Mary Kreutzer/Thomas Schmidinger (Hrsg.): Irak - Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie? (Ca Ira Verlag 2004 19,00 Euro)

Die andere Realität des Irak
von Peter Nowak

02/05

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Ein Sammelband lässt diejenigen zu Wort kommen, die im Irak mit dem Sturz Saddam Husseins in erster Linie Chancen und Hoffnung verbinden.

Es gibt eine Art von KritikerInnen des Irakkriegs, die bestenfalls als moralisch bezeichnen werden können. Michael Moore ist ihr wohl bekanntester Vertreter. Für diese ist US-Präsident Bush und sein Clan für alles Böse auf der Welt verantwortlich. Kein Wunder, dass eine solche Einstellung in den Ruf nach dem besseren Präsidenten mündete, für den Moore zeitweise sogar den Jugoslawienkrieger Wesley Clark hielt.

Nun gibt es Linke, die dieses simple Bush-Bashing mit guten Argumenten kritisieren und vor den Fallstricken von Antiamerikanismus und verkürzter Kapitalismuskritik warnen. Ein Teil dieser Linken hat jetzt gemeinsam mit irakischen ExilpolitikerInnen meist kurdischer Herkunft im Freiburger Ca Ira-Verlag einen Sammelband über den Irak herausgegeben. Doch eine fundierte materialistische Analyse des Baathismus und des Saddam-Regimes wird darin vergeblich gesucht. Statt Bush ist in dem Sammelband Saddam Hussein, sein Clan und die Baath-Partei für alles Übel verantwortlich. Die AutorInnen machen sich über die allgegenwärtigen NahostexpertInnen lustig, die gegen den US-Krieg mit moralischen Argumenten Front machten. Doch selber bieten sie sich als alternative ExpertInnen an, die überwiegend das Hohelied der Befreiung des Irak singen und sich am Wettbewerb um die bessere Herrschaft im Irak beteiligen.

Die berechtigte Kritik, dass sich die KriegskritikerInnen die Realität nach ihrer eigenen Meinung zurechtbasteln und über die Verbrechen des Baathismus schweigen, wird durch eine andere Realitätsschaffung ersetzt, die ebenfalls vieles ausblendet, was nicht ins Bild passt. Natürlich können die VerfasserInnen begründen, warum sie den medial breit ausgewalzten Fakt der nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen oder die Folterungen durch US-und britische Soldaten in Abu Ghraib nicht in den Mittelpunkt ihrer Beiträge stellen wollen. Aber rechtfertigt das die fast zwanghafte Ausblendung des Themas in einem Buch, das sich immerhin der Frage widmet, ob sich Irak auf dem Weg zur bürgerlichen Demokratie befindet? Lediglich Thomas Schmidinger geht im Abschlussbeitrag kurz auf die Folterungen in der Post-Saddam-Ära ein, aber nur um zu bedauern, dass dadurch das baathistische Foltergefängnis Abu Ghraib in den Hintergrund gerät.

Zu den Kriegsgründen nimmt Mary Kreutzer Stellung. Sie verwirft mit Recht Positionen, die nur einen platten Krieg um Öl sehen. Zustimmend zitiert sie den Berliner Politologen Herfried Münkler, der in dem Krieg im Irak den Versuch der USA sieht, im Nahen Osten erdölproduzierende Rentierstaaten in steuereintreibende neoliberale Staaten umzuwandeln. Diese These hat einige Plausibilität, doch wo dabei die Chancen einer größeren Partizipation der Bevölkerung liegen sollen, kann die lange Zeit in der Lateinamerikasolidarität aktive Mary Kreutzer nicht erklären. Denn nicht nur das Beispiel Chile zeigt, dass der Abbau von Verwertungsblockaden für das Kapital und Partizipation der Bevölkerung oft antagonistische Widersprüche sind.

Ein anderes Beispiel für die Realitätsklitterung zeigt sich auch bereits am Titelbild des Buches. Die stürzende Saddam-Statue wird in mehreren Artikeln als Signal für die Befreiung bewertet. „Es waren diese Statuen und Bilder, die als erste fielen bei der Befreiung, die getragen schien von der ungeheuren Wut der Bilderstürmerei, mit der an der Statue das Unrecht gerächt wurde, das dem Menschen zugefügt wurde“, schreiben die Nahostexperten Uwer und Osten-Sacken. Nun wäre doch aber eher die Frage interessant, warum nur ein sehr geringer Teil junger Menschen beim Fall der Statute jubelte. Das Autorenduo Uwer/Osten-Sacken kommt manchmal zu merkwürdigen argumentativen Verrenkungen. So beschreiben Uwer/Osten-Sacken eine Gruppe von Männern, die sich über die Müllberge in einem Stadtteil von Bagdad aufregen und dafür die USA verantwortlich machen: „Die nahe liegende Tatsache, dass der stinkende Müll nicht von den Amerikanern, sondern von den Anwohnerinnen und Anwohnern selbst achtlos dort hingeworfen wurde, war bereits vollkommen überlagert von einer langen Kette hintergründiger Kausalitäten, die selbst das Einfachste noch in den Bereich hochgradig abstrakter Sinnzusammenhänge stellen.“ Nun ist nicht anzunehmen, dass die AnwohnerInnen tatsächlich glaubten, US-Soldaten würden dort heimlich ihren Müll abladen. Sie beschwerten sich vielmehr über die zusammengebrochene Müllentsorgung, die man auch mit etwas Selbsthilfe nicht von alleine regeln kann. Das Autorenduo schreibt selber, dass die Beschwerden Erfolg hatten und die Müllberge schließlich von US-Soldaten und BewohnerInnen gemeinsam geräumt wurden. Die Aktion könnte also auch als erfolgreiche Bürgerinitiative bezeichnet werden.

Der Grossteil der 25 AutorInnen des Sammelbandes kommt aus dem Irak. Natürlich sind keine Baathisten und Islamisten vertreten, wie die Herausgeber im Vorwort betonen. Das ist auch gut so. Doch es wäre sicher interessanter gewesen, mehr AutorInnen zu gewinnen, die weder Baath noch Besatzung propagieren. Der Beitrag der Feministin und Aktivistin der von den Herausgebern gleich als linksradikal titulierten Arbeiterkommunistischen Partei, Houzan Mahmoud, über die Frauenbewegung ist hier besonders interessant. Sie schwelgt nicht in Befreiungsrethorik, sondern liefert eine nüchterne und erschreckende Bilanz der Situation der Frauen im Nach-Saddam- Irak. Sie beschreibt, wie Islamisten überall die Rechte der Frauen zurückzudrehen versuchen. Aber sie zeigt auch, wie durch Selbstorganisation Erfolge erzielt werden konnten. So wurde der Versuch islamischer Gruppierungen, die Scharia zur Grundlage der Rechtssprechung zu machen, abgewehrt.

Solche nüchternen Analysen fehlen vor allem bei vielen rein ethnisch argumentierenden AutorInnen, egal ob sie auf kurdischer, yezidischer oder assyrischer Basis stehen. Oft darf nicht der Hinweis fehlen, welch lange Geschichte ihre Ethnie auf dem irakischen Territorium hat. Das ist von einer Perspektive der Betroffenen erst mal verständlich. Doch viele der österreichischen oder deutschen AutorInnen haben sich noch vor Jahren vehement gegen eine solche ethnische Orientierung ausgesprochen, wenn es um die PKK in der Türkei ging. Ist nicht die Errichtung eines bürgerlichen Nationalstaats vom Standpunkt der bürgerlichen Demokratie ein grösserer Fortschritt als eine Ethnisierung? Das ist eine der vielen Fragen, die mit der Sammelband aufwirft. Immerhin merkt Schmidinger kritisch an, dass in kurdischen Gruppen gerne vergessen wird, dass es unter ihnen durchaus probaathistische Strömungen gab. So werden auf einmal alle Kurden zu Opfern - und Täter sind nur die Anderen. Dass im innerkurdischen Krieg im Nordirak einmal die baathistische Armee zu Hilfe gerufen wurde, die dabei gleich zahlreiche Oppositionelle erledigte, wird nicht erwähnt.

En passant erfährt der/die LeserIn einiges über die Geschichte der irakischen Linken und merkt auch, wie bis heute bestimmte historische Ereignisse der irakischen Geschichte völlig unterschiedlich bewertet werden. Während Kasim Talaa von der Kommunistischen Partei des Irak den 1936 putschenden General Bakr Sidqi noch immer als zumindest anfänglich progressiv einschätzt, sieht der Europa-Sprecher der assyrischen Bewegung, Thomas Shairzid, in eben diesem General einen den Hauptverantwortlichen für Massaker an ethnischen Minderheiten.

Der Irak wird die Weltöffentlichkeit auch noch lange nach den Wahlen beschäftigen. Wer die Gedankenwelt und Vorstellungen derer kennen lernen will, die mit dem Sturz des Baathismus Hoffnung auf eine Befreiung der Menschen verbinden, sollte diesen Sammelband lesen. Doch ob sich der Irak auf den Weg zur bürgerlichen Demokratie befindet? Ist das beim gegenwärtigen Stand des Kapitalismus weltweit überhaupt möglich? Diese Frage muss zwangsläufig offen bleiben. Allerdings haben die Wahlen im Irak gezeigt ,dass sich ein recht hoher Prozentsatz der IrakerInnen trotz der Drohungen des baathistisch-islamistischen Untergrunds nicht von der Stimmabgabe abhalten ließ. Ein nicht geringer Prozentsatz verfolgte damit ethnische Interessen, ein anderer Teil will möglichst schnell eine islamisch-schiitische Herrschaft, viele wollen eine demokratische Legitimation um die Truppen der USA und Großbritanniens möglichst schnell zum Verlassen des Iraks zu veranlassen. Doch eines zeigen die Wahlen auch: jene Rüdiger Göbels Werner Pirkers (junge Welt) und wie sie alle heißen, die sich rhetorisch im sicheren westeuropäischen Hinterland am „irakischen Widerstand“ berauschten, müssen erkennen, dass sie mal wieder einer Chimäre aufgesessen sind. Vielleicht sind manche der AutorInnen des durchaus kritikwürdigen Buches näher an den Bedürfnissen großer Teiler der irakischen Bevölkerung als die Freunde des baathistisch-islamistischen Untergrunds, den sie beschönigend irakischer Widerstand nennen.  

Editorische Anmerkungen

Der Autor stellte uns seinen Text am 1.2.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung.