Betrieb & Gewerkschaft
Frankreich: Soziale Bewegungen werden wieder munter
Zwischen der Streikwoche Ende Januar und neuen Mobilisierungen


von Bernhard Schmid

02/05

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Ein Parfum von sozialer Aufbruchstimmung liegt seit kurzem anscheinend wieder über Frankreich. Ein Jahr lang hatte alles danach ausgehen, als ob die Niederlage, die im Sommer 2003 auf die Massenstreiks gegen die regressive "Reform" der Rentensysteme folgte, den Gewerkschaftern und kampfeswilligen Beschäftigten bleischwer in den Knochen stecke.

Demoralisierung schien vorzuherrschen. Es ist schon beeindruckend, wie der Premierminister Jean-Pierre Raffarin in den letzten anderthalb Jahren, obwohl er einen der meistbelächelten Politiker bildete und zahlreiche Witze über den tollpatschigen und provinziellen Konservativen kreiert worden sind, zugleich Fakten auf Fakten schaffen konnte. Er wird in seiner bald dreijährigen Amtszeit einer derjenigen französischen Regierungschef bleiben, unter deren Regie wohl die meisten Veränderungen durchgesetzt wurden ­ die aber fast alle rückwärts gewandt sind und den Abbau oder die Zerstörung einstiger sozialer Errungenschaften zum Gegenstand haben. Die Rentenversorgung, das 1945 geschaffene Sozialversicherungssystem der Sécurité Sociale, die öffentlichen Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF und demnächst auch die französische Post ­ all das wurde entweder schwer lädiert oder einer, zumindest teilweisen, Privatisierung preisgegeben. Und demnächst sollen auch noch die Arbeitszeiten verlängert werden, deutsche Konzerne haben es vorgemacht.

Aber alles hat seine Grenzen, und so scheint auch die einige Monate lang vorherrschende Bewegungslosigkeit oder gar Apathie jetzt an manchen Stellen überwunden. Die Streikbewegungen in vielen öffentlichen Diensten an drei aufeinanderfolgenden Tagen der vorletzten Januarwoche können überwiegend als Erfolg gelten, und neue Mobilisierungstermine in den kommenden Wochen stehen bereits fest.

Den Auftakt machte am Dienstag (18. Januar) La Poste, weil an diesem Tag die Debatte in der französischen Nationalversammlung über das "Gesetz zur Regulierung der Postdienstleistungen" begann. Der Entwurf, der am darauf folgenden Donnerstag tatsächlich in erster Lesung verabschiedet wurde, sieht unter anderem die totale Öffnung aller postalischen Aktivitäten für private Konkurrenz aus der gesamten EU bis 2009 vor. Ferner soll die Postbank aus dem bisherigen öffentlichen Dienstleistungsunternehmen La Poste herausgelöst und mit einem autonomen Statut ausgestattet werden; private Banken, im Gespräch ist bereits konkret die Société Générale, sollen bis zu 50 Prozent der Kapitalanteile an dem neu zu bildenden Kreditinstitut übernehmen können. Damit, so wird allgemein befürchtet, dürfte auch die bisherige Sozialbindung entfallen, aufgrund derer die Postbank bisher auch Sozialhilfeempfängern und anderen "unrentablen" Kundinnen bisher nicht die Eröffnung eines Kontos verweigern darf; und die Guthaben der Postbankkunden dürften auch zu spekulativen Finanzoperationen herangezogen werden. Ein Bericht, den die Pariser Regierung beim Rechnungshof bestellte, sieht ferner vor, 20 Prozent der Personalkosten einzusparen und über die Hälfte der Postämter, vor allem in ländlichen Zonen und manchen "sozialen Problemvierteln" der Banlieues, dicht zu machen oder durch einen Briefmarkenverkauf beim Lebensmittelhändler zu ersetzen.

Trotz alldem war die Arbeitsniederlegung bei der Post die am wenigsten erfolgreiche der Streikwoche im Januar; die Beteiligung betrug landesweit rund 15 Prozent, in Paris fiel sie dagegen besser aus. Eine Rolle dabei spielte, dass von derzeit knapp 320.000 Postbediensteten aktuell noch 200.000 verbeamtet sind, während rund 100.000 bereits nach diversen privatwirtschaftlichen Verträgen (vom unbefristeten Arbeitsvertrag bis zur Zeitarbeit) beschäftigt sind. Der Streikaufruf richtete sich nur an Erstere, da die privatrechtlich Beschäftigten viel leichter ihren Arbeitsplatz riskieren und weil die lohnbezogenen Forderungen im öffentlichen Dienst nur die verbeamteten PostlerInnen betreffen, während die Gehälter ihrer "privaten" Kollegen auf anderem Wege festgelegt werden.

Die öffentlich Bediensteten in Frankreich haben seit Beginn des Jahrzehnts 5 Prozent an Kaufkraft verloren. Deswegen gilt die Entscheidung der Regierung, ihre Löhne in diesem Jahr um nur ein Prozent anzuheben, als "Provokation für die Gewerkschaften", so die Wirtschaftszeitung La Tribune vom 17. Januar. Das war auch einer der Anlässe für die Ausstände der Eisenbahner am Mittwoch (19. 01.) und an den Schulen sowie in einigen anderen öffentlichen Diensten am Tag darauf. In beiden Fällen ging es aber auch um die Verteidigung der Arbeitsplätze und damit auch der Nutzer der services publics: Bei der Bahngesellschaft SNCF, deren Jahreshaushalt am vorigen Mittwoch verabschiedet wurde und die derzeit Gewinne einfährt, sollen im laufenden Jahr 3.600 Arbeitsplätze durch Nichtersetzung der altersbedingten Abgänge vernichtet werden, größerenteils im defizitären Gütertransportbereich, obwohl dessen Entwicklung ökologisch dringend geboten schiene. Auch über 3.000 Lehrerstellen sollen im Herbst dieses Jahres wegfallen, vor allem im sozialen Krisengebiet zwischen Lille und der belgischen Grenze. Mit 40 Prozent bei der SNCF und über 50 Prozent bei den LehrerInnen fiel die Beteiligung an den Ausständen noch besser aus, als die Gewerkschaften erwartet hatten.

Eine Vollversammlung von Streikaktivisten fasste dem Schulbereich nahm am Ende der "bewegten Woche" im Pariser Gewerkschaftshaus bereits einen Beschluss für neue Aktionen. So soll am 1. oder 3. Februar erneut gestreikt werden, wenn genügend Schulen mitziehen, da kurz danach (geschickterweise, während die Lehrer großenteils in Winterferien sind) das Gesetz zur Zukunft des Schulwesens im Parlament beraten wird, gegen das am 15. Februar auch in Paris demonstriert werden soll.

Ein weiteres wichtiges Datum ist der kommende Samstag,, 5. Februar. Dann wollen sechs Gewerkschaftsorganisationen ohnehin gegen die bevorstehenden Angriffe der rechten Regierung auf die 35-Stunden-Woche demonstrieren. Die Lehrer wollen sich nun anschließen und damit eine Konvergenz zwischen Privatwirtschaft und öffentlichen Diensten schaffen. Das ist ein überaus wichtiges Ziel. Dennoch steht nicht fest, ob aus den Demos am 5. Februar eine wirkliche Dynamik erwachsen kann. Denn die real existierende Reform zur Einführung der 35-Stunden-Woche, die unter der sozialdemokratischen Regierung Lionel Jospins von 1998 bis 2000 schrittweise erfolgte, ist auch vielen Lohnabhängigen nicht als sozialer Fortschritt in guter Erinnerung; sie bildete vielmehr das süße Zuckerl, das die bittere Pille einer starken Ausweitung flexibler, nach den Bedürfnissen der Unternehmen variierender Arbeitszeiten umgab. Was die derzeitige Regierung plant, läuft jedoch darauf hinaus, das Zuckerl wegzunehmen und dennoch die bittere Pille weiterhin zu verabreichen ­ in höheren Dosen, etwa durch eine starke Erhöhung der zulässigen Überstundenzahl. Bewusstsein dafür zu schaffen, ist notwendig, wird aber durch die Bilanz der Jospin-Regierung erschwert.  

Editorische Anmerkungen

Der Autor stellte uns seinen Text am 1.2.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung. Eine gekürzte Fassung erschien in der 'Wochenzeitung' (WoZ), Zürich