Wenn ein Lied meine Lippen verlässt 02/05

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Im Radio, in den TV-Musiksendern, in den Charts – soviel Deutschpop war noch nie. Haufenweise neue, junge, deutsche Bands. Die allgemeine Liedsprache verschiebt sich von Englisch zu Deutsch, die Texte wenden sich dem eigenen, privaten Selbst zu. Eine Allianz aus mittelständischen UnternehmerInnen, KulturfunktionärInnen, KünstlerInnen und PolitikerInnen fordert »aus Sorge um den Nachwuchs«, eine 50-Prozent-Quote von in Deutschland produzierter Musik für die Rundfunkanstalten. Diese soll uns auch vor dem unerträglichen Dudelfunk sowohl öffentlich-rechtlicher wie privater Prägung retten. Unter einigen unangenehmen Zeitgenossen herrscht Aufbruchstimmung. Angesichts der Krise der Musikindustrie wird ein »deutsches Popbewusstsein« (Tim Renner) propagiert.

Aber diese Krise ist selber schon Ausdruck davon, dass sich neue Kanäle und neue Musikstile jenseits und »unterhalb« des Mainstream geöffnet haben, neue Möglichkeiten des Machens, Genießens und Vertreibens von Musik. Die Frage nach »besserer Musik« impliziert die Kritik an einem Verwertungszwang, für den Musik selber zum Problem geworden ist.

The Downward Spiral

Ende 2003 hatten sämtliche im Bereich Popmusik tätigen Großkonzerne angekündigt, sich künftig bei der Vermarktung »nationaler KünstlerInnen« auf einige wenige gut verkaufende Acts zu beschränken. Das ist Teil eines umfassenden Sparprogramms, mit dem sie auf den seit Jahren rückläufigen, zuletzt katastrophal eingebrochenen Tonträgermarkt reagieren: Schließung von Abteilungen, Entlassungen bis hinauf in die Führungsebenen, Fusionen (vgl. BMG/ Sony) – also das volle, auch aus anderen Bereichen kapitalistischer Industrie bekannte Programm. Schon in den Jahren zuvor hatten die Konzernleitungen mit Kostensenkungsprogrammen auf die rückläufigen Verkaufszahlen reagiert – und damit ihre Produkte weiter verschlechtert. »Nachwuchsförderung« in Form von Castingshows, bei denen ein Teil des Produktionsprozesses selber verkauft werden sollte, erwiesen sich als Sackgasse. Immer kürzer wurde die Halbwertszeit solcher Veranstaltungen, die alle möglichen bizarren Gestalten, aber nicht die gewünschten »Superstars« fanden. Die Musik klang immer gleich – ein lebloser Mix aus miesem Rap und schlechtem R’n’B-Geschmachte, Musical-Pathos und lieblos aus der internationalen Szene zusammengeklauten Hintergrundtracks. Genauso klischeehaft und unglaubwürdig wie das Glitzerimage der für diese Shows rekrutierten Teenager.

Mit ihren Kostensenkungsprogrammen verschärften die Multis ihre Absatzkrise. Die Korrekturen auf der Wertseite verminderten den Gebrauchswert des Produkts noch weiter. Popmusik wirkt nicht nur über schmissige Rhythmen und eingängige Melodien, Kundenbindung wird auch durch Identifikation mit dem Produkt und die Vermittlung von Alltagsideologie hergestellt. Pop funktioniert emotional, er hat einen »Gefühlsvereinigungseffekt«. Mit für den Klingeltonmarkt produzierten Popsongs lässt sich kurzfristig viel Kohle machen, und sie kommen vielleicht sogar in die Chartlist (»call on me«), aber sie führen nicht zu langfristigem Erfolg, der allein »Investitionen in den Künstler« rentabel machen kann.

Die Leerstelle, die der Verzicht der Multis auf den Geschäftsbereich »Nationaler Nachwuchs« aufmachte, wurde umgehend durch einen in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen alternativ-mittelständischen Sektor der Musikindustrie wieder gefüllt.

Steigt Gefahr aus der Dunkelheit…

»Wer (kann) künftig bei nationalen Künstlern eine Rolle … spielen? – Das werden eher die Indies sein, weil die das wollen und dürfen und vielleicht sogar auch müssen – weil ihnen nichts anderes übrig bleibt«. (Fitz Braum, Geschäftsführer / Teilhaber von Four Music, dem Label der Fantastischen Vier)

Die Independent Labels sind zum größten Teil in den 80er Jahren entstanden, um Musik zu veröffentlichen, die auf dem »richtigen« Markt keine Chance hatte. Einige traten ausdrücklich mit dem Anspruch an, Zensur von Texten wie Musik zu unterlaufen. Seitdem hat sich einiges geändert. Die Krise hat auch bei den »Alternativen« ihre Spuren hinterlassen, so z.B. die Pleite des Vertriebs EfA. Aber Labels wie Kitty-yo, K7 und L’âge d’or sind zu etablierten, erfolgreichen Unternehmen geworden. Von ihrem Ursprung her nahe an den Szenen, in denen Innovations- und Experimentierfreude selbst schon Produktionsmittel sind, genießen sie einen besseren Ruf als die Unterhaltungsmultis, besonders was Betreuung der MusikerInnen und Engagement betrifft. Man bedient sich weiterhin der Arbeitsweisen, die im underground entwickelt wurden. Mensch kennt sich, kann (ex–) subkulturelle Netzwerke zwischen MusikerInnen, LabelbetreiberInnen, Vertrieben, Presse-, Fernseh- und RundfunkjournalistInnen nutzen. Man legt Wert darauf, »als integeres Bindeglied zwischen Musikschaffenden und der Industrie aufzutreten« (Selbstdarstellung von Four Music auf ihrer website).

Die Dienste, die Four Music in der Vergangenheit für die Mainstreamisierung deutschsprachigen Souls, Reggaes und HipHops geleistet hat, haben sich ausgezahlt. Es ist momentan das erfolgreichste Plattenlabel in der BRD, gegen den Branchentrend haben sie »seit 2002 den Umsatz ungefähr verdoppelt« (Fitz Braum). Sie sind Teil eines ganz anderes Trends: »Konzernunabhängige kleine und mittlere Musikfirmen, also Independents in Deutschland und die Kernzielgruppe der GermanSounds-Services konnten ihren Marktanteil in den letzten Jahren auf 25 Prozent ausbauen … Der Anteil nationaler Produktionen lag bei den Independent-Labels im Schnitt bei 78 Prozent…« (germansounds.de; s.u.). Der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft verlautbarte in seinem Jahreswirtschaftsbericht, »deutsche Musik [war im Jahr 2003] in den Charts so stark wie nie zuvor«. Fast ein Drittel der in den Hitparaden vertretenen Alben und mehr als die Hälfte der Singles stammten »aus dem nationalen Repertoire«.

… wär ich zum letzten Schlag bereit.

Der Wandel in der Produktions- und Vertriebsstruktur geht einher mit einer Veränderung von Musik und Texten: Der Hedonismus der 90er Jahre ist gemeinsam mit dem Neuen Markt zerschellt. An seine Stelle tritt ein Befindlichkeitsdelirium, das neben einer sich permanent ausweitenden Egozentrik auch Raum für christlich bis esoterische wie für nationalistisch-reaktionäre Inhalte bietet. Jüngstes Beispiel dafür ist das Stück »Wir sind Wir« der Kollaboration Peter Heppner / Paul von Dyk. Letzterer war bisher eher durch bombastischen TechnoPop-Kitsch und sein Programm für CD-Kopierschutz aufgefallen. Heppner, hauptberuflich Sänger des Elektro-Gruftpop-Duos Wolfsheim, hatte schon 1998 für Joachim Witt dessen Stück Die Flut eingesungen. In Verbindung mit dem dazugehörigen Video wurden dort Pathos und Selbstmitleid mit sozialdarwinistischem Durchsetzungswillen des einzelnen gegen die »Masse« verquickt.

In einem Interview erklärt das Duo, die Idee zu dem Lied sei ihnen durch den Film Das Wunder von Bern gekommen, und gibt Interpretationshilfe: »Was immer auch passiert, wir lassen uns nicht unterkriegen, denn ’wir sind wir‘ […] Wie im Jahre 1954, so haben auch viele Deutsche in Ost und West Teile ihres Selbstwertgefühls verloren, sind orientierungslos und haben Angst vor dem, was die Zukunft bringt.« (Bliebe zu fragen, ob hier nicht zwei Zahlen verdreht wurden: 54 war man doch schon wieder wer!?)

Wir sind wir lässt jeweils ein Erzähler-Ich West und ein Erzähler-Ich Ost die deutsche Volksseele beschwören, die sich auch durch Weltkrieg und Staatssozialismus nicht kleinkriegen läßt. Die NS-Vernichtungspolitik wird nicht erwähnt, aber der Krieg hat großes Unglück über »Wir« gebracht. Der DDR wird hinsichtlich der Schaffung von Volksgemeinschaft noch etwas Gutes abgewonnen: »Vierzig Jahre zogen wir an einem Strang / aus Asche haben wir Gold gemacht.«

In diesem Stück kommen der nationalistische Diskurs, der »aus dem Schatten der Geschichte treten« will, um zur »modernen und selbstbewussten Nation« zu werden und Mainstreampop zusammen. Darin hat es Vor- und Mitläufer. Zum Beispiel MIA., die – ganz Walser-Enkel – Deutschland total cool finden und nicht ständig mit den alten Geschichten belästigt werden wollen. Oder Rammstein, dumpf-schlaue Marketingstrategen in eigener Sache, ultra-mackeriges Auftreten, tumber Tech-Metal, gepresster Gesang mit viel rollendem Rrrrr. Eine Entwicklung, die auch Nazis freut: »Deutsch-Sein [ist in der Popkultur] vom Nachteil zum Mehrwert geworden« so die NPD-Zeitung Deutsche Stimme. Darauf deute neben dem Erfolg der »Musikgruppe Rammstein, die schon vor einigen Jahren für das Video zu ihrem Titel Stripped Bilder aus Leni Riefenstahls Olympia-Film verwendete, auch der Erfolg des Kinofilms Das Wunder von Bern hin.

»Deutschpop« ist keine musikalische Kategorie, sondern eine (erfolgreiche?) Marktstrategie – und eine gewollte politische Provo. Sein Patriotismus ist nicht jener der NPD, sondern der von Rot-Grün. Ein Patriotismus, der ein »wir« konstruiert, das gemeinsam die Suppe auslöffeln soll, ein »wir« des Gürtel-Engerschnallens, das notfalls auch mal im Ausland investierende Kapitalisten als vaterlandslose Gesellen beschimpfen darf.

Letztlich ein »wir«, mit dem die realen Angriffe auf die Lebensbedingungen wie Lohnkürzungen, Arbeitszeitverlängerung, Hartz IV etc. unsichtbar gemacht werden sollen.

Sag ein kleines Stückchen Wahrheit

Das Propagieren von Nationalismus im deutschen Mainstream-Pop geht einher mit einem Trend zur Regression, sowohl musikalisch als auch in den Texten.

Neben mittlerweile etablierten Stilen wie Deutschhop, Deutschsoul und Deutschreggae drängten 2004 zwei »neue« Stilrichtungen auf den Markt: Unter dem Label »Elektropop« wird deutscher Schlager auf dem neuesten Stand der Waffentechnik produziert. Wer auf Kindfrauengetue, infantile Erotik und schlichte Text-/ Liedstrukturen, aufgemotzt durch eingängige, zeitgemäße Beats und Sounds, steht, ist mit diesem Genre und seinen VertreterInnen wie 2raumwohnung, Klee und Paula gut bedient. Ebenfalls sehr gut lief im Jahr 2004 deutscher Schlager im Rockgewand, häufig zubereitet von frisch gesignten Bands. Am erfolgreichsten rocken Herz-Schmerz-Lieder die Charts. Ebenfalls gut gehen: Appelle an »Gelassenheit, an Vertrauen … denkst du denn da genauso – in etwa so wie ich … wie geht‘s dir eigentlich?« (Sportfreunde Stiller) und Fluchtphantasien, die jede Billigairline verwirklichen kann: »Der Flieger steht bereit… frag nicht wohin es geht – es muss nur weit sein.« (Toni Kater)

Ein wenig Kritik an der momentanen Verfasstheit von Welt und Gesellschaft gehört allerdings dazu: Vorgemacht hat das die Berliner Band Wir sind Helden bereits mit ihrem ersten Hit »Guten Tag!« – musikalisch ein Aufguss kommerzieller NDW, textlich in der Tradition des vitalistischen Rechts-Situationismus à la Vaneighem stehend (»Meine Fäuste gegen Eure Nagelpflegelotion/ meine Zähne gegen die von Dr. Best und sei’m Sohn… guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück!« usw.). Top-verlogen ist, wie die Band im dazugehörigen Video die angebliche Entdeckung der Kellerband Wir sind Helden durch die Plattenindustrie nachstellt.

Militant bieder gibt sich die junge Bautzener Band Silbermond. (»Wir nehmen keine Drogen und gehen gerne früh ins Bett.«). Nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung unpolitisch (Sängerin: »Ich interessiere mich nicht fürs Tagesgeschehen«, Gitarrist: »Uns in Deutschland geht‘s schließlich gar nicht so schlecht!«) haben sie mit »Machs dir selbst!« das Motto für die unter anderem durch Hartz IV eröffneten gesellschaftlichen Perspektiven geliefert. »Machs dir selbst, besser geht’s nicht, Es kommt nichts von ungefähr.«

Es stimmt schon, von ungefähr kommen weder die Popstar-Karriere noch der Ein-Euro-Job – ebensowenig wie die Bereitschaft zu Leistung und Unterordnung. Wer solche Texte und solche Musik macht, will im Grunde nur eins: Sich lebenslang auf hohem Konsumniveau langweilen. Traditionell ein Hauptmotiv der Mittelklasse – formuliert allerdings in einer Zeit, in der immer mehr Menschen Grund zu der Befürchtung haben, in Zukunft nicht mehr zur »Mittelklasse« zu gehören – stärkt das den Wunsch, sich wenigstens zugehörig zu fühlen?

Aus einem Artikel über Silbermond: »Vielleicht sind die vier ja typisch für junge Menschen, die gerade ins Berufsleben einsteigen.« Mag sein, aber den Dachdecker-Azubis, Kassiererinnen, Arbeitslosen und Ein-Euro-JobberInnen, die sie hören, steht sicherlich ein anderes Berufsleben als das des Popstars bevor.

Sing mir die Regierungserklärung

Die Bundesregierung hat endlich die Musik, die Texte und die zuversichtlich-leistungsbereiten jungen Leute, die sie braucht. Mit den Worten von MIA.-Sängerin »Mieze«, gehört auf WDR 5: »Ich seh diese Verbindung zwischen neuer deutscher Welle und uns so nicht. Damals ging es um diese ’No Future‘-Haltung, aber wir freuen uns auf die Zukunft. Zukunft, juuhu, her damit! Wir wollen mitgestalten!« War SPD und Grünen in den letzten Jahren die »Neue Mitte« abhanden gekommen, nutzen sie nun ihre Chance. Der aufstrebende kulturindustrielle Mittelstand wird von der Bundesregierung – die doch sonst alle »Subventionen« abbaut – massiv unterstützt.

Das Ende 2003 unter Schirmherrschaft von Staatsministerin Christine Weiss in Berlin gegründete »Germansounds« ist ein Joint Venture zwischen dem Deutschen Musikrat und der mittelständischen deutschen Musikindustrie, unterstützt durch die Verwertungsgesellschaften GEMA und GVL sowie die Bundesregierung.

Bei seinem Popkomm-Besuch am 14. September 2004 sprach sich Bundeskanzler Schröder für das »Recht von Kreativen und Produzenten aus, ihre Leistungen zu schützen. Einem Anspruch auf die Privatkopie erteilte er eine deutliche Absage.« (Berliner Zeitung)

Am 29. September gab es eine Bundestagsanhörung über die Deutschquote im Rundfunk. Die Arbeitsgruppe Musiker in eigener Sache übergab eine von mehr als 600 Künstlern unterzeichnete Petition, in der eine Quote zugunsten der Musik deutschsprachiger Künstler gefordert wird, um deren »skandalöse Unterrepräsentation« zu beenden. Die Unterzeichner fordern »mehr Musik von hier«. [»Wir sind wir, wir sind von hier!«]

Alle Metzger alle Säu sand gut drauf mit Bayern 3!

Warum wird die Forderung nach einer Quote deutscher Musik gerade zu einem Zeitpunkt erhoben, in der nicht nur deutsch produzierte, sondern sogar deutschsprachige Musik die Charts dominiert? Auf Germansounds.de kann man z.B. lesen: »Im Jahr 2002 hatten die nationalen Musikproduktionen die 40-Prozenthürde beim Anteil an den deutschen Albumcharts überspringen können, in 2003 konnten sie sogar die absolute Mehrheit in den Albumcharts mit 54,7Prozent (2002: 42,72 Prozent) erreichen.« Diese Mehrheit dürfte im Jahr 2004 deutlich ausgebaut worden sein.

Quotenkrieger wie der Vorsitzende der deutschen Phonoverbände Gerd Gebhardt begründen ihre Forderung damit, dass sie »Talente fördern« und das Radioprogramm verbessern wollen. Denn »Musik ist nicht mehr Ziel des Programms, sondern dient oft nur noch dem Zweck, das Abschalten zwischen den Werbeblöcken zu verhindern.« (Gebhardt). Wer Musik hört, die ihm nicht gefällt, schaltet ab. MTV und VIVA senden zur Prime Time lieber Comics und Shows als Musikvideos: »Musikfernsehen ohne Musik funktioniert einfach besser.« (Elke Buhr in FR Plus, Kultur, 25. November 2004; der lesenswerte Artikel ist online). Die Forderung nach der Quote versucht auf dem Frust vieler Leute am Dudelradio zu surfen. Aber gutes oder schlechtes Programm hat nichts damit zu tun, ob die Musik in Deutschland oder im Ausland produziert wird – schließlich wird keine »Qualitätsquote« gefordert. Bundestagspräsidentin Antje Vollmer benennt den materiellen Kern der Quote, indem sie »Arbeitsplätze für deutsche Künstler und Musikredakteure« in Aussicht stellt. Die Quote ist Standort-Nationalismus pur – der Staat soll die deutsche Musikproduktion und ihren Vertrieb absichern.

Der Rhythmus der hackt ols zu Brei, so bleibt da Kopf gedankenfrei

Auch die Rundfunk- und Fernsehsender stecken in der Zwickmühle, einerseits immer weiter einsparen zu müssen, gerade dadurch aber ein fortschreitend unattraktiveres Programm zu produzieren. Das Vorstellen und Besprechen neuer Musik findet höchstens noch nachts statt. Ganz anders Ende der 60er Jahre, damals hatten die deutschen Rundfunkanstalten auf den Erfolg der (kommerziellen) Piratenradios, aber auch von Radio Luxemburg reagiert, indem sie Programme einrichteten, die das Konzept dieser Sender kopierten: Auf den diversen XY3-Sendern wurde neue Musik gespielt, die vorher im deutschen Rundfunk nicht zu hören gewesen war.

Die privaten Rundfunk- und Fernsehsender haben seit Mitte/ Ende der 80er Jahre die Landschaft verändert. (Spätestens da gingen auch die »XY3-Sender« den Bach runter, wozu das Lied von Biermösl Blosn ja ein wunderbarer Kommentar ist!) MTV & Co. wurden zur ästhetischen Chiffre für die audio-visuelle Kultur der 90er Jahre. Eine Kultur, die im wesentlichen darauf fußte, in subkulturellen Zusammenhängen entstandene neue Stile in den Mainstream zu integrieren.

Auf dieser Grundlage konnte auch die »Poplinke« Einfluss und Anstellung erobern. Endpunkt einer Entwicklung innerhalb der Linken, in der jeder Bezug aufs Proletariat mitsamt jeder Vorstellung von Kollektivität denunziert worden ist. Der theoretische Überbau der Poplinken erwies sich allerdings als ähnlich aufgeblasen und spekulativ wie die Ökonomie des Neuen Markts. Seit dessen Crash hat sich denn auch Katerstimmung eingestellt, die Realität hat den Diskurs überholt (siehe die Theweleit-Besprechung in der Wildcat 66).

Was wehrt sich die Poplinke gegen den Deutschpop? Eine wiedergekäute »Deutschland, halts Maul!«-Kampagne bliebe wirkungslos, und ästhetisch kann sie ihn nicht kritisieren: er ist ihre schlechte Utopie. Viele der neuen Bands hören sich an wie der fünfte Aufguss Hamburger Schule-Bands. Und machen Musik, die mensch prima »beim Bügeln hören« kann, die keine »bösen« oder »gefährlichen« Gefühle mehr auslöst. Vor dem Schlafengehen hören wir noch ein Stündchen Musik, und am nächsten Morgen geht‘s erfrischt und – obwohl die Zeiten schwierig sind – zuversichtlich ans Werk. Zieh die Mütze an – es ist kalt draußen. Sprich nicht mit Fremden. Halten Sie sich an die Anweisungen der Sicherheitskräfte!

… damit du keine Ängste mehr kennst

Die Angst ist manchmal brüllend laut, aber trotzdem hört niemand hin. Sie wird geschaffen durch die permanente Bedrohung. Halt schön still – sonst verlagern wir deinen Arbeitsplatz, und du wirst mit ALG2 vegetieren. Drill deine Blagen – ohne vernünftigen Schulabschluß wird aus denen nix werden. Komm nicht auf dumme Gedanken – in deiner Nachbarstadt bauen wir gerade einen neuen, teilprivatisierten Knast. Stell das, was wir dir als Demokratie anbieten, besser nicht in Frage – um die Ecke stehen schon die Nazis. Mampf brav die Pillen, die dir der Doc gegen deine unkontrollierten Erregungs- bzw. Ermüdungszustände verschreibt – oder willst du in die geschlossene?

Denk dran: Es könnte viel schlimmer kommen… »Uns in Deutschland geht’s schließlich gar nicht so schlecht!« Das regressive Gesäusel des Deutschpop 2004 wirkt wie ein Tranquilizer gegen die Folgeerscheinungen dieser Drohungen. »Heimat, Familie, Freunde, … die Welt, die ich verstehe« (so die Gitarrenpopband Virginia Jetzt!). Sedative Beats oder zu Midtempo-Rock geschrummelte Folk-Harmonien, garniert mit zahmen Retro- bzw. Psychedelic-Elementen. Angesichts der massiven Angstkampagne, mit der die Herrschenden aktuell ihre »Reformvorhaben« umsetzen, sind solche Fluchten in (regressive) Traumwelten und die Sehnsucht nach einfachen, überschaubaren Strukturen zumindest verständlich. Zumal, wenn der Alltag der gequälten Individuen selbst zu deren teils halluzinierter, teils realer Gefährdung wird.

Solche Einigelungen korrespondieren vortrefflich mit der politischen Mobilisierung der Angst, stellen deren private Umsetzung dar. Nicht die realen, gesellschaftlichen Zumutungen werden thematisiert, sondern die Bedrohung durch das »Fremde«, gegen das die »eigene« Kultur, Identität, Nation usw. dich stärkt und verteidigt. (»Wertedebatte«, Sorge um die Überfremdung der deutschen Sprache, usw.)

Heitere Aussichten?

Deutsch-Pop ist genauso schädlich und schmackhaft wie industriell hergestellte Nahrung. Der Wunsch, die ganze Scheiße hinter sich zu lassen, hat jahrzehntelang die Autoverkäufe angetrieben, das Sich-Sehnen nach einem Ort, an dem mensch sich vor den stetig wachsenden Zumutungen in Sicherheit bringen kann, die Touristenghettos an der Mittelmeerküste gefüllt. Unbewusst werden die richtigen Fragen gestellt – und bei vollem Bewusstsein die falschen Antworten gegeben. Deutschpop ist Ausdruck dieser Banalisierung jeglicher Utopie. Kritik an den Verhältnissen wird immer so formuliert, dass die Antwort im privaten Glück liegt. (Welches dem Druck übrigens selbst in der Kuschelwelt deutschen Pops in keiner Weise gewachsen scheint – immerhin wird in zwei der erfolgreichsten Titel der Saison – Symphonie von Silbermond und Geile Zeit von Juli – das Scheitern des Pärchenglücks beweint.)

Fraglos: Diese Musik ist so unerträglich, wie die Verhältnisse, zu deren Erhalt sie beiträgt.

Aber (noch) ist niemand gezwungen, sie sich anzuhören. Jenseits des Mainstream existiert so viel Besseres, dass man nur Ohren und Augen offen halten muss. Bessere Musik und bessere Texte werden uns weder Pop-Diskurs noch Deutschquote bescheren, egal ob mit oder ohne staatliche Unterstützung. Selber aktiv werden, in jeder Beziehung! Etwas Besseres als diesen Pop finden wir allemal.

Und Wenn Ein Lied
Söhne Mannheims

Und Wenn ein Lied meine Lippen verlässt,
dann nur damit du Liebe empfängst.
Durch die Nacht
unter´s dichteste Geäst,
damit du keine Ängste mehr kennst.

Sag ein kleines Stückchen Wahrheit,
sieh wie die Wüste lebt.
Schaff ein kleines Bisschen Klarheit
und schau wie sich der Schleier hebt.
Eine Wüste aus Beton und Asphalt,
doch sie lebt und öffnet einen Spalt,
der dir neues zeigt,
zeigt dass Altes weicht,
auch wenn dein Schmerz bis an den Himmel reicht.

Dieses Lied ist nur für dich.
Schön wenn es dir gefällt!
Denn es kam so über mich,
wie die Nachtigall die weint.

Steigt Gefahr aus der Dunkelheit,
wär ich zum letzten Schlag bereit.
Ich bin der erste, der dich befreit
und einer der letzten, der um dich weint.

In unserer Sanduhr fällt das letzte Korn,
ich hab gewonnen und hab ebenso verlor´n.
Jedoch misse ich dich nicht.
Alles bleibt unter gedanklichem Besitz
und eine bleibende Erinnerung.
Zwischen Tag und Nacht legt sich die Dämmerung.

Und Wenn ein Lied meine Lippen verlässt,
dann nur damit du Liebe empfängst.
Durch die Nacht
unter´s dichteste Geäst,
damit du keine Ängste mehr kennst,
damit du keine Ängste mehr kennst,
damit du keine Ängste mehr kennst.

Die Welt, die Virginia jetzt! versteht

Wegen der Zeilen: »Das ist mein Land, das sind meine Menschen. Das ist die Welt, die ich verstehe.« wird der Band Virginia Jetzt! vom Intro »Nationalmief« vorgeworfen.

Diese reagiert prompt: Sie seien sich »der Schwierigkeiten« bewusst, »die sich in der eigenen Sprache« bei »der Wort- und Sinnwahl« »aus der Geschichte Deutschlands« ergäben. Die Passage sei aber nicht inkriminierbar, denn es sei die »wortgenaue« Übersetzung einer Zeile des Randy Newman-Songs My Country. Die sie verwendeten, weil sie genau darüber sprechen wollen, »was Newman in seinem Stück meint: Familie, Heimat, Freunde.« Überhaupt seien sie selber »unpolitisch«.

Virginia Jetzt! sind fürchterliche, selbstzufriedene MiddleClass-Blagen, die ironiefreie Lieder wie Wir sind von guten Eltern machen, es für ein Qualitätsmerkmal von Zweierbeziehungen halten, zusammen mit der Liebsten über »die ganzen Idioten« herzuziehen.

Aber wie sie Randy Newman »eindeutschen«, hat nichts damit zu tun, dass sie kein Englisch verstehen. Eine uninteressante Band versucht, durch Provos, sich bekannt zu machen. Auf ihrem neuen Album versuchen sie es mit einem Hidden-Track und der Zeile »was haben Rammstein jetzt schon wieder zerstört«.

Im Newman-Song My country gibt es an keiner Stelle einen positiven Bezug auf »Familie, Heimat, Freunde.« Hier stammelt ein Mensch, der die Realität nur noch über TV wahrnimmt. Die Welt und die Menschen, die er »versteht«, existieren lediglich in der Glotze.

Es folgt eine Hausaufgabe für heimatverbundene Deutschpopper:

Feelings might go unexpressed

I think that‘s probably for the best

Dig too deep, who knows what you will find

Übersetzt diese Stelle aus My country unter Verwendung der Methode VJ!.

Bayern 3
Biermösl Blosn

Da Radiowecker weckt mi auf i bi saumid aber glei guat drauf
A Taß Kaffee und ins Auto nei und ab mit hundert Watt Hi–Fi

Und wia i nei in Schlachthof kimm, hom alle scho den Rhythmus drin
alle Metzger alle Säu, san gut drauf mit Bayern Drei

Mir schlachten in da Wurstfabrik bloß no mit Bayern-3-Musik
Do laaft des Blut und wird net dick, weil ols geht besser mit Musik

De Carmen hint im Darmabteil findt Dirty Dancing echt todesgeil.
Alle Metzger alle Säu sand gut drauf mit Bayern 3!

Am Mittag in da Kantinen drin do lauft de Bayern Pop-Maschin.
Menü 1, 2, 3, es schmeckt famos dazu a dufte Instandsoß,

i renn aufs Klo, kaum dass i sitz, do hör i aa scho Hits und Fritz.
Des macht an Dickdarm richtig frei, am besten geht’s mit Bayern 3!

Der Rhythmus der hackt ols zu Brei, so bleibt da Kopf gedankenfrei.
Im Fleischwolf drin do draht sich’s Hirn, de Ohrn, de Flachsn, Darm und Niern.

Allershausen vorsicht langsam fahrn 5Tote auf der Autobahn,
und wieder duat a Sau an schrei, komm gut heim mit Bayern 3!

 

Editorische Anmerkungen

Der vorliegende Text erschien in der Wildcat 72, Januar 2005, S. 32–37 und ist eine Spiegelung von
http://www.wildcat-www.de/wildcat/72/w72_deutschpop.htm