Topographie der Grausamkeit

von Etienne Balibar

02/04 trend onlinezeitung

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Der Nationalstaat schuf, was die Menschenrechte angeht, lange Zeit eine Art  Teufelskreis. Zum einen bot er den einzigen »positiven«, institutionellen  Horizont für die Achtung von Menschenrechten, doch zugleich war dieser Horizont  »unmöglich«, insofern der Staat die universellen Werte zerteilte und zerstörte.  Heute müssen wir fragen, ob dies überhaupt noch die Bedingungen sind, unter  denen wir leben und arbeiten. Was bedeutet das »Recht, Rechte zu haben« (Hannah  Arendt) in der heutigen Situation? Diese Frage wird um so dringlicher, da,  obwohl die Form der Nation nicht einfach verschwindet, die Voraussetzungen der  Politik, der Ökonomie und der Kultur wie auch die materielle Verteilung von  Macht und Möglichkeiten zunehmend supranational geworden sind. »Postnationale«  Formationen und quasi-staatliche Institutionen entstehen unter den Bedingungen  der Globalisierung. Die »europäische Einigung« ist ein wichtiges Beispiel für  diese Entwicklung. 

Die Gewalt der Grenzen 

Ich halte es für wichtig, zu sehen, dass wir parallel zur Entwicklung einer  formalen »europäischen Staatsbürgerschaft« mit einer entstehenden »europäischen  Apartheid« konfrontiert sind. Auf der institutionellen Ebene wird dadurch die  Entwicklung eines demokratischen Europa behindert, ja entschieden blockiert. Und  über kurz oder lang wird es auch die europäische Einigung überhaupt, da es heute  keine Möglichkeit gibt, die supranationale Gemeinschaft auf autoritäre Weise - à  la Bismarck - zu konstituieren; auch nicht um der Macht Willen, der  Konstituierung einer regionalen Macht, die sich mit der einen ökonomischen,  politischen und militärischen Supermacht auf der Welt messen könnte. Eine  supranationale Europäische Gemeinschaft kann es nur geben, wenn im Vergleich zu  den bestehenden Verfassungen dabei für die Mehrheit ein »demokratischer Surplus«  entsteht. 

Doch ich möchte zunächst zwei Fragen klären. Warum spreche ich von einer  europäischen Apartheid? Und warum von Apartheid in Europa? 

Europäisch

Der Grund, von einer europäischen Apartheid zu sprechen, kann nicht einfach  sein, dass Migranten (oder genauer: den Arbeitsmigranten und Asylsuchenden aus  dem Osten und Süden, die legal oder illegal die Grenzen überquert haben, mit  denen sich die wohlhabenden »Zivilisationen« Europas schützen) weniger Rechte  zugestanden werden. Es muss etwas qualitativ Neues geben. Für die Entwicklung  Europas ist dies seit 1993, seit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht,  tatsächlich der Fall. In jedem der europäischen Nationalstaaten existieren  diskriminierende Strukturen, insbesondere solche aus der kolonialen  Vergangenheit, die den Anspruch auf Bürgerrechte und/oder Staatsbürgerschaft  ungleich regeln. Jedoch kommt mit der Gründung der Europäischen Union (nach der  bloßen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) das Problem hinzu, dass der Begriff  eines Civis Europeanus mit einem spezifischen Inhalt gefüllt werden muss: mit  neuen individuellen und kollektiven Rechten, die Schritt für Schritt in Kraft  treten (beispielsweise die Möglichkeit, europäische Gerichte gegen nationales  Recht anzurufen). 

Die entscheidende Frage ist nun, wem die neuen Rechte garantiert werden.  Entweder der gesamten europäischen Bevölkerung oder einem stärker begrenzten  europäischen Volk (ich beziehe mich hier auf eine Debatte über die  Unterscheidung zwischen Volk und Bevölkerung, die in Deutschland virulent ist;  dieses Dilemma ist jedoch für ganz Europa relevant und kann als paradigmatisch  betrachtet werden). Es erweist sich als sehr problematisch, das europäische Volk  als die symbolische, rechtliche und materielle Basis Europas zu definieren. Der  Vertrag von Maastricht löst das Problem einfach durch die Bestimmung, dass nur  diejenigen, die bereits im Besitz der Staatsbürgerschaft eines der  konstituierenden Nationalstaaten der EU sind, automatisch europäische  Staatsbürger werden. Damit aber - und die Debatte erinnert vielleicht an  Diskussionen der »Gründungsväter« über die US-amerikanische Verfassung - ist  bereits eine Richtung vorgegeben. Angesichts der quantitativen wie qualitativen  Bedeutung der permanent in Europa lebenden Einwanderer (die französische  Politologin Catherine de Wenden sprach von ihnen als »dem 16. Mitgliedsstaat«)  wird das Projekt des Einschlusses sofort in ein Programm des Ausschlusses  umgewandelt. Diese Transformation führt zu drei »Metamorphosen«: 

- Ausländer werden zu Fremden, zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse, die  dazu verdammt sind, nicht dazuzugehören. 

- Schutz wird zu Diskriminierung: Seit es Gruppen von Einwanderern gibt, die  zwar ihrer politischen Rechte beraubt sind, aber auf gewisse soziale Rechte ein  Anrecht haben, ist es das zentrale Thema und regelrecht die Obsession  konservativer Kräfte, die Migrantinnen und Migranten von der Sozialhilfe und  anderen wohlfahrtsstaatlichen Sicherheiten auszuschließen. Der französische  Front National hat das als »Préférence nationale« bezeichnet. Weil aber solche  »Vorrechte« zu einem gewissen Grad bereits in allen nationalen Institutionen  existieren, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass daraus auch eine »Préférence  européenne« abgeleitet wird. 

- Kulturelle Differenz wird zu rassistischer Stigmatisierung, sie ist der Kern  des »Neorassismus», der sowohl postkolonial als auch postnational ist. 

Apartheid?

Kann von Apartheid zu sprechen mehr als nur eine überflüssige Provokation sein?  Ist es denn sinnvoll, zu behaupten, dass Apartheid in Europa (und vielleicht  nicht nur dort) wiederauftaucht, während sie in Südafrika offiziell beseitigt  ist? Ist das ein weiteres Beispiel aus der Reihe »The Empire strikes back« (Paul  Gilroy)? Denkbar wäre doch auch der Vergleich mit anderen historischen Formen  des institutionellen Rassismus, beispielsweise in den USA, wo die Jim Crow- Gesetzgebung noch nicht vergessen ist und in wiederkehrenden Abständen sogar  erneuert zu werden scheint, wenn konservative Politik gerade aktuell ist. Oder  ein anderer historischer Vergleich: Mein Kollege Helmut Dietrich, der lange Zeit  über Flüchtlinge und Migranten an den östlichen Außengrenzen Europas gearbeitet  hat, sprach in diesem Zusammenhang vom Hinterland des neuen europäischen Reichs. 

Konzentriert man sich nun auf die Strukturen statt auf das Ausmaß des Leids, das  das eine oder andere System hervorgebracht hat, so gibt es wenigstens zwei  einander ergänzende Gründe, aus einer historischen Perspektive von Apartheid zu  sprechen und die Situation der Regionen in Afrika, Asien oder anderen Teilen  Europas, aus denen die meisten Migranten kommen, mit den südafrikanischen  Homelands zu vergleichen. Zum einen verschärfen und brutalisieren die  europäischen Staaten stetig die »Sicherheitskontrollen«, die sich mit einer  Kombination aus moderner Erfassungstechnik und altbewährten »Rassenprofilen« (so  genannten Gesichtskontrollen) in der gesamten Gesellschaft ausbreiten. Dies  geschieht mit Blick auf Arbeitskräfte, die sich auf der einen Seite der Grenze  »reproduzieren«, während sie auf der anderen Seite »produzieren«, und die somit  weder Inländer noch Ausländer sind (doch für viele von uns Inländer sind),  offiziell aber als Ausländer betrachtet werden. Darum geht es im Abkommen von  Schengen. Zum anderen löst die Existenz von Migrantenfamilien, ihre  Zusammensetzung und ihr Way of life wahre Zwangsvorstellungen in der  Einwanderungspolitik und in der Öffentlichkeit aus. Sollte man Migrantenfamilien  trennen oder zusammenführen, wird da gefragt. Und auf welcher Seite der Grenze  sollte das geschehen, welche Formen der Familie (traditionell oder modern)  sollte man im Blick haben, wie sollte die Familie zusammengesetzt sein (Eltern  und Kinder?), und welche Rechte sollte man ihr zugestehen? Wie ich in dem Buch  Rasse, Klasse, Nation bereits gezeigt habe, ist die Familienpolitik, oder  allgemeiner ausgedrückt, die Politik der Genealogie, durch die autoritäre  Bildung einer nationalen »Gemeinschaft« strukturell ein wesentlicher Mechanismus  in der Funktionsweise des (historischen) Rassismus. Das ist selbstverständlich  auch dann noch richtig, wenn aus der nationalen Gemeinschaft eine multinationale  wird. 

Gewalt, die Grenzen hinter sich lässt 

Aus all dem könnte man den Schluss ziehen, dass ein desegregiertes Europa, das  heißt ein demokratisches Europa, in weiter Ferne liegt. Tatsächlich ist die  Situation viel widersprüchlicher, da es Tendenzen gibt, die in beide Richtungen  weisen. Wir befinden uns an einem historischen Scheidepunkt, der nur ansatzweise  und sehr zögerlich als solcher wahrgenommen wird. Ich möchte jedoch auf etwas  anderes hinaus, auf die Tatsache, dass diese Fragen ein Problem verdeutlichen,  das typisch global und lokal (»glokal«) ist. Das widersprüchliche und  evolutionäre Muster eines »Europäischen Staatsbürgerrechts-cum-Apartheid« ist  einerseits eine Reaktion auf reale und imaginäre Effekte der Globalisierung.  Andererseits ist es eine reine Projektion solcher Effekte, obgleich nicht ohne  historische Spezifik. 

Ich möchte nun direkt auf dieses Thema kommen. Es ist das Thema einer »globalen  präventiven Aufstandsbekämpfung«. Es geht dabei nicht nur um die Gewalt der  Grenzregime, sondern um Gewalt ohne Grenzen, um Gewalt, die Grenzen hinter sich  lässt. 

Ein Schweizer Wissenschaftler, Pierre de Senarclens von der Universität  Lausanne, hat in einer Studie auf die Relevanz der offiziellen Definitionen von  Gewalt hingewiesen und darauf, wie diese Definitionen dafür herangezogen werden,  Ausmaß und Reichweite so genannter »humanitärer Interventionen« zu  rechtfertigen. Der Autor zeigt, wie nach 1989 der Zusammenbruch der Ordnung des  Kalten Kriegs, was den Einsatz politischer Gewalt angeht, die Grenzen zwischen  Krieg und Frieden verwischte. 

Unter diesen Bedingungen sind zwei ganz unterschiedliche Schlüsse möglich.  Entweder glauben wir, dass das Phänomen massiver und extremer Gewalt in all  seinen Facetten generell die Politik abgelöst hat, einschließlich der inneren  und äußeren Machtverhältnisse von Staaten. Oder wir erkennen an, dass die  Bereiche der Politik und der Gewalt - einer Gewalt, der jegliche Rationalität zu  fehlen scheint und die vor Selbstzerstörung nicht zurückschreckt - nicht länger  getrennt sind; sie haben einander vielmehr zunehmend durchdrungen. Das  beschreibt genau die Bedingung, unter der etwas, das »humanitäre Aktion« oder  »Intervention« genannt wird, ob staatlich oder privat, zum notwendigen Substitut  von Politik wurde. Es würde zu weit führen, diese Veränderung in all ihren  Aspekten zu diskutieren; ich beschränke mich auf drei Fragen, die mir für das  Konzept des Politischen selbst wichtig scheinen. 

Ist die Ausbreitung extremer Gewalt noch nie da gewesen?

Ich will versuchen, an diesem Punkt, der eine Reihe von Problemen aufwirft - Fragen der alten und neuen Kriegsführung bis hin zu der hochsensiblen ethischen  Frage, in welcher Form Genozide miteinander verglichen werden dürfen -,  besonders vorsichtig zu sein. Was vielleicht bisher ohne Beispiel ist, ist die  neue Sichtbarkeit extremer Gewalt, insbesondere in dem Sinne, dass moderne  Technologien medialer Berichterstattung und Bildübertragung sowie der  Bearbeitung von Bildern extreme Gewalt in eine Show verwandeln, die simultan dem  Weltpublikum präsentiert wird - letztlich so, wie wir es zum ersten Mal während  des Golfkriegs als virtuelle Realität sehen konnten. Wir wissen auch, dass der  Effekt solcher Technologien zugleich darin besteht, Gewalt oder grausame Szenen  aufzudecken (beispielsweise durch Bilder von verstümmelten Kindern in Angola  oder Sierra Leone), andere Gewalt wiederum zu verdecken (zum Beispiel, indem  Bilder von verhungernden Babys in Bagdad vorenthalten werden). Es sind  ideologische Winkelzüge, wenn die mediale Darstellung extremer Gewalt Ereignisse  wie den politischen Übergang vom »Gleichgewicht des Schreckens« während des  Kalten Kriegs zum »Kampf zwischen den Opfern« präsentiert und sie dabei in die  undifferenzierte Formel »Verbrechen gegen die Menschheit« kleidet, die zwar  rechtlich und moralisch kodifiziert, aber im höchsten Maße unpolitisch ist.  Letztlich wird deutlich, dass die alltägliche Darstellung von Gewalt  insbesondere in den relativ wohlhabenden und behüteten Gegenden der Erde einen  sehr ambivalenten Effekt produziert: Sie erweckt Mitleid, aber auch Abscheu, und  verstärkt so die Idee, dass die Menschheit als solche tatsächlich in qualitativ  unterschiedliche Kulturen oder Zivilisationen gespalten ist, die sich, folgt man  den Vorstellungen eines gewissen Politologen, zwangsläufig bekriegen müssen. 

Ich bin mir all dieser Schwierigkeiten bewusst, würde aber daran festhalten  wollen, dass Realität hinter der Vorstellung von etwas noch nie Dagewesenem  liegt. Vielleicht ist es einfach die Tatsache, dass eine Reihe heterogener  Praktiken oder Prozesse der Vernichtung oder Extermination (womit ich die Tötung  einer großen Zahl von Individuen meine, insofern sie zu bestimmten objektiven  oder subjektiven Gruppen gehören) selbst global geworden ist, das heißt solche  Praktiken laufen überall auf der Welt auf ähnliche Weise ab und bilden so  zunehmend eine Kette, die das, was Edward P. Thompson vor zwanzig Jahren als  »Exterminismus« antizipiert hat, Realität werden lässt. In diese Serie  miteinander verbundener Ereignisse müssen wir, eben weil die Ereignisse so  heterogen sind, das heißt nicht ein und dieselbe Ursache haben, aber kumulativ  wirken, folgende miteinbeziehen: 

- Kriege, sowohl Bürgerkriege als auch Angriffskriege, eine Unterscheidung, die  in vielen Fällen nicht leicht zu treffen ist (man denke an Jugoslawien oder  Tschetschenien); 

- regionale Aufstände, die sich Ideologien der ethnischen und/oder religiösen  Säuberung bedienen; 

- Hungersnöte und andere Formen absoluter Armut, entstanden durch den  Zusammenbruch traditioneller wie nichttraditioneller Ökonomien; 

- so genannte Naturkatastrophen, die in Wirklichkeit Formen der  Massenvernichtung sind, da sie von sozialen, ökonomischen und politischen  Strukturen überdeterminiert werden. Also beispielsweise Seuchen (man denke an  die unterschiedliche geographische Ausbreitung von Aids und die  Behandlungsmöglichkeiten in Europa und Nordamerika einerseits sowie Afrika und  Teilen von Asien andererseits), Dürren, Flutkatastrophen oder Erdbeben, die sich  ereignen, ohne dass Hilfsorganisationen anwesend sind. 

Letztlich lässt sich konstatieren, dass die Globalisierung unterschiedlicher  Formen extremer Gewalt eine Teilung der globalisierten Welt in Zonen des Lebens  und Zonen des Todes hervorgebracht hat. Zwischen diesen Zonen (deren Grenzen in  der Tat diffus sind und einzelne Staaten oder Städte auf vielfältige Weise  durchziehen) existieren fragile ultimative Grenzen, die neue Fragen hinsichtlich  der Einheit und Fragmentierung der Welt aufwerfen - etwas wie globale und lokale  Enmitylines, analog zu den Amitylines, den Freundschaftslinien zwischen den  europäischen Kolonialmächten zu Beginn ihrer Eroberung der Weltherrschaft. Diese  Supergrenzen werden gleichzeitig zur Bühne permanenter Shows und zum vorrangigen  Interventionsgebiet, aber auch zum Ort der Nicht-Intervention. Es ist die Frage,  ob zurzeit der beunruhigendere Aspekt internationaler Politik die »humanitäre  Intervention« oder die generelle »Nicht-Intervention« ist, oder eine Abfolge von  beidem. 

Ist extreme Gewalt aus der Sicht des neoliberalen Kapitalismus rational oder funktional?

Das ist eine schwierige Frage, die sich dennoch nicht vermeiden lässt. Auch hier  sollte man vor der Paralogie warnen, Konsequenzen mit Zielen oder Absichten zu  verwechseln. (Kann man wirklich Absichten sozialer Systeme ausmachen? Lässt sich  andererseits vermeiden, über die immanenten Ziele einer Struktur - des  Kapitalismus - oder über deren Logik zu reflektieren?) Doch das Auftreten der  Kette extremer Gewalt zeitigt, schematisch gesprochen, zwei globale Folgen - vergleichbar etwa der Situation, die Marx als ursprüngliche Akkumulation  bezeichnete, den Prozess also, der die Voraussetzungen für die kapitalistische  Akkumulation schuf; Marx stellte diesen Prozess durch die Beschreibung der  Gewalt und der Unterdrückung der Armen dar. 

Die eine Folge besteht darin, eine Situation materieller und moralischer  Unsicherheit für Millionen potenzieller Arbeitskräfte zu verallgemeinern, das  heißt eine massive Proletarisierung bzw. Reproletarisierung voranzutreiben.  (Vorausgesetzt, dass die Unsicherheit der Existenz strukturell proletarisches  Leben charakterisiert, dann handelt es sich um eine neue Phase der  Proletarisierung, die ein Zurück zu Verhältnissen bedeutet, denen viele bereits  entkommen zu sein glaubten.) Dieser Prozess findet zurzeit statt, in Verbindung  mit einer zunehmenden Liberalisierung des Kapitalverkehrs und dem Zwang zur  Mobilität. Er überschreitet Grenzen und nimmt dabei, in historischer Perspektive  betrachtet, mehrere politische Varianten an: 

- im Norden umfasst er den teilweisen oder vollständigen Abbau sozialstaatlicher  Sicherungen und Institutionen, die den Wohlfahrtsstaat oder vielmehr das, was  ich »national-sozialen Staat« nenne, gekennzeichnet haben. Und damit auch den  gewaltsamen Umbauprozess von Welfare zu Workfare, vom Sozialstaat zum Strafstaat  (die USA sind dabei richtungsweisend, wie Loïc Wacquant in Les prisons de la  misère überzeugend gezeigt hat); 

- im Süden umfasst er die Zerstörung und Umkehrung von Entwicklungsprogrammen  und -politik, die zwar nicht ausreichten, um einen Take-Off herbeizuführen, wohl  aber, zum Teil, Verelendung verhinderten; 

- in der Semiperipherie, um den Begriff Immanuel Wallersteins zu verwenden, war  er verbunden mit dem Zusammenbruch der als Realsozialismus bezeichneten  diktatorischen Strukturen, die auf Entbehrung und Korruption basierten, die aber  die Polarisierung zwischen Reichtum und Armut auch in gewissen Grenzen hielten. 

Die formale Gemeinsamkeit dieser Prozesse, die alle die Reproletarisierung der  Arbeitskraft zur Folge haben, liegt darin, dass sie die Formen und Möglichkeiten  der Repräsentation der Subalternen innerhalb der Staatsapparate selbst, oder,  wenn man so will, die Möglichkeiten einer mehr oder weniger effektiven  Gegenmacht unterdrücken oder zumindest einschränken. Ich möchte hiermit  lediglich den politischen Aspekt von Prozessen betonen, die auf den ersten Blick  als überwiegend ökonomische Prozesse erscheinen. 

Ich denke, die politische Dimension tritt noch stärker hervor, wenn wir uns der  anderen Seite zuwenden, dem zweiten Resultat extremer Gewalt, auch wenn der  Mechanismus hier sehr unklar ist. Unklar, aber zweifellos real. Ich denke hier  an eine noch destruktivere Tendenz, destruktiv nicht in Bezug auf soziale  Sicherungssysteme oder traditionelle Lebensformen, sondern in Bezug auf die  sozialen Beziehungen als solche und letztlich in Bezug auf das »nackte Leben«  (Giorgio Agamben). Ich erinnere an Michel Foucault, der bekanntlich unterschied  zwischen leben lassen (laisser vivre) und sterben lassen (laisser mourir).  Angesichts der kumulativen Effekte unterschiedlicher Formen extremer Gewalt oder  Grausamkeit, die in dem, was ich »Zonen des Todes« für die Menschheit genannt  habe, sichtbar werden, besteht Grund zu der Annahme, dass die gegenwärtige Form  der Produktion und Reproduktion eine Form der Produktion zur Eliminierung ist:  eine Reproduktion von Bevölkerungsgruppen, die produktiv vermutlich nicht  nützlich sind oder nicht ausgebeutet werden können, sondern immer schon  überflüssig sind und deshalb nur eliminiert werden können, sei es auf  politischem oder anderem Wege. Lateinamerikanische Soziologen haben diese  Bevölkerungsgruppen provokant als »Población chatarra« bezeichnet, als  »menschlichen Abfall«, Menschen, die existieren, um weggeworfen zu werden, raus  aus der Global City. Wenn es tatsächlich so ist, stellt sich erneut die Frage  nach der Rationalität dieser Form. Oder feiert der Irrationalismus gerade seinen  absoluten Triumph? 

Diese Form ist ökonomisch irrational, da sie letztlich die Akkumulationsrate  begrenzt, aber sie ist politisch rational - oder anders ausgedrückt, sie kann in  politischen Begriffen interpretiert werden. Tatsache ist, dass sich Geschichte  nicht einfach zyklisch bewegt und den Bewegungszyklen der Akkumulation folgt. Es  gab im 19. und 20. Jahrhundert ökonomische und politische Klassenkämpfe, die  dazu führten, die Möglichkeiten der Ausbeutung einzuschränken und ein gewisses  Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Kräften herzustellen. Diese  Ereignisse bleiben dem System sozusagen im Gedächtnis. Das System (und  vermutlich auch einige seiner Theoretiker und Politiker) weiß, dass es keine  Ausbeutung ohne Klassenkämpfe gibt, keine Klassenkämpfe ohne Organisation und  Repräsentation der Ausgebeuteten, keine Repräsentation und Organisation ohne die  Intention, politische und soziale Rechte zu erkämpfen. Genau das kann sich der  gegenwärtige Kapitalismus nicht leisten: Technologische Revolutionen schaffen  zwar günstige, aber unzureichende Voraussetzungen für die Entproletarisierung  der tatsächlichen oder potentiellen Arbeitskraft. Ein »globaler Sozialstaat«,  der mit den »national-sozialen Staaten« in einzelnen Teilen der Welt im 20.  Jahrhundert vergleichbar wäre, ist ausgeschlossen. Es gibt keine politische  Möglichkeit, ihn zu realisieren. Entsprechend gibt es politische Repression,  verbunden mit extremer Gewalt, gegen jeden Schritt in diese Richtung. Aber  politische Repression reicht dieses Mal unter Umständen nicht aus. Eliminierung  oder Exterminierung muss stattfinden, wenn möglich passiv, wenn nötig aktiv;  gegenseitige Eliminierung wäre die beste Lösung, sie muss jedoch von außen  unterstützt werden. 

Genau das bewegt mich zu der Annahme (und führt mich zu meiner dritten Frage),  dass die »Ökonomie globaler Gewalt«, wenn sie nicht funktional ist (weil ihre  immanenten Ziele tatsächlich widersprüchlich sind), in einem gewissen Sinne  zielgerichtet bleibt. Dieselben Bevölkerungsgruppen, auf die hier abgehoben  wird, assimilieren sich zunehmend, sie unterscheiden sich nicht mehr. Sie sind  in qualitativer Sicht deterritorialisiert, wie Deleuze sagen würde, eher in  einem intensiven als in einem extensiven Sinne. Sie leben am Rande der Stadt,  unter der permanenten Drohung, eliminiert zu werden; umgekehrt leben sie aber  auch - und so werden sie auch wahrgenommen - als »Nomaden«, selbst wenn sie aus  ihren Homelands nicht weg können, das heißt ihre bloße Existenz, ihre Quantität,  ihre Bewegungen, ihre virtuellen Forderungen nach Rechten und nach  Staatsbürgerschaft werden als Bedrohung der »Zivilisation« wahrgenommen. 

Gibt es ein globales System extremer Gewalt?

Gewalt kann höchst unpolitisch sein, trotzdem aber ein System bilden oder als  systematisch aufgefasst werden, wenn die unterschiedlichen Formen von Gewalt  sich gegenseitig verstärken, wenn sie dazu beitragen, die Voraussetzungen für  ihr Fortbestehen und ihre Erweiterung zu schaffen, wenn sie letztlich eine  Abfolge menschlicher Katastrophen bilden, bei denen all jene Handlungen, die  darauf abzielen, die Ausbreitung von Gewaltanwendung zu verhindern oder deren  Auswirkung zu begrenzen, systematisch behindert werden. Genau diese Teleologie  möchte ich ganz objektiv als präventive Konterrevolution bezeichnen, oder  vielleicht besser als präventive Aufstandsbekämpfung. Nur dem Anschein nach eine  Anspielung auf Hobbes, da die Waffe, die im »Krieg aller gegen alle« zum Einsatz  kommt, ein neuer Krieg ist (Le Monde bezeichnete das Vorgehen in Kolumbien als  »Krieg gegen die Bevölkerung«, den der Staat zusammen mit der Mafia führt).  Politik als Antipolitik, aber sie erscheint als System aufgrund der vielen  Verknüpfungen zwischen den heterogenen Erscheinungsformen der Gewalt  (Waffenhandel, der unentbehrlich für den Staatshaushalt ist, ist ohne Korruption  nicht denkbar; Korruption nicht ohne Kriminalität; Drogenhandel, Organhandel und  moderner Sklavenhandel nicht ohne Diktatur; Diktatur nicht ohne Bürgerkrieg und  Terror ...). Vielleicht auch deshalb, weil es eine Politik extremer Gewalt gibt,  die alle Unterschiede zwischen den Formen verwischt, um eine Figur des Bösen zu  konstruieren (humanitäre Interventionen sind nicht selten daran beteiligt); aber  auch deshalb, weil es eine Ökonomie extremer Gewalt gibt, durch die sowohl die  Berichterstattung als auch die Interventionen zu einem profitablen Geschäft  werden. 

Strategien der Zivilität 

Von einer Aufteilung in Zonen des Lebens und Zonen des Todes zu sprechen,  zwischen denen eine fragile Demarkationslinie besteht, heißt, von der  totalitären Seite der Globalisierung zu sprechen. Globalisierung lässt sich  jedoch nicht darauf reduzieren. In dem Moment, in dem die Menschheit ökonomisch  und in gewisser Weise auch kulturell vereint wird, wird sie biopolitisch  gespalten. Eine Politik der Zivilität (oder eine Politik der Menschenrechte)  kann entweder das imaginäre Substitut der zerstörten Einheit sein oder für  diejenigen Initiativen stehen, die überall, und insbesondere auch an den Grenzen  der Nationalstaaten, Gleichheit einfordern, den Horizont politischer Handlung. 

Es gibt keine wirkliche Schlussfolgerung, lediglich den Versuch, Reflexionen und  Debatten auf einige sensible Aspekte zu lenken: auf das Problem der Counter- Gewalt, das Problem internationaler Gesetzgebung, das Problem des Zugangs zur  Staatsbürgerschaft und auf das, was ich als Insurrektion bezeichnen möchte.

Unterschiedliche Strategien der Zivilität sind denkbar. Ihre Grundlagen und die  Möglichkeiten ihrer Implementierung zu diskutieren, wäre jedoch Gegenstand eines  weiteren Aufsatzes. Ich will mich auf folgendes beschränken: Da die realen und  die virtuellen Aspekte im Nexus extremer Gewalt so eng miteinander verwoben  sind, fällt es sehr schwer, einen Ansatz zu finden, der weder die eine noch die  andere Seite privilegiert. In gewisser Weise entspricht dies der klassischen  Auffassung von politischer Praxis. Sie zielt im Wesentlichen darauf ab, entweder  Gemeinschaften und ein Gemeinschaftsgefühl zu bilden (und ich stimme Benedict  Anderson in jedem Fall zu, dass alle historischen Gemeinschaften vor allem  fiktive Gemeinschaften sind) oder die Welt zu verändern, das heißt,  materialistisch ausgedrückt, soziale Strukturen zu verändern, insbesondere  Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Ich denke, dass die Art und Weise, wie  extreme Gewalt in der heutigen Politik diskutiert wird, es noch dringender  macht, nach einer Aufhebung dieses Dualismus zu suchen, nicht, indem man dessen  duale Aspekte ignoriert, aber indem man ganz praktisch und konkret versucht,  dessen Anforderungen und Beschränkungen kritisch zu kombinieren. 

Deshalb wäre ich beispielsweise nicht einverstanden, wenn sich die Grundlage  einer Politik der Zivilität darin erschöpfte, auf internationalem Recht zu  insistieren, auch wenn es sich hierbei um ein weltweit bedeutendes Element der  Demokratie handelt. Jürgen Habermas etwa hat sich kontinuierlich in diese  Richtung bewegt und auf die grundlegende Bedeutung der kommunikativen Ethik  insistiert. Habermas vernachlässigt jedoch die Tatsache, dass sich die Tore der  Kommunikation manchmal nur mit großer Kraftanstrengung öffnen lassen, und  manchmal geht es auch nur mit Gewalt, oder sie bleiben für immer verschlossen.  Internationales Recht ist hier notwendig, aber nicht ausreichend. Aus einem  anderen Blickwinkel spricht sicherlich vieles für die Auffassung, dass der  zunehmend konterrevolutionäre oder aufstandsbekämpfende Charakter extremer  Gewalt nach einer Counter-Counter-Insurrektion verlangt, einer Erneuerung der  Idee der Revolution beispielsweise - dieses Mal vielleicht eine wirkliche  Weltrevolution, die sich genau gegen jene globalen Strukturen richtet, die  Gewalt mit Kapitalismus, Imperialismus und mit dem, was Negri und Hardt jetzt  als Empire bezeichnen, verbinden. Aber auch hier gibt es eine Schwierigkeit,  nämlich in genau die Symmetrie politischer Methoden und Zielsetzungen  zurückzufallen, die seit dem Versuch der ersten sozialistischen und  antiimperialistischen Revolutionen, die Macht im Namen einer Diktatur des  Proletariats zu ergreifen, mithalf, dass extreme Gewalt zum festen Bestandteil  emanzipatorischer Politik wurde und so dazu beitrug, dass das 20. Jahrhundert zu  dem wurde, was Eric Hobsbawm das »Zeitalter der Extreme« nannte. Es ist nicht  nur der Staat oder die Ökonomie, die zivilisiert werden müssen, sondern auch die  Revolution selbst. Ich bin überzeugt, dass an vielen Orten aktiv nach einer  Lösung für dieses historische Problem gesucht wird, ohne dass bisher eine klare  Lösung gefunden worden ist oder aufgezeigt werden kann. 

Zum Schluss möchte ich vorsichtig und vielleicht sogar aporetisch eine  Überlegung des holländischen Politologen Herman van Gunsteren aufnehmen. Ich  denke, van Gunsteren geht recht in der Annahme, dass heute alle politischen  Gemeinschaften - einschließlich virtueller Communities, von Nachbarschaften über  Städte und Nationalstaaten bis zur gesamten Erde, von Territorien bis zu  Netzwerken - Communautés de destin sind. Es sind Gemeinschaften, die bereits  Differenzen und Konflikte in sich tragen, in denen Individuen und Gruppen durch  Geschichte und Ökonomie heterogen zusammengeworfen wurden, auf eine Weise, die  es ihnen unmöglich macht, in ihren Interessen und kulturellen Idealen spontan  aufeinander zu zu gehen, die es ihnen aber auch nicht ermöglicht, sich  vollständig voneinander abzugrenzen, ohne zu riskieren, einander zu zerstören  (oder gemeinsam vernichtet zu werden). Im Anklang an Hannah Arendts Kritik der  Menschenrechte (aber auch an Kants Prinzip vom »Sich neben einander dulden  müssen« aus seinem Essay Zum ewigen Frieden von 1795) stellt van Gunsteren den  (zugegebenermaßen metapolitischen) Grundsatz auf: Für jedes Individuum in jeder  Gruppe muss es mindestens einen Ort auf der Welt geben, wo er/sie als Bürger  anerkannt wird und folglich auch Menschenrechte hat. Wenn man aber nur einen  Schritt über das bloße Prinzip hinausgeht, stellt sich die Frage: Wo ist dieser  Ort? Wenn Gemeinschaften Communautés de destin sind, gibt es nur eine einzige  radikale Antwort: überall dort, wo es Individuen und Gruppen gibt, wo sie  zufällig leben, arbeiten, Kinder zur Welt bringen, anderen helfen, Partner für  jede Form des Austauschs finden ... Folgt man meinen Thesen zur Topographie der  heutigen globalisierten und grausamen Welt, können wir noch genauer werden. Die  Anerkennung und Institutionalisierung von Bürgerrechten, die praktisch der  Entwicklung von Menschenrechten vorausgehen, muss jenseits von jeder exklusiven  Zugehörigkeit zu einer Gruppe organisiert werden. Sie sollte sozusagen »an den  Grenzen« stattfinden, wo so viele unserer Mitmenschen tatsächlich leben. Van  Gunsteren betont zu Recht, aus einer Perspektive, die ich den Standpunkt der  Zivilität nennen würde, dass es zentral ist, eine Citoyenneté imparfaite zu  fordern, also unvollendete Bürgerrechte, die nicht halb sind oder sonst  irgendwie beschränkt, sondern sich permanent neu konstituieren. Das Wichtige ist  nicht die formale Definition von Rechten, die verfassungsmäßige Zugehörigkeit zu  einem Rechtssystem oder der Anspruch auf Rechte, sondern vielmehr der permanente  Zugang zu Bürgerrechten und damit zu Menschlichkeit. Van Gunsteren nennt das  eine »Staatsbürgerschaft im Werden«. Das ist ein aktiver und kollektiver ziviler  Prozess und erst an zweiter Stelle ein einfacher Rechtsstatus. 

Editorische Anmerkung
Der Text ist eine Spiegelung von
textz.gnutenberg.net/textz/balibar_etienne_topographie_der_grausamkeit.txt
Er erschien in der Printversion bei Subtropen dem monatliches Supplement zur Jungle World, der Ausgabe Dezember 2001.