textfassung zu
unterzeichnen. Daraufhin unterzeichnete der FIS aber eine arabische
Textversion. Darin wird das "legitime Gesetz" jedoch mit Scharia
übersetzt.
Damit war klar, dass es dem FIS lediglich um eine Legitimierung seines
Machtanspruchs ging. Die algerischen Militärs ihrerseits waren nicht
gewillt, einen Teil ihrer Macht abzugeben, und verweigerten prinzipiell ihre
Zustimmung zu einem solchen Runden Tisch. Damit war das Projekt gestorben.
Unter linksliberalen und auch einigen linken Intellektuellen in Europa
geistert das Gedenken an den "Vertrag von Rom" aber noch bis heute als
angebliche "verpasste Chance" zu einer friedlichen, demokratischen Lösung
herum. So war der Kasseler Professor für internationale Beziehungen Werner
Ruf jahrelang ein glühender Verfechter des "Vertrags von Rom".
Konkurrenz zwischen zwei Herrschaftsstrategien
Die europäischen Politiker waren lange Jahre gespalten. Die französischen
Konservativen unterstützten etwa die Militärs, die in Algerien für den
Erhalt der bestehenden Oligarchie kämpften. Und sie machten sich ihre Vision
der Dinge zu eigen, um in Frankreich Sicherheits- und Ausnahmegesetze gegen
die "gefährliche Masse der Einwandererbevölkerung" durchzusetzen. Dagegen
unterstützten die französischen Sozialdemokraten mehrheitlich das
Vorgehen von FLN und FFS sowie den "Vertrag von Rom". Diese Spaltung
entsprach von Anfang an jener, die auch durch die Reihen der algerischen
Oligarchie ging. Denn während ein Teil von ihr den Islamismus als
gefährliche Herausforderung der Macht der Oligarchie begriff, verstand eine
andere Fraktion ihn als potenzielle, sozial konservative Stütze der Ordnung.
Der Islamismus mit seinem "moralisierenden" Anspruch konnte ihrer Auffassung
nach "die Leute an die Arbeit zurückbringen".
Diese Spaltung reichte bis in die höchsten Kreise der algerischen Armee
hinauf. Dabei handelte es sich von Anfang an nicht um einen Konflikt
zwischen Herrschaft und Emanzipation, sondern um den zwischen zwei
konkurrierenden Herrschaftsstrategien. Die Anhänger des einen Flügels nannte
man éradicateurs (Ausmerzer), jene des anderen réconciliateurs (Aussöhner).
In der algerischen Elite ist dieser Streit heute entschieden, aus einem
banalen Grund: Der radikale Islamismus hat das Ringen um die Macht in den
90er Jahren definitiv verloren, und auch auf internationaler Ebene spüren
die algerischen Militärs seit dem 11. September 2001 Rückenwind. Dennoch hat
das jetzige politische Machtzentrum in Algier auch Bestandteile der
réconciliateur-Strategie in seine Optionen aufgenommen, da der 1999
angetretene Präsident Abdelaziz Bouteflika zwecks Beendigung des
Bürgerkriegszustands auch mehrere "Versöhnungsangebote" an den
islamistischen Untergrund gerichtet hat. Beispielsweise das (auf sechs
Monate) zeitlich befristete Amnestiegesetz von 1999/2000, dem eine
Verhandlung mit Kadern des FIS voraus gegangen ist.
Das politische Scheitern der bewaffneten Gruppen
Die reaktionäre Utopie der bewaffneten Islamisten unterschiedlicher
Schattierungen ist gescheitert. Aber nicht vorrangig deswegen, weil die
Armee (bzw. ihr den éradicateurs zuneigender Teil) einen militärischen Sieg
über ihn errungen hätte. Sondern weil die soziale Basis des radikalen
Islamismus spätestens mit dem Aufkommen des GIA-Terrors zerbrochen ist.
Schon davor zeigte sich, dass die große Mehrzahl der Leute nicht so leben
mochte, wie die radikalen Islamisten es ihnen Regeln, die aus dem 7.
Jahrhundert stammten, buchstäblich folgend vorschreiben wollten. Ihnen ist
es zu verdanken, dass weder FIS noch GIA Siege davontrugen: Die Lehrerinnen
und die Schüler gingen auch weiter zum Unterricht, auch wenn sie als
taghouts (Götzenanbeter) mit dem Tode bedroht wurden. Die Frauen gingen auch
weiter zur Arbeit. Und die öffentlich Bediensteten gaben nicht ihre Jobs
auf, auch wenn ihnen vorgeworfen wurde, dem "gottlosen Staat" zu dienen.
Allmählich beginnt auch der politische Diskurs sich darauf einzustellen,
dass die gesellschaftlichen Realitäten sich verändert haben. 20 Jahre
hindurch, seit dem Aufkommen des politischen Islamismus in den Achtzigern,
hatte die Staatsmacht ein Doppelspiel gefahren: Er übernahm viel von dem
"Moralisierungs"anspruch dieser reaktionären Opposition, wollte ihr aber
gleichzeitig nicht die Macht abgeben.
Noch im Januar dieses Jahres aber soll das Kabinett, kurz darauf das
algerische Parlament über eine Entschärfung des Code de la famille, des 1984
"islamisierten" Frauen- und Familiengesetzes, entscheiden. Die Frau wird
dann nicht mehr den legalen Status einer Minderjährigen unter der Obhut
ihres Vaters oder Ehemanns haben. Ehefrau und Ehemann werden zukünftig im
Scheidungsrecht einander gleich gestellt werden. Die Reform ähnelt sehr
stark jener, die bereits im Januar vorigen Jahres vom marokkanischen
Parlament angenommen wurde.
In beiden Fällen ist die Ursache dieser stückweisen, aber doch spürbaren
Lockerung des repressiven rechtlichen Status der Frauen doppelter Natur. Vor
allem in Algerien, mehr als im konservativeren Marokko, hat es immer aktive
Widerstände von Frauenvereinigungen gegen die reaktionären Gesetze gegeben.
Gleichzeitig machten auch die Europäische Union oder die Weltbank Druck auf
die Staaten, Reformen zur gesellschaftlichen Stellung der Frau vorzunehmen.
Ihnen geht es nicht um Emanzipation, sondern im Kern um die Ausweitung des
Sektors der modernen Lohnarbeit auf Kosten dessen der traditionellen,
unbezahlten Familienarbeit.
Früher hätte eine solche Kombination aus innerem und äußerem,
unterschiedlich motiviertem Druck den Islamisten eine Steilvorlage
geliefert, um die emanzipationswilligen Frauen als "fünfte Kolonne der
kolonialistischen kulturellen Aggression" anzuprangern. Heute dagegen stehen
die Islamisten, die freilich gegen das Reformvorhaben wettern und schimpfen,
eher in der Defensive.
Zugleich wurden in der Nacht vom 3. zum 4. Januar im zentralalgerischen
Biskra relativ harte Urteile im Berufungsprozess gegen die namentlich
identifizierten Urheber schwerer Gewalttaten gegen Frauen gefällt. Im Juli
2001 hatte ein Lynchmob in einem etwas abseits liegenden Viertel der
Ölarbeiterstadt Hassi Messaoud, wo die Elendsprostitution grassiert, eine
Gruppe alleinstehender Frauen zwischen 15 und 30 überfallen und zum Teil
schwer verletzt, vergewaltigt und gefoltert (vgl. dazu
http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/32/16a.htm). Im
ersten Prozess, im Juni 2002 in der Saharastadt Ouargla, waren die
Anklagepunkte der Vergewaltigung und des Mordversuchs fallen gelassen worden
und relativ milde Strafen wegen Unruhestiftung und Diebstahls gefällt
worden.
Anders beim jetzigen Revisionsverfahren: Zwanzig mal wurde die
Höchststrafe
von 20 Jahren ausgesprochen, gegen Angeklagte, die meist flüchtig sind.
Gegen drei anwesende Beschuldigte wurden Haftstrafen zwischen 5 und 10
Jahren verhängt. Dieses Mal wurde auch die sexuelle Gewalt in der
Urteilsbegründung genannt. Eine Premiere in der algerischen
Justizgeschichte, und ein hoffnungsfrohes Zeichen für die elf
Nebenklägerinnen, die anders als eine Reihe anderer bis zuletzt ihre
Klage nicht zurückzogen.
Aber ist auch der "Tod" der islamistischen (reaktionären) Utopie?
Bedeutet dies, dass das politische Projekt der (radikalen) Islamisten in
Algieren "tot" und definitiv gescheitert sei? Ja und nein.
Unzweifelhaft stimmt es, dass die reale Erfahrung mit dem Agieren der
bewaffneten Islamisten im sozialen Alltag während der neunziger Jahre eine
überaus abschreckende Wirkung aus der Bevölkerung hatte. Der Rückgang der
Unterstützung für die islamistischen Militanten und die Wende im algerischen
Bürgerkrieg gehen zuerst auf diese Ursache zurück. Aus dieser Erfahrung
resultiert, wohl noch auf eine längere Sicht und besonders in den von
schweren Massakern betroffenen Landesteilen, eine gewachsene generelle
Skepsis nicht nur gegenüber islamistischen, sondern allen kollektiven
politischen oder sozialen Bewegungen. Dieses Misstrauen trifft nicht nur den
radikalen Islamismus, sondern auch andere gesellschaftliche Kräfte und
Organisationsformen.
Gleichzeitig ist festzustellen, dass die ehemals ihr Hoffnung auf die
Islamisten setzenden Bevölkerungsgruppen zum Teil ihre Wege gefunden haben,
mit der subjektiven Erfahrung umzugehen, ohne deswegen ihr Weltbild
einstürzen zu lassen. Aus dem tiefen Unglauben, dass religiöse Menschen «so
etwas» wie die Massaker anrichten könnten für viele Gläubige eine wohl
kaum zu ertragende Vorstellung heraus wurden in einem Teil der
islamistischen Basis Mittel zur ideologischen Verarbeitung des Geschehenen
gefunden.
Während des Massakersommers 1997 etwa liefen in Algerien in Windeseile
Gerüchte um, wonach Truppen von wilden Gestalten umherzögen und die Massaker
begingen, die sich die Zeigefinger den Finger, mit dem man auf Gott zeigt
abgeschnitten und die Haare mit Henna rot gefärbt hätten. Man erkenne sie
daran, dass sie wilde Flüche gegen Gott ausstießen und Allah akfar
(ungefähr: Gott ist der Ungläubigste) statt Allah akbar (Gott ist am
größten) riefen. Diese Vorstellung, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun
hatte, erfüllte die Funktion, die vorhandenen Ängste zu rationalisieren:
Nicht Gottes- sondern Teufelswerk seien die Massaker. Deswegen können sie
dann subjektiv aber auch kaum noch als das Werk von Islamisten wahrgenommen
werden .
Ein weiterer Grund dafür, dass solche Gerüchte (die auch der
Unterfütterung
der diversen Verschwörungstheorien, die über die Urheberschaft der Massaker
im algerischen Bürgerkrieg kursieren, dienen) Nahrung finden, hängt mit
einem verbreiteten politischen Ohnmachtsgefühl zusammen. Drei Jahrzehnte
einer übermächtigen staatlichen Einheitspartei, in denen die Sécurité
militaire als politische Polizei erhebliche Vollmachten hatte und hinter
zahlreichen Manipulationen steckte, gingen nicht spurlos an den Menschen
vorbei: Ungewohnt, dass politische Kämpfe ausgestragen werden, die sich
lange Zeit hinter der monolithischen Fassade der Staatspartei abspielten,
halten viele Algerier noch heute politische oder gesellschaftliche Konflikte
generell für eine bloße Inszenierung. Daraus resultiert eine verbreitete
Neigung, entweder <le pouvoir> die Staatsmacht, die vermeintlich zu allem
fähig scheint hinter allen erdenklichen gesellschaftlichen Erscheinungen
stecken zu sehen, oder aber «das Göttliche» respektive «das Böse» als
Erklärungshilfe heranzuziehen.
Religiöse Vorstellungen als solche prägen nach wie vor weite Teile der
algerischen Gesellschaft. Daraus können aber noch keine direkten politischen
Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Tendenz dazu, «im nächsten Schritt»
religiöse Erklärungsmuster auch zur Deutung gesellschaftlicher Phänomene und
Probleme heranzuziehen, ist ihrerseits Schwankungen unterworfen.
Das war in den letzten Jahren vor allem anhand der verschiedenen
Naturkatastrophen zu beobachten, die Algerien heimsuchten wobei
widersprüchliche Feststellungen zu machen sind. Im Vorfeld der auf der
Nordhalbkugel zu beobachtenden Sonnenfinsternis vom 11. August 1999
beispielsweise war offenkundig, wie stark irrationale und mit «Gottes
Willen» oder «göttlicher Strafe» operierende Erklärungsmuster in Teilen der
Bevölkerung noch vorhanden waren und damals in verantwortungsloser Weise
auch durch einen Teil der (Sensations-)Presse unterhalten wurde. Diese
Erfahrung lässt sich aber nicht auf alle größeren, einschneidenden
Ereignisse der letzten Jahre übertragen.
So wurde am 10. November 2001 Bab el-Oued, ein innerstädtisches
Armenviertel
in Algier, von einer verheerenden Regenkatastrophe heimgesucht. Dabei
rutschten ganze Häuser in Folge der sintflutartigen Regenfälle weg, und
zahlreiche Menschen wurden unter Strömen von Schlamm, Schutt und in den
Wasserfluten mitgeführten Autowracks begraben. Hauptursache dafür war die
Vernachlässigung von Bebauungsplänen und Sicherheitsvorschriften in den
Stadtteilen, die oberhalb von Bab el-Oued an den Anhöhen von Algier liegen;
deswegen konnte sich eine reißende Flut bilden, die sich im tiefer liegenden
Bab el-Oued ins Mittelmeer ergoss. Daneben konnte den Behörden Schlamperei
vorgeworfen werden, weil diese den Katastrophenschutzplan viel zu spät
ausgelöst hatten. Rund 800 Menschen starben, und 10.000 wurden obdachlos. In
dieser Situation war bemerkenswert, dass nach übereinstimmenden Aussagen
fast alle Betroffenen nach rationalen Erklärungen suchten und das Agieren
der Behörden sowie der Baumafia ins Visier nahmen.
Dass die Erklärung der Katastrophe als «Strafe Gottes» so gut wie keine
Anhänger fand, lag aber auch an der Regierung und ihrem billigen Versuch,
sich darauf hinauszureden: Präsident Abdelaziz Boutefliqa hatte in seiner
ersten Erklärung geäußert, Gott sei für das Geschehen verantwortlich, und
gegen «göttlichen Willen» seien die Menschen «nun einmal machtlos». Deswegen
wurde er bei seinem Besuch in den Trümmergebieten in den folgenden Tagen
schrecklich ausgepfiffen. Das bedeutet nicht, dass Islamisten nicht
indirekt doch ein bisschen Nutzen daraus gezogen hätten, aber auf einer
anderen Ebene: Manche Bewohner meinten im Nachhinein, ihr Stadtteil sei vom
Regime deswegen «gestraft» worden, weil er 1991 mehrheitlich FIS wählte.
Andersartige Beobachtungen konnten nach dem Erdbeben vom 21. Mai 2003 im
östlichen Umland von Algier mit Schwerpunkt in Boumerdès, das rund 2.500
Menschenleben kostete, angestellt werden. Zahlreichen Berichte von vor Ort
bestätigen, dass die Katastrophe von vielen Menschen spontan als Ausdruck
göttlichen Zorns interpretiert wurde. Sicherlich auch, weil ihnen von
einflussreicher Seite keine rationale Erklärung angeboten wurden und die
Behörden viel zu spät wirksame Katastrophenhilfe leisteten; Boutefliqa
musste auch dieses Mal einen sehr unangenehmen Empfang erleben und wurde aus
einem Vorort von Boumerdès, Zemmouri, mit Steinwürfen vertrieben . Dabei war
auch hier zumindest die Missachtung von Bauvorschriften flagrant, die dazu
führte, dass, um Geld zu sparen, Häuser errichtet wurden, die beim Erdstoß
sofort entzwei rissen. Die Angst vor weiterer «göttlicher Rache» führte
dazu, dass viele Frauen, die bisher ihr Kopfhaar unverhüllt trugen, noch am
selben Wochenende das Erdbeben passierte an einem Donnerstagabend, also am
Vorabend des wöchentlichen Gebets- und Ruhetags, dem europäischen
Samstagabend entsprechend den Hijab anlegten. Verschiedentlich war
gegenüber jenen, die dem nicht folgten, zu hören: «Wegen Leuten wie Euch
werden wir bestraft!» Diese Welle schwappte auch auf die Hauptstadt Algier
über, die von der Erdbebenkatastrophe mit betroffen war. Religionsminister
Bouabdellah Ghlamallah musste sogar damit drohen, solche Vorbeter in den
Moscheen zu sanktionieren, «die sich für die Bestrafung von Frauen
aussprechen, die das Tragen des Hijab verweigern, weil sie die Quelle des
Unglücks der Katastrophenopfer seien» .
Manche algerische Zeitungen suchten die Ursache dafür teilweise darin,
dass
die Islamisten sehr aktiv in der Verteilung von Hilfsgütern und spontanen
Hilfsdiensten gewesen seien. Doch diese Version wird von anderen Beobachtern
in Frage gestellt oder allenfalls als Teil der Wahrheit angesehen, da
keineswegs allein die Islamisten, sondern zahllose algerische Bürger aller
Richtungen spontan nach Boumerdès eilten und die Hilfe organisierten. Daran
allein kann es also demnach nicht liegen, dass das Bedürfnis nach auf
«höheren Willen» gestützten Welterklärungen sich nach dem Erdbeben von 2003
derart ausbreitete.
Das Aktivieren religiöser Weltvorstellungen zum Zweck der Erklärung von
Ereignissen, die natürliche und vor allem gesellschaftliche Ursachen haben,
wird auf absehbare Zeit ein gesellschaftlicher Faktor in Algerien bleiben.
Zumal die Hoffnung auf kollektive soziale und politische Lösungen für den
Berg an Problemen, den es zu bewältigen gilt, schwach ausgeprägt ist.
Dennoch herrscht heute ein verbreitetes Misstrauen und Zögern gegenüber
solchen Diskursen, die eine direkte Verbindung zwischen diesen religiösen
Vorstellungen und politischem Handeln suggerieren also in Gestalt der
Vorstellung, unter Berufung auf göttlichen Willen lasse sich eine perfekte
Gesellschaftsordnung errichten, notfalls mit der Waffe. Auf absehbare Zeit
wird diese Form des politischen Totalitarismus kaum Chancen haben, erneut
eine massenhafte, aktive Anhängerschaft mobilisieren zu können: Dafür sitzt
das Misstrauen heute wahrscheinlich in weiten Kreisen zu tief es sei denn,
dass dramatische Ereignisse oder eine drastische Verschlimmerung der
sozialen Lage breiter Bevölkerungskreise hin zu einer neuen unmittelbaren
Politisierung der religiös unterlegten Welterklärungen und Hoffnungen
drängen.
Gleichzeitig bleibt die Abwesenheit einer anderen anziehungskräftigen
gesellschaftlichen Alternative, progressiver Natur, der wichtigste
Verbündete des politischen Islam. Eine solche gesellschaftliche Bewegung ist
heute als die Menschen aufrüttelnder oder organisierender Faktor nicht in
Sicht. Und doch herrscht keineswegs soziale Friedhofsruhe in Algerien; es
gibt zahlreiche Revolten und Bewegungen, in denen sich das Interesse der
Marginalisierten und Rechtlosen spontan ausdrückt. Die Islamisten müssen ein
solches Aufbegehren für konkrete soziale Interessen ebenso fürchten wie das
vorhandene Regime, zeigt es doch, dass diese gesellschaftliche Ursachen
haben und gesellschaftlich gelöst werden können.
Editorische Anmerkungen
Der Autor stellte uns seinen Text
am 31.1.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung.
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