Berlin: Ein Fall von fiskalpolitischer Fahrerflucht

von Hans-Georg Lorenz
02/03
 
 
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Berlin ist aus der Tarifgemeinschaft der öffentlichen Arbeitgeber ausgetreten. Durch den Austritt will der rot-rote Senat seinen Bediensteten ein Sonderopfer abpressen. Von dieser Opfergabe ist weder ein Konsolidierungsbeitrag noch politischer Terraingewinn zu erwarten. Warum also dieser Harakiri-Kurs? Hans-Georg Lorenz erklärt Hintergründe. Mit dem Ausstieg Berlins aus der Tarifgemeinschaft der öffentlichen Arbeitgeber versucht der rot-rote Berliner Senat nach dem Scheitern der Verhandlungen über einen "Solidaritätspakt" mit der Brechstange ein Sonderopfer der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zu erzwingen. Berlin will die Ergebnisse des auf Bundesebene mühselig erreichten Tarifabschlusses, der den Staatsbeschäftigten in der Bundesrepublik gerade einmal ihre gegenwärtige Einkommensposition sichert, nicht übernehmen, sondern verlangt von seinen Beschäftigten, niedrigere Einkommenserhöhungen sowie Streichungen beim Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu akzeptieren. Begründet wird dieser Affront gegenüber den Berliner Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes mit der trostlosen Haushaltslage Berlins.

Nun ist Berlin in der Tat pleite. Der Regierende Bürgermeister hat die Haushaltsnotlage erklärt! Der Senat will eine finanzielle Hilfe des Bundes für den Berliner Haushalt gegebenenfalls auch gerichtlich erstreiten. Die wirtschaftliche und finanzielle Situation Berlins hat sich seit Jahren stetig verschlechtert: Hatte Berlin im Jahre 1990 Schulden in Höhe von 9 Mrd. EUR, sind es nun 39 Mrd. Hinzu kommt die 20-Mrd.-EUR-Garantie für die Geschäfte der Bankgesellschaft. Etwa 35 Mrd. EUR zusätzlicher Verpflichtungen aus dem Wohnungsbau schlagen jährlich mit rund 3
Milliarden DM an Zinszahlungen zu Buche. An dieser Haushaltslage wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Man muss im Gegenteil davon ausgehen, dass die schwierigen gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen (bescheidene wirtschaftliche Wachstumsraten), die besonderen ökonomisch-sozialen Belastungen Berlins, aber auch die Politik des rot-roten Senats die Finanzprobleme der Stadt noch verschärfen.

Die soziale Situation in Berlin ist schon jetzt dramatisch. 435.000 Berlinerinnen und Berliner leben in Armut und haben weniger als 546 EUR monatlich zur Verfügung. Von den 3.383.800 Bewohnern der Stadt leben nur 1.387.500 (41%) von Erwerbsarbeit. 213.500 (6%) sind Bezieher von Arbeitslosengeld oder -hilfe (bei 17% Arbeitslosigkeit), 165.100 (5%) von Sozialhilfe. 773.200 Berlinerinnen und Berliner (23%) leben von ihrer Rente oder Pension. Die Steuereinnahmen stagnieren bereits seit sechs Jahren, während sie im übrigen Deutschland durchschnittlich um 10,7% stiegen.

Diese Situation hat dazu geführt, dass aus Berlin eine Stadt mit schwerwiegenden sozialen Problemen geworden ist. Ganze Stadtteile verwahrlosen. Die großräumige Ballung von Menschen mit nichtdeutscher Herkunft erschwert deren Integration; für viele sind schon die Sprachbarrieren unüberwindlich. Die schulischen Misserfolge der in Berlin aufwachsenden Jugendlichen sind oft programmiert. Die spezifische soziale und ökonomische Lage der Stadt erfordert insgesamt einen anderen Finanzbedarf als den, der sich durch Pro-Kopf-Vergleiche mit anderen Großstädten ermitteln lässt.

Ein Gefühl der Resignation macht sich breit. Für diese Not gibt es viele Gründe:

die internationale und nationale wirtschaftliche Entwicklung im Allgemeinen, die Belastungen aus der erfolgreichen Wiedervereinigungspolitik, und schließlich die eigenen Fehler.

Die internationale Entwicklung

Nach dem Untergang des "real existierenden Sozialismus" gab es in den 90er Jahren weltweit eine wirtschaftliche Aufschwungsphase. Der Kapitalismus hatte gesiegt – und die Realität in den ehemals sozialistischen Ländern ihren Beitrag dazu geleistet. Dieser Siegeszug des Kapitalismus wurde so missverstanden, als gebe es die Gefahren und Missstände nicht, die von den Theoretikern des Sozialismus, aber auch des Kapitalismus beschrieben und angeklagt wurden. Das Prinzip der Gewinnmaximierung wurde nach 1990 in Nordamerika und Europa in einem Maße durchgesetzt wie schon seit hundert Jahren nicht mehr. Die enormen Gewinne der Kapitalgesellschaften und scheinbar endlos steigende Aktienkurse schienen der breiten Öffentlichkeit zu bestätigen, dass Reichtum eine sichere Folge dieser Entwicklung sei. Der Mittelstand investierte nicht selten sein ganzes Vermögen in diese Orgie anscheinend unermeßlich steigenden Reichtums. Dann ist das Kartenhaus zusammengebrochen. Die Alterssicherungen vieler Millionen Menschen, auch in Amerika, gingen verloren. Die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten stagnieren bzw. sind sogar rückläufig, die sozialen
Leistungen (Arbeitslosengeld und -hilfe, Sozialhilfe, Wohngeld) steigen wegen der wachsenden Arbeitslosigkeit und zunehmender sozialer Ausgrenzung. Der Staat gerät mehr und mehr an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Steuernachlässe für Konzerne haben in unverantwortlichem Umfang ihren Teil dazu beigetragen. Die Folge: Die sozialstaatlichen Strukturen und Leistungen werden um- und abgebaut. England und die USA sind Beispiele dafür, wie der vorgebliche "Erfolg"
dieser Volkswirtschaften die Menschen ruiniert. Der Mittelstand, der bis dato immer als Garant eines funktionierenden Staatswesens galt, gerät mehr und mehr unter Druck.

Folgen der Wiedervereinigung

Das politische Ziel der Einheit Deutschlands sollte in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg durch ein lebensfähiges Berlin wachgehalten werden. Das war nur zu erreichen, wenn man die Stadt massiv unterstützte. Alle Regierungen der Bundesrepublik Deutschland wussten, dass Berlin dennoch hohe Schulden machte – und haben es gebilligt. Die Verpflichtungen aus dem Wohnungsbau und der hohe Anteil öffentlich Bediensteter sind Beispiele für die Folgen dieser Politik. Dass Kohl und Waigel die Berlin-Hilfe nach dem Zusammenbruch der DDR so früh und so radikal beendeten, war im Ergebnis ein Schlag gegen die Lebensfähigkeit Berlins. Es wäre allerdings schön gewesen, wenn dies die einzige Last geblieben wäre, die die Stadt zu tragen hat.

Die Berliner Fehler

Während der Zeit der Isolation hat sich in West-Berlin ein System der Vetternwirtschaft und Korruption aufgebaut, in dem die Politik die undankbare Rolle des dummen August spielte. Man war an der Korruption beteiligt, auch wenn die Politiker in der Regel nicht unmittelbar davon
profitierten. Einige Dutzend "Manager" und "Firmeninhaber" schanzten sich die Geschäfte zu und betrogen das Land um Milliardenbeträge. Nach der Wende kam dieses "Team" erst richtig zum Zug: Anfangs verdiente man z.B. an einem in unverantwortlicher Weise geförderten Wohnungsbau. Als diese Quelle versiegte, setzte man die "Privatisierung" der Bankgesellschaft und der öffentlichen Betriebe durch. Das brachte Wenigen in sechs Jahren Gewinne in zweistelliger Milliardenhöhe. Fazit: Neben den "mauerbedingten Schulden", die durch den viel zu schnellen Abbau der Berlinförderung dramatisch anwuchsen, hat das Land durch Korruption und falsche Politik mehrere zehn Milliarden EUR verloren.

Die "neue Politik"

Natürlich musste auch die Berliner politische Klasse zur Kenntnis nehmen, dass es so nicht weitergehen konnte. Man wollte "umsteuern". Zunächst – also in den Zeiten der wirtschaftlichen Euphorie – setzte man auf Wachstum und Gigantomanie. Danach begann die Phase des Abtauchens. Es wurde auf allen Ebenen "Personenimport" betrieben. Es kamen Leute, die den Berlinern im Stile von Staatskommissaren die Leviten gelesen haben. Und natürlich brachten sie ein "Programm" mit. Sie nannten es "Konsolidierung".

"Konsolidierung" steht seither für Stellenkürzungen im öffentlichen Dienst und für "Privatisierung". Ein Konzept steht nicht dahinter. Das Ergebnis nach sechs Jahren: Von Konsolidierung des öffentlichen Haushalts ist Berlin weiter entfernt denn je.

Nun muss, auch als Ergebnis ausbleibender Steuereinnahmen, der gerade erst geschmiedete Doppelhaushalt 2002/2003 durch einen Nachtrag ergänzt werden. Die "Konsolidierung" – einst für das Jahr 2000 versprochen – ist nur noch eine Leerformel. Die "Privatisierungen" (Stichwort: Bankgesellschaft) haben Berlin an den Rand des Ruins gebracht. Konsolidiert haben sich die
Finanzen der "Privaten", nicht die Berlins.

Mit Privatisierung der Bankgesellschaft Berlin schrieben die Verantwortlichen ein besonders schreckliches Kapitel Bankengeschichte. Allein für die Kapitalerhöhung 2001 wurden 1,75 Mrd. EUR Haushaltsmittel eingesetzt. Durch die Risikoabschirmung entsteht dem Land am Ende ein
Verlust von mindestens 8 Mrd. EUR, im günstigen Fall verteilt auf 30 Jahre. Es können aber auch 22,5 Mrd. EUR werden. Die neueste Forderung: Zusätzlich eine Garantie über 5 Mrd. EUR für die Berliner Bank!

Eine Kontrolle gab und gibt es nicht! Deshalb fordert der Rechnungshof von Berlin, die im Zuge der Bildung der Bankgesellschaft beseitigten Prüfungsrechte wiederherzustellen. Wird gar noch die Sparkasse verkauft, dann verzichtet Berlin auf ein wichtiges Instrument der Finanz-, Wirtschafts-, und Sozialpolitik.

Die Folgen der Privatisierungspolitik für die Beschäftigten und die Lebensverhältnisse in der Stadt bleiben auf der Tagesordnung. Die Bankgesellschaft soll gesund geschrumpft werden. 4.000 Arbeitsplätze werden gestrichen. Die Leistungen für die Kunden werden abgebaut, das Filialnetz wird reduziert, die Gebühren werden erhöht. In allen Punkten ist das Gegenteil des Versprochenen eingetreten. Die Bewag wurde und wird ausgeraubt – und wir können zufrieden sein, wenn der Betrieb als regionaler Versorger erhalten bleibt. Die Gasag ist in einen "Flottenverband" zerhackt worden. Die Preise sind drastisch gestiegen. Die Berliner Wasserbetriebe sind nicht gewachsen, sondern reduziert worden. Die Preise werden dramatisch steigen. Nirgends hat die Privatisierung die versprochenen Vorteile erbracht.

Haushaltsrisiko Wohnungsbauanschlussförderung

Die aktuelle Auseinandersetzung um eine Anschlussförderung für den sozialen Wohnungsbau dreht sich um ein weiteres Kapitel in der unendlichen Geschichte der auch durch eine falsche Politik mit herbeigeführten Haushaltsnotlage Berlins.

Worum geht es dabei? Im Jahre 1969 wurde in Berlin das Förderungssystem für den sozialen Wohnungsbau eingeführt. Über 15 Jahre wurde dabei den Wohnungsbaugesellschaften 80% ihrer Kostenmiete ersetzt. Zwischen 1970 und 1975 wurden 83.929 Wohnungen gebaut, die mit 9,6 Mrd. DM gefördert wurden, also durchschnittlich mit 114.000 DM. Von 1976 bis 1981 wurden dann nur noch 47.511 Wohnungen mit einer Fördersumme von 10,7 Mrd. DM, also 225.000 DM pro Wohneinheit gefördert. Zwischen 1982 und 1987 wurden 41.046 Wohnungen gefördert mit insgesamt 14,6 Mrd. DM, also mit 355.000 DM pro Wohneinheit. Danach kam die politische Wende. Zwischen 1988 bis 1993 wurden 59.572 Wohnungen gefördert. Dafür wurden 23,7 Mrd. DM aufgewendet. Das sind 397.000 DM pro Wohneinheit. Zwischen 1994 und 1999 wurden 60.322
Wohnungen gefördert. Was sie kosteten, wurde nicht mehr offiziell verlautbart.

Der Senat entscheidet jetzt über eine (auf 15 Jahre verlängerte) Anschlussförderung für die in den Jahren 1987 bis 1997 erbauten 25.000 Mietwohnungen. Diese Anschlussförderung würde den Berliner Haushalt für die nächsten 15 Jahre mit 2,5 Mrd. EUR belasten. Dies ist angesichts des
akuten Finanznotstands, einem Leerstand von ca. 100.000 Wohnungen und einer vorraussichtlich rückläufigen Zahl an Haushalten in Berlin nicht zu verantworten. Dass bei einem Stop der bisherigen Form der Wohnungsbauförderung verschiedene Eigentümer zahlungsunfähig werden und damit Bürgschaften fällig werden, die den Haushalt wiederum belasten, muss dabei in Kauf genommen werden.

Bilanz der Privatisierungen: eine Katastrophe

Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ist das wichtigste Ziel der Politik der rot-roten Regierungskoalition. Insgesamt wurden durch die Politik der Privatisierung aber direkt oder indirekt mindestens 25.000 Arbeitplätze vernichtet. Der Verlust von Arbeitsplätzen durch Kaufkraftverlust ist in diesen Zahlen nicht enthalten.

Frühere Generationen haben bewusst bestimmte Lebensbereiche dem kapitalistischen Wettbewerb und der Konkurrenz entzogen. In vielen Ländern setzt sich zwischenzeitlich wieder die Erkenntnis durch , dass Wasser, Strom, öffentlicher Verkehr, Entsorgung und Gesundheit zu den Bereichen gehören, in denen sich die Gesellschaft in die Zwangshaft von Wenigen begibt, wenn sie das Geschäft der Profitlogik unterstellt und nicht selbst betreibt. Anderswo wird enteignet oder wie in England rekommunalisiert: Es gab ein Nein zur Privatisierung der Londoner U-Bahn. Die Schweizer haben im September 2002 mit einer Volksabstimmung das "Gesetz über den Strommarkt", das die Privatisierung vorsah, mit großer Mehrheit abgelehnt.

Die Bilanz der Berliner Privatisierungspolitik ist eine Katastrophe. "Neue zukunftssichere Arbeitsplätze" wurden versprochen, mindestens sollten die verbleibenden gesichert sein. Nichts davon ist erreicht worden. Nicht die öffentlichen, sondern die privaten Finanzen der beteiligten "Investoren" haben nachhaltige Konsolidierung erfahren. Nach sieben Jahren melden Gasag, Bewag, Bankgesellschaft und Wasserwerke unverändert Stellenstreichungen. Neue zukunftsfähige Arbeitsplätze – Fehlanzeige.

Konfrontation mit den Gewerkschaften

Mit der Erklärung der Haushaltsnotlage ist die Berliner Politik in eine neue Phase eingetreten. In dieser Situation auf Konfrontationskurs zu den  Gewerkschaften zu gehen und ein Sonderopfer der Beschäftigten zur Haushaltskonsolidierung zu verlangen, bedeutet für SPD und PDS politischen
Selbstmord.

Mit dem Austritt aus der Tarifgemeinschaft der öffentlichen Arbeitgeber hat der rot-rote Senat ein besonders fatales Signal in Richtung einer Auflösung von Strukturen, die einheitliche Arbeits-und Lebensbedingungen für alle Beschäftigten in Deutschland garantieren, und damit der
Untergrabung der Prinzipien einer solidarischen Gesellschaft gesetzt. Ökonomisch sind die verlangten Abstriche bei den Einkommen der Staatsbeschäftigten absolut kontraproduktiv, weil sie die private Nachfrage weiter schwächen, neue Produktionsausfälle bei den Unternehmen, weitere Arbeitslosigkeit etc. und in der Folge Steuerausfälle programmieren.

Perspektiven?

Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben schon in den letzten Jahren erhebliche Beiträge zur Konsolidierung des Haushalts gebracht. Weitere perspektivlose Opfer führen zu Demotivierung und zu Qualitätsverlust bei den öffentlichen Dienstleistungen. Soll die Stadt wieder eine Perspektive haben, kann dies nur in Übereinstimmunmg mit ihren Beschäftigten geschehen.

Wir müssen davon ausgehen, dass die schlechten gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die spezifischen ökonomisch-sozialen Bedingungen Berlins die Haushaltslage eher noch verschärfen. Der gegenwärtige Sanierungkurs programmiert immer neue Einnahnmeausfälle und
Sparnotwendigkeiten. Soll die Stadt aus diesem Teufelskreis herauskommen, müssen die Einnahmesituation deutlich verbessert und gleichzeitig Maßnahmen zur Stablisierung und Erweiterung der betrieblichen Wertschöpfung in Angriff genommen werden. Dies ist aber nur möglich, wenn die Beschäftigten und die Menschen der Stadt davon überzeugt und auf diesen Weg mitgenommen werden.

Editorische Anmerkungen

Der Autor ist SPD-Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus und Sprecher der Vereinigten Linken (Donnerstag-Kreis) in der SPD. Sei Artikel wurde uns von e.preobrashenski@t-online.de  im Januar zur Veröffentlichung zugesandt. Er erscheint auch in der Zeitschrift Sozialismus - www.sozialismus.de
Heft Nr. 2 (Februar 2003), 30. Jahrgang, Heft 263