Die Entstehungsgeschichte Israels von 1882-1948

von Nathan Weinstock

02/04
 

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5. Der Zionismus, das türkische Reich und die Araber

Vom politischen und verwaltungstechnischen Gesichtspunkt besteht Palästina im 19. Jahrhundert noch nicht, [1] Sein Territorium ist aufgeteilt in das von Jerusalem unabhängige Mutasarriflik und in den türkischen Regierungsbezirk (Wilajet) von Sam (Syrien). In Palästina leben um die Jahrhundertwende 500 000 Einwohner, von denen 1882 24000 Juden sind. Vor dem l. Weltkrieg steigt die palästinensische Bevölkerung auf 689000 Menschen. [2] Von 1882 bis 1914 sind ungefähr 100000 Juden, wenn nicht noch mehr, in das Heilige Land ausgewandert. Etwa 50000 werden dort bleiben. 1914 vergrößert sich die jüdische Gemeinde von Palästina auf 85000 Menschen, von denen 35000 als Mitglieder der zionistischen Bewegung bezeichnet werden können. 12000 jüdische Siedler wohnen in den landwirtschaftlichen Ansiedlungen. Die türkischen Behörden haben sich von Anbeginn an den zionistischen Projekten widersetzt. Sie sind jedoch nicht jeglicher jüdischer Kolonisierung feindlich gesinnt: die Einwanderung und die Kolonisierung in kleinen Gruppen werden erlaubt unter der Bedingung, daß sie außerhalb des Gebiets von Palästina, mit der Einschränkung, daß die Siedler ihre ursprüngliche Nationalität aufgeben, geschehen. Man vermutet, daß in dieser Stellungnahme die russische Intervention eine Rolle gespielt hat. Petersburg befürchtete nämlich, das labile Machtgleichgewicht zwischen den Schutzmächten des Heiligen Landes, das sich zu seinem Vorteil eingespielt hatte, könnte umgestürzt werden. Man kann jedoch sehr wohl vermuten, daß der Plan eines jüdischen Staates dem Sultan an sich schon verdächtig und nicht wünschenswert erschienen war.

Zwei Gründe erklären, daß sich die zionistische Einwanderung dennoch von 1882 bis 1914 fortsetzen konnte: Zum einen die unaufhörliche Intervention der Westmächte unter dem Deckmantel der Kapitulationsvereinbarungen, die ihnen ein Eingriffsrecht in allen Angelegenheiten zubilligen, die ethnische oder religiöse Minderheiten betreffen, und zum anderen die unglaubliche Korruption innerhalb der türkischen Verwaltung.

Revusky erinnert an das Verbot, russischen, rumänischen und österreichischen Juden Land zu übertragen, das von Konstantinopel unterzeichnet in jedem Tabu (= Eintragungsbüro) hing, und bemerkt dazu: »Dank der Tätigkeit der am meisten verwahrlosten Teile der türkischen Verwaltungsbürokratie und Dank des ausgiebigen Gebrauchs von Schmiergeldern wurden diese Einschränkungen niemals streng beachtet. Im übrigen genügte es, daß die Juden zu einem >zeitlich begrenzten< Besuch nach Palästina kamen, um sofort unter die Rechtsprechung ihrer Konsuln zu fallen mit der Konsequenz, den türkischen Dienststellen zu entweichen. Die Paragraphen der Kapitulationsvereinbarungen, die dann in Kraft traten, waren ein wirkungsvolles Hindernis für alle Anstrengungen des Bosporus, die jüdische Kolonisierung in Palästina zu verhindern. So konnten sich praktisch alle Juden, die es wollten, in Palästina vor dem Kriege (dem l. Weltkrieg, N.W.) ansiedeln, vorausgesetzt, daß sie die nötigen Mittel besaßen, um einen Bauernhof zu kaufen oder ein Wirtschaftsunternehmen zu gründen.« [3]

Aber wie war die Haltung der arabischen Palästinenser in Hinblick auf die jüdische Kolonisierung?

Gewisse zionistische Autoren bemühen sich, dieses Problem beiseite zu schaffen, indem sie sich auf die Unterschiedlichkeit der ethnischen und religiösen Aufsplitterungen der Araber berufen, um die Sinnlosigkeit dieser Frage zu zeigen. »Das Land war verlassen und entvölkert. Die geringe Bevölkerung der Städte und Dörfer bestand aus einer großen Anzahl von religiösen, sprachlichen und nationalen Splittergruppen: Araber, Juden, Tscherkessen, Drusen; Mohammedaner (Sunniten und Schiiten), Christen (Griechisch-orthodoxe, maronitische, römisch-katholische), Samariter, und in Galiläa gab es sogar noch ein oder zwei Dörfer, in denen Bauern aus den frühen Zeiten des Judentums lebten. Aus der Zeit des 2. Tempels (. . .) leitete sich die zionistische Devise her: Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« - so etwas liest man in einer erschienenen Antwort auf eine Kritik am Zionismus. [4] Die Schlußfolgerung des zionistischen Führers Tschlenow ist noch viel erstaunlicher: »Es ist richtig«, gesteht er ein, »daß die Zahl der Araber (in Palästina, N.W.) größer ist als die der Juden, und zwar um eine halbe Million etwa. Aber insgesamt bilden die Araber und die Juden heutzutage nur etwa 10 bis 15% der Bevölkerung, die ehemals im jüdischen (?) Palästina wohnte. Das Land ist also (sie!) unbewohnt und wartet noch auf die, die es kolonisieren und wieder zur vollen Entfaltung führen werden«. [5] Die Aufspaltung der Palästinenser in ein Mosaik von Minderheiten -eine Situation, die dem gesamten Vorderen Orient eigentümlich ist:

Syrien, Libanon, Zypern usw. - braucht nicht diskutiert zu werden. Sie bedeutet jedoch keineswegs, daß Palästina ohne Bevölkerung gewesen war. Paradoxerweise wird übrigens der Zionismus - unbewußt natürlich - in einem großen Maße dazu beitragen, daß sich ein arabisches Nationalgefühl in Palästina bildet. Neville Mandel [6] weist darauf hin, daß im allgemeinen die ersten Widerstände gegen die jüdische Kolonisierung von selten der arabischen Christen kommen, die harte Konkurrenten der jüdischen Mittelschichten im Heiligen Land sind und einen Zustrom von Konkurrenten in den Bereichen befürchten, in denen sie beschäftigt sind: als Händler, Geldverleiher, Beamte und Übersetzer. Der scharfe Wettbewerb zwischen jüdischen und arabischen Handwerkern und Kaufleuten wird sich schnell wiederholen in der harten Konkurrenz zwischen Fellachen und zionistischen Siedlern. Die Vorhersage von Borochow, der bekräftigte, daß die Juden in Palästina nicht mehr mit der »nationalen Konkurrenz« der einheimischen Bevölkerung in Konflikt geraten werden, erweist sich als den Tatsachen entgegengesetzt. [7]

Auf dem Lande beginnen die ersten Auseinandersetzungen, als die jüdischen Siedler sich auf Grund ihres Eigentumsrechts mächtig fühlen und sich der traditionellen Ausübung des Weiderechts auf ihrem Land widersetzen. Diese Auseinandersetzungen verschärfen sich durch die Bodenspekulationen, die die Anwesenheit von jüdischen Käufern zur Folge haben. Die großen Eigentümer verkaufen ihre Länder, was nach den Aufkäufen durch die J. C. A. die Vertreibung der Fellachen, besonders im Norden des Landes, zur Folge hat. Diese Verkäufe sind oft die Geschäfte von Wucherern und verschiedenen anderen Agenten. Die von ihrem Lande geworfenen Bauern finden im allgemeinen in der Folge eine Beschäftigung als Landarbeiter in den jüdischen Kolonien. [8]

Der Mechanismus dieser Enteignung geht deutlich aus der folgenden Tabelle hervor, die sich auf die ursprünglichen Eigentümer der in den Jahren 1878 bis 1914 an die Juden verkauften Länder bezieht. [9]

Herkunft des jüdischen Bodeneigentums nach der Art der Verkäufer (1878-1914)

Verkaufsperiode

Nicht auf den Gütern ansässige Großgrundbesitzer
(in %)

Auf den Gütern ansässige Groß­grundbesitzer
(in %)

Verschiedene*
(in %)

Fellachen
(in %)

1878-1890   28,0 72,0  

1891-1900

39,7

6,1

11,5

42,7

1901-1914

31,6

33,8

30,3

4,3

* Staat, Kirchen, große ausländische Gesellschaften, wohlhabende Einzelpersonen.

Wie man sieht, beträgt der Anteil der Landverkäufe von Großgrundbesitzern während der ersten Periode 100%, während er in den Jahren 1891-1900 nur 57,3% und von 1901 bis 1914 erneut 96,7% beträgt. Man muß klarstellen, daß die zwischen 1891 und 1900 erfolgten Käufe nicht sehr zahlreich waren, da wir wissen, daß die Kolonien des Barons von Rothschild in dieser Zeit nur um 18000 Dunam sich vergrößert haben, während sie sich 1910 über 328410 Dunam erstrecken werden. [10]

Wenn man berücksichtigt, daß der Bodenerwerb durch die jüdischen Siedler während dieser ersten Phase unweigerlich die Vertreibung der Fellachen bedeutet, dann wundert man sich nicht über die heftigen Zusammenstöße zwischen jüdischen Landarbeitern und den arabischen Bauern in Hadera, Petach Tikwa und Yessod Hamaale zum Beispiel. [11]

Die Auseinandersetzungen entspringen bis 1908 aus rein ökonomischen Gründen. Die Feindschaft der benachbarten Fellachen ist durch die Vertreibung der arabischen Pächter und Bauern motiviert, und sie hat keine Verbindung mit den Raubzügen der Beduinen, die im übrigen arabische und jüdische Dörfer ohne Unterschied ausplündern. In den Städten widersetzt sich die kleine christliche Mittelschicht (Händler, freie Berufe) den Einwanderern aus wirtschaftlichen Gründen.

Diese Feindschaft vertieft sich, und die verbreitete Unsicherheit in den Städten und auf dem Lande äußert sich mit der Zeit darin, daß auf die türkischen Behörden Druck ausgeübt wird. Würdenträger aus Jerusalem protestieren gegen die Landverkäufe an die Juden und 1891 führt diese Petition zu einer Verordnung, die 1892 erlassen wird und untersagt, daß weiterhin Staatsdomänen an die jüdischen Siedler vergeben werden. Sultan Abdul-Hamid selbst reagiert gereizt auf die Vorhaben von Herzl. Wenn er 1901 und 1902 verständnisvoller erschien, so handelte es sich dabei nach der Meinung von N. Mandel nur um ein Täuschungsmanöver, um auf die westlichen Geldgeber Druck auszuüben, die nach Herzl ihre Dienste anboten, um die Zinszahlung der türkischen Schuld zu sichern. Die türkische Haltung erklärt sich ohne Zweifel ebenso zu einem großen Teil aus der zügellosen Bodenspekulation, die in der Folge der Landkäufe durch das Büro der »Gesellschaft zur Förderung der jüdischen Landarbeiter und Handwerker in Syrien und Palästina« (Choveve-Zion) im Lande wütete. Auf Grund des Anstieges der Bodenpreise hatte sich ein ganzer Schwärm von Spekulanten, Maklern und undurchsichtigen Zwischenhändlern über das Land verbreitet. Die Reaktion von Konstantinopel bewirkt das Sinken der Kurse und einen richtigen kleinen Börsenkrach. Die periodisch von der Hohen Pforte unternommenen Maßnahmen, den Landverkäufen an jüdische »Pilger« (das sind Juden, die von der türkischen Behörde unabhängig sind), ein Ende zu bereiten, bewirken das Eingreifen seitens der europäischen Diplomatie. [12] Das Fortschreiten der zionistischen Kolonisierung fördert das langsame Entstehen des arabischen Nationalismus. Die Idee der »Nation« reift in den arabischen Staaten während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zeigt sich schon 1847 in der Gründung von kulturellen Gesellschaften, die im weiteren Verlaufe in großem Maß zu Zentren des neuen kulturellen Einflusses werden. [13] Diese Bewußtwerdung richtet sich gleichermaßen gegen die türkische Unterdrückung wie gegen das Eindringen des europäischen Imperialismus. Man muß unterstreichen, daß diese Bewußtwerdung der Araber keineswegs den Charakter einer antisemitischen Bewegung hat, ganz im Gegenteil. Wie jede Bewegung des Bürgertums während seiner Aufstiegsphase, verbreitet sie die große Idee der Gleichheit aller Menschen. So sieht man einen der Führer des arabischen Nationalismus, den Ägypter Abdullah Al-Nadim (1843-1896), für die Integration der jüdischen und koptischen Minderheiten in das nationale Gemeinwesen kämpfen. [14]

In Palästina wirkt der Zionismus stimulierend für das Entstehen des arabischen Nationalgefühls. 1898 veröffentlicht Raschid Rida den ersten antizionistischen Artikel in der Zeitschrift >Al-Manar<. Ein Würdenträger aus Jerusalem, der ehemalige Präsident des städtischen Gerichts, Yusuf Diya-al-Chalidi, schreibt 1899 an den zionistischen Rabbiner Zadoc Kahn, wobei er ausdrücklich die sich ankündigenden Ausbrüche der Volkswut voraussieht. Die Unruhe verstärkt sich nach den Landkäufen durch die J.C.A. in der Nähe von Tiberias im Jahre 1901 und nach der Eröffnung einer Niederlassung der zionistischen »Anglo-Palestine-Bank« in Jaffa im Jahre 1903. Seit 1905 wird die arabische Protestbewegung deutlich spürbar. Nejib Azoury, der von 1898 bis 1904 in der Verwaltung von Jerusalem beschäftigt war, schreibt in diesem Jahr in >La Reveil Arabe< {= Das arabische Erwachen), daß »die versteckte Anstrengung der Juden auf lange Sicht hin das ehemalige Königreich von Israel wieder aufzubauen, unvermeidlich mit dem >Erwachen der arabischen Nation< in Konflikt geraten wird«.

Die Feindschaft der Fellachen bricht am Beginn des 20. Jahrhunderts aber meist wieder in sich zusammen in dem Maße, wie die jüdische Siedlung sich festigt und die arabischen Dorfbewohner sich darin fügen, in den Dienst der jüdischen Einwanderer zu treten. Die Machtergreifung der Jungtürken verändert das politische Feld. Aber die Zionisten, die stolz nach Jaffa ziehen und eine weiß-blaue Fahne hissen, werden nicht lange Grund haben, sich zu freuen. Die neuen türkischen Machthaber sind dem Zionismus gegenüber nicht freundlich gesinnt.

Von diesem Zeitpunkt an verschärft sich die Feindschaft der arabischen Massen, und die Bildung eines gleichzeitig antizionistischen politischen Nationalgefühls verstärkt sich. Die Angriffe der Fellachen gegen die jüdischen Siedlungen vermehren sich in dem Maße, daß der Kaymakam (= Vize-Gouverneur) von Tiberias 1909 die Bildung einer jüdischen Garde aus Furcht vor einem Massaker billigt. [15] Diese Volkserhebungen werden ergänzt durch eine Pressekampagne der führenden arabischen Nationalisten. Die nationale arabische Bewegung wird ab 1909 schnell organisiert und ihr Einfluß erweitert sich. Der Abgeordnete aus Jerusalem brandmarkt im türkischen Parlament die zionistische Einwanderung. Seit 1909 erneuern die türkischen Behörden übrigens die Einschränkungen gegenüber der Niederlassung von zionistischen Siedlern, 1908 wird eine anti-zionistische Tageszeitung, >Al-Karmal<, in Haifa gegründet. Die Landeigentümer, die ihre Länder an Juden verkaufen, werden denunziert. Nationalistische Kreise aus Haifa und Nazareth schicken Protesttelegramme nach Konstantinopel, die die türkische Presse veröffentlicht. In Jaffa werden antizionistische Flugblätter verteilt. Es ist interessant zu beobachten, daß die Führer der jüdischen Gemeinde und besonders der Groß-Rabbiner, Haim Nahum, öffentlich die zionistischen Umtriebe anprangern. Die Kampagne wird verschärft nach 1910 wiederaufgenommen, nachdem Elias Sursuk, der in Beirut lebte, ausgedehnte und fruchtbare Landstriche zwischen Nazareth und Jenin an Zionisten verkauft hatte. 1911 erscheint das erste, von Najib Nassar veröffentlichte, antizionistische Pamphlet. Im selben Jahr wird in Jaffa die - antizionistische - »Partei des Vaterlandes« gegründet. Gegen 1913 ist das Mißtrauen der Fellachen und der arabischen Mittelschicht im Hinblick auf die Zionisten unbestreitbar geworden. Die Unruhe hat ihre Früchte getragen, und die arabischen Führer wissen sehr wohl, daß die zionistischen Pläne die Bildung eines jüdischen Staates in Palästina beinhalten. [16] Dennoch finden geheime Verhandlungen zwischen arabischen Nationalisten und zionistischen Führern statt, ebenso zwischen Zionisten und den türkischen Behörden. [17] Von arabischer Seite wurden 1913 den zionistischen Führern Verhandlungsvorschläge durch die »Parti de la Decentralisation« mit dem Ziel unterbreitet, eine gemeinsame Front gegen die Türken zu bilden. Es scheint auch, daß einige christliche Araber die zionistische Einwanderung als ein eventuelles Gegengewicht gegen eine mohammedanische Vorherrschaft in diesem Gebiet betrachtet haben. Eine Kontaktaufnahme im Jahre 1913 endet mit einer »verbalen Übereinkunft«, die vor allem bewirken wird, daß auf dem ersten arabischen Kongreß im Jahre 1913 in Paris -zu dem als zionistischer Beobachter Sami Hochberg anwesend ist - die zionistische Einwanderung verschwiegen wird und sich der ganze Widerstand gegen das türkische Eindringen richtet. Diese befremdende Stellungnahme geschieht nicht unbemerkt, und die Syrer werden gegen dieses Stillschweigeabkommen protestieren.[18]

Parallel zu diesen geheimen Unterredungen werden Verhandlungen zwischen den zionistischen Führern und den türkischen Behörden heimlich fortgesetzt. Die Zionisten täuschen dabei, wie Herzi es schon vor ihnen gemacht hatte, die Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung für das türkische Reich vor, und die Türken möchten sich gegen 'das nationale Erwachen der Araber absichern. Diese Verhandlungen führen nicht weiter. Aber Konstantinopel billigt, in der Hoffnung, die Gunst der Zionistischen Organisation zu gewinnen, stillschweigend die Landverkäufe an die Juden. Die Einwanderung wird erlaubt, und einige antizionistische arabische Zeitungen werden verboten. Die Vertreibung der Fellachen, die aus der jüdisch-zionistischen Kolonisierung resultiert, liefert den Anlaß für ein Anwachsen und eine Verbreitung der Angriffe aus dem Volke gegenüber den jüdischen Kolonien.[19]

Diese Reaktion zeigt sehr gut, daß die jüdisch-arabische Annäherung in Palästina auf Grund des unüberwindlichen Hindernisses, das der politische Zionismus darstellte, sich nicht vollziehen konnte. So verurteilt der harte nationalistische Flügel die Gemäßigten und die Übereinkunft, die diese geschlossen haben. Während des Winters 1913-1914 werden jüdische Siedler von Fellachen ermordet, als diese ihre Siedlungen angreifen. Antizionistische Vereinigungen werden in mehreren arabischen Städten gebildet. Die antizionistischen Grundsätze geben während der Wahlkampagne den Ton an. Aber die Bewegung steht erst noch an ihrem Anfang. [20] Die Studie von Yaacov Ro'i bestätigt vollständig die vorangegangene Analyse. Dieser israelische Historiker äußert sich wie folgt über die Haltung der Palästinenser gegenüber der zionistischen Agrarpolitik. »... Aber die ansässigen arabischen Fellachen reagierten - seit den ersten Tagen des Yischuw- gelegentlich mit physischer Gewalt. Diese Aufstände waren aber nicht das Ergebnis des eigentlichen Landkaufes durch die Juden in Palästina, da die Mehrheit der Fellachen selbst nicht die Eigentümer ihrer Länder waren, sondern sie ergaben sich, als die Juden begannen, das Land in Besitz zu nehmen. Denn bis zu diesem Zeitpunkt gehörte das Land ausnahmslos Großgrundbesitzern, die in den Städten lebten und einen bestimmten Prozentsatz der Ernte für sich zurückbehielten, die aber nichts einzuwenden hatten gegen die Ausübung des traditionellen Weiderechts und gegen andere Formen alltäglicher Benutzung des Landes. Deren Verbot, als die 'jüdischen Siedler begannen, sich auf dem erworbenen Land anzusiedeln, rief die Unzufriedenheit und manchmal die Konflikte hervor. Mit der Zeit drückten die Araber, die dem jeweiligen Dorf oder der Kolonie der Juden benachbart waren, auch ihre Unzufriedenheit gegenüber den Initiativen aus, jüdische Lohnarbeiter anzustellen.« [21] Obwohl die jüdischen Landarbeiter kaum ein Zehntel der Lohnarbeiter in den jüdischen Kolonien im Jahre 1913 bilden, verschärfen sich die Konflikte. Schon 1903 waren die schärf sinnigsten zionistischen Führer und die Siedler, die schon lange im Lande lebten, zu der Erkenntnis gekommen, daß »diese jüdischen Arbeiter aus Rußland ebenso wie das Prinzip der ausschließlich jüdischen Arbeit einen Hauptfaktor bilden für die entstehende Feindschaft der arabischen Palästinenser«.

Tatsächlich ist die sozialistische Ideologie der Pioniere stark gezeichnet vom Kolonialismus. Die Anführer der Poale-Zion-Bewegung »predigten, daß die internationale Solidarität der Arbeiter nur auf diejenigen Arbeiter anzuwenden sei, die einen gesicherten Arbeitsplatz besitzen. Sie sei nicht anzuwenden auf ein sich noch zu bildendes Proletariat, das zunächst dafür kämpfen müßte, Arbeit zu erhalten, und das nicht verhindern konnte, in einen Konflikt mit Arbeitern zu geraten, denen es ihren Arbeitsplatz wegnehmen möchte«. Man versteht, daß die Spannung sich erhöht hatte. Die arabisch-jüdischen Zwischenfälle, in deren Verlauf Siedler oder Arbeiter angegriffen und manchmal getötet wurden und ihre Landhäuser oder ihr Vieh verwüstet und geplündert wurden, nahmen an Zahl und Stärke nach der Revolution der Jung-Türken im Jahre 1908, genauer seit April 1909, zu.

Ziehen wir die Bilanz des zionistischen Unternehmens bis 1914. In dem Zeitpunkt, als der Kapitalismus seine Kapitalausfuhr in den Vorderen Orient verstärkt, und damit den Weg zur territorialen Teilung vorbereitet, lassen sich einige tausend europäische Juden in Palästina nieder. Ihre Ansiedlung vollzieht sich unter dem Schutz und der permanenten Intervention der europäischen Mächte. Die Landkäufe stehen in direktem Zusammenhang mit der kapitalistischen Durchdringung dieses Gebietes. Die mystischen Begründungen zur Rechtfertigung ihres Projektes sind nichts als eine besondere Variante der religiösen Phrasen, deren sich alle europäischen Staaten in dieser Zeit bedienen, um ihre expansionistischen Aktivitäten in Kleinasien zu verbergen.

Die zionistischen Einwanderer kolonisieren das Land systematisch. Die von ihnen geschaffene Wirtschaft basiert auf der Herausbildung einer einheimischen jüdischen Arbeitskraft. Das Kapital wird von den europäischen jüdischen Bankiers gestellt. Die von ihrem traditionellen Land vertriebenen Fellachen werden arbeitslos oder sind gezwungen, sich als landwirtschaftliche Arbeiter in den jüdischen Kolonien zu verkaufen.

Gestärkt durch ihre mystisch-nationalistische Argumentation haben die Siedler darüber hinaus vor, die von ihnen besetzten Gebiete mit Hilfe der äußeren Unterstützung politisch zu verändern. Kann man unter solchen Bedingungen ernsthaft bezweifeln, daß der Zionismus etwas anderes sei, als ein kolonialistisches Unternehmen?

Natürlich bietet die zionistische Kolonisierung besondere Merkmale. In einer von dem jüdischen Nationalfond herausgegebenen Broschüre stellt Charles Gide folgende Überlegungen an: »Jede Kolonisierung beruht zunächst auf dem Erwerb von Land.... (In Palästina) handelt es sich jedoch nicht mehr um die Kolonisierung von unbebautem Land ... Denn Palästina, wie wenig es auch bevölkert sei ..., ist dennoch schon vollständig im Besitz einer einheimischen Bevölkerung. Andererseits kann man diese nicht durch die in den eroberten Kolonien und zu oft auch von uns selbst in Algerien hauptsächlich angewandten Methoden enteignen. Es gibt also, wenn man Land will, kein anderes Mittel, als es zu kaufen.« [22] Im übrigen wird der Schutz, unter dem die Siedler stehen, nicht von einer einzigen Macht ausgeübt, und auch nicht von ihrem jeweiligen Ursprungsland, sondern er resultiert aus dem Zusammenspiel der Mächte, die tradionellerweise an den Minderheiten dieser Gegend »interessiert» sind. Die Konsulate der Westmächte und besonders die Vertretung Rußlands intervenieren wiederholt bei den türkischen Behörden zugunsten der jüdischen Siedler. [23]

Die besonderen Eigenheiten der zionistischen Bewegung kommen nach 1918 durch die Rolle der zionistischen Institutionen stärker zum Tragen, die die üblichen Hilfestellungen aus den Ursprungsländern durch die der unpersönlichen, internationalen Agenturen ersetzen. Die zionistische »Linke« schließlich prägt die jüdische Kolonisierung in besonderer Weise: Die enteigneten Fellachen werden durch eine jüdische Arbeiterklasse ersetzt, anstatt nach dem klassischen Schema ausgebeutet zu werden. Die zionistische Wirtschaft entwickelt sich in sich selbst abgeschlossen. So entwickelt sich zu Beginn des Jahrhunderts in Palästina eine autonome jüdische Gesellschaft mit einer eigenen Arbeiterklasse und einer allmählich entstehenden Bourgeoisie. Diese Gesellschaft fügt die aus verschiedenen Richtungen kommenden jüdischen Siedler und die einheimische jüdische Bevölkerung zu einem homogenen nationalen Gefüge zusammen. Die Annahme einer gemeinsamen Sprache, des Hebräischen, zementiert die Verschmelzung zu der neuen Einheit. So wohnt man von diesem Zeitpunkt an der Bildung einer neuen Nationalität im Vorderen Orient bei, die aus dem besonderen Verlauf der separatistischen Kolonisierung und des jüdisch-palästinensischen Schmelztiegels hervorgeht: die zukünftige israelische Nation.

Es gibt sehr viele besondere Züge im Zionismus, die ihn tatsächlich von der gewöhnlichen Kolonisierung unterscheiden. Aber vergessen wir nicht, daß der traditionelle Vorgang der Kolonisierung schließlich nur ein Schema ist. Es wäre absurd, jeder einzelnen seiner Komponenten einen Fetisch-Charakter beizumessen. Die klassische Definition der Kolonisierung läßt sich vor allem nicht auf die portugiesische Kolonisierung in Afrika anwenden. Portugal war ein unterentwickeltes Land.

Gibt es dennoch einen Grund, den kolonialistischen Charakter dieser Expansion zu leugnen?

Der Begriff des Kolonialismus ist ein Arbeitsbegriff, der erweitert und konkretisiert werden muß durch die Analyse der besonderen Erscheinung, auf die man ihn anzuwenden wünscht. Es gibt keine »chemisch reine« Kolonisierung. Zu Beginn gaben die Zionisten übrigens bereitwillig den kolonialistischen Charakter ihres Unternehmens zu. Jedoch bemerkt Kisch 1931 in seiner Zeitung, daß man sich bemühen müsse, die kompromittierenden Ausdrücke (»Kolonie«, »kolonisieren«) aus dem zionistischen Wortschatz zu streichen. [24] Man wird ohne Zweifel einwenden, daß diese Betrachtung des Zionismus den jüdischen Pionieren nicht gerecht wird. Schauen wir uns das naheliegendste Argument an! Es ist nicht zu leugnen, daß die zionistischen Einwanderer in ihren Heimatländern verfolgt wurden und daß es nicht in ihrer Intention lag, die Araber in Palästina zu berauben. Man kann sogar hinzufügen, denn das ist richtig, daß die Pioniere der zweiten Einwanderungswelle gerade das koloniale Gebaren der jüdischen Pflanzer bekämpft haben und daß sie geprägt waren von einem egalitären und kollektivistischen Ideal, das seine Konkretisierung in der Arbeiter-Kolonisierung gefunden hat. Erkennen wir ebenfalls an, daß die ersten jüdischen Bauernhöfe auf dem Schweiße ihrer Arbeit unter sehr ungünstigen Bedingungen basieren. Alles das ist wahr. Dennoch läßt sich eine Entwicklung nicht nach ihrer Idee beurteilen, die man sich von ihr macht, sondern vielmehr nach ihrem wirklichen Inhalt. Daß die Zionisten der zweiten Aliya ernsthaft überzeugt waren, daß es darum ginge, ein republikanisches jüdisches Gemeinwesen zu gründen, - das braucht nicht diskutiert zu werden. Dennoch war ihr Unternehmen objektiv eine koloniale Expansion, wie Herzi es instinktiv gespürt hatte, als er vorschlug, Kolonialgesellschaften zu gründen, was die zionistischen Fonds dann auch waren.

Gewiß ist diese Geschichte tragisch: Die Verfolgten werden zu Verfolgern. Das Prinzip der »jüdischen Arbeit« führt zur autarken Absonderung. Das Projekt des jüdischen Staats zementiert den arabischen Nationalismus. Dies sind die objektiven Ereignisse, die die romantischen Ideale letzten Endes in den kolonialen Zusammenhang gebracht haben.

Indessen ist es eine irrige Haltung, an die sozialistische Überzeugung der zionistischen Siedler zu erinnern. Wenn man eine kolonialistische Entwicklung als solche erkennt, heißt dies nicht, daß man den Siedlern zutiefst kapitalistische Beweggründe unterschiebt. Der Kampf gegen ein Ausbeutungssystem ist nicht gerichtet gegen die Person des Ausbeuters. Jedoch beweisen die antikapitalistischen Elemente, die man ebenso bei den weißen Minenarbeitern in Südafrika während der zwanziger Jahre wie bei den »Pieds-Noirs« von Bab-el-Oued (die ihre Stimmen der Kommunistischen Partei gaben) bemerken konnte, daß die kolonialistischen Implikate mit unerbittlicher Macht die Handlungen der Lohnabhängigen der Kolonialmacht prägen, auch wenn sie selbst Opfer des Systems sind.

Anmerkungen

1) Dieses Kapitel fußt in seinem historischen Teil fast ausschließlich auf der Studie von neville mandel, Turks, Arabs and Jewish Immigration into Palestine 1882-1914, Middle Eastern Affairs (Hrsg. v. A. Hourani), St. Anthony's Papers, Nr.4,1965,S.77-108.

2) Palestine Government, A Survey of Palestine, Jerusalem 1946, Vol. I, S. 144.

3) abraham revusky, Les Juifs en Palestine, Paris 1936, S. 19.

4) A. N. poliak, Jew and Arabs; Two Cultures, Symposium New Paths to Peace between Israel and the Arabs, S. 4, Reponse ä Uri Avnery, Les Temps Modernes, Nr. 162 (Aug. 1959), S. 329.

5) E. W. tschlenow, La Guerre, la revolution russe et le sionisme, Kopenhagen 1917,S. 18.

6) N. mandel, a. a. 0. S. 84.

7) borochov, Grundlagen..., S. 147.

8) N. mandel, a.a.O. S. 85.

9) Es handelt sich um Teilangaben - sie umfassen 55,4% des gesamten jüdischen Landbesitzes -, berechnet zu einer Basis von 681978 Dunam (granott, a.a.O. S. 277, Tabelle 32).

10) granott, a. a. 0. S. 280.

11) N. mandel, a. a. 0. S. 85; margalith, a.a.O. S. 125.

12) N. mandel, a. a. 0. S. 87; dubnow, a. a. 0. III S. 228 und 317f.

13) Vgl. sati 'al-husri, L'Idee de Nation dans les pays arabes, L'Orient, Nr. 21 (l. Trimester 1962, S. 121; ebenso jean-pierre alem, Juifs et Arabes, 3000 ans d'histoire, Paris 1968, S. 72.

14) sylvia G. haim, Arab Nationalism, Berkeley und Los Angeles 1962, S. 16.

15) N. mandel, a.a.O. S. 93.

16) N. mandel, Attemps at an Arab Entente 1913-1914, Middle Eastern Studies, Bd. l, Nr. 3 (April 1965), S. 240.

17) Genauere Einzelheiten in N. mandel, Attemps..., a. a. 0.

18) N. mandel, Turks.. „ a. a. 0. S. 101.

19) Ebd.S. 102.

20) Ebd. S. 256ff.

21) yaacov Roi, The Zionist Attitüde to the Arabs 1908-1914, Middle East Journal, Bd. 4, Nr. 3 (April 1968), S. 198-242, Zitate: S. 201,202,223,226,233.

22) charles gide, La Colonisatinn sioniste, Jerusalem 1925, S. 4f.

23) leonhard stein, The Balfour Declaration, London 1961, S. 82.

24) kisch, a. a. 0. S. 420 (28. Mai 1931).

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde von der Red. trend gescannt. Als Vorlage diente "Das Ende Israels?" 1975 Berlin-West, S. 27-50. Bei diesem Buch handelte es sich um eine auszugsweise Übersetzung von „Le Sionism contre Israel" (Der Zionismus gegen Israel), dessen frz. Neuherausgabe vom Autor jetzt untersagt wurde.

"Das Ende Israels?" wurde übersetzt und bearbeitet von Eike Geisel und Mario Offenberg und in der Politikreihe (Nr. 61) bei Wagenbach 1975 in Westberlin herausgegeben. Es unterscheidet sich vom Originaltext, der 1969 erschienen, folgendermaßen:

"Zur editorischen Technik dieser Ausgabe sei noch folgendes vermerkt: es erwies sich aus mehreren Gründen als undurchführbar, die umfangreiche französische Originalausgabe ohne größere Kürzungen in deutscher Übersetzung herauszubringen. Der Mühe, sich komplizierte gesellschaftliche Prozesse begrifflich und historisch anzueignen, entsagt, wer einer um sich greifenden Tendenz sich unterwirft, die den Horizont der Aufklärung auf Umfang und Inhalt von Schulungsheften festschreibt. Der fortschreitende politische Analphabetismus, der auch für die hier untersuchten Fragen nur eine Handvoll erstarrter Formeln parat hat, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Wichtige Bücher sind leider oft auch dicke Bücher. Weshalb die deutsche Fassung nun so drastisch ihres ursprünglichen Umfanges beschnitten ist, hat seinen Grund in der Logik des Marktes, gegen die ein progressives Verlagskonzept wenig ausrichtet. Vor der Alternative: Schublade oder Kürzung entschieden wir uns einmal für die vom Autor selbst mit erstellte Zusammenfassung von Teil II (die aus einer spanischen Ausgabe übernommen und mit geringfügigen Korrekturen versehen wurde) und eine kürzende Bearbeitung von Teil I. Die Kürzungen betreffen in der Hauptsache die Auseinandersetzung mit in der Tendenz gleichen, in der Nuancierung aber unterschiedlichen Interpretationen zionistischer Autoren, zum anderen eine ganze Reihe von aufgeführten Belegen. Wir hoffen, daß durch diese Beschränkung der wissenschaftliche Charakter und die Anschaulichkeit der Untersuchung von Weinstock keine entscheidende Einbuße erleiden. Eigennamen, politisch-organisatorische Termini, Institutions- und Ortsbezeichnungen wurden transkribiert aus dem Hebräischen bzw. Arabischen, und - soweit erforderlich - durch von den Herausgebern in Klammem eingefügte Erläuterungen erklärt. Nach Möglichkeit haben wir versucht, Zitate Weinstocks aus deutschen Quellen nach den Originalen zu zitieren, in anderen Fällen aber zugängliche deutsche Ausgaben zu benutzen. Der Anhang des französischen Originals (u.a. über marxistische Theoretiker zur Judenfrage, Grundsatzerklärungen von der I.S.O.-Matzpen) wurde nicht übernommen." (S.26)