Brasilien
Turbokapitalismus und Sklaverei

von Klaus Hart
02/02
 
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In der zehntgrößten Wirtschaftsnation halten neofeudale Großgrundbesitzer nach wie vor Sklaven – Tendenz steigend, Aufmüpfige werden von Pistoleiros liquidiert. Weil kirchliche Menschenrechtler Druck machen, konnten letztes Jahr (2001)über zweitausend „Escravos“ befreit werden.

Manuel Ferreira dos Santos, Analphabet, Landarbeiter, ahnt nicht, daß er sich für eine berüchtigte Sklavenfazenda anwerben läßt – eine Woche später ist er tot, wird erschossen aufgefunden, Arme und Beine gefesselt. Laut ersten Ermittlungen liquidierte ihn ein Anwerber mit dem Gewehr, alles deutet darauf hin, daß Manuel fliehen wollte. Die Aktivisten der katholischen Bodenpastoral, der Comissão Pastoral da Terra (CPT) hätten ihn warnen können – aber die kennt er nicht. Wie sollte er auch. Gerade zweiundzwanzig Leute sind es, alle befreiungstheologisch orientiert, in diesem Amazonas-Teilstaat Parà, mehr als dreimal so groß wie Deutschland, extrem dünnbesiedelt. Die CPT klagt den Großgrundbesitzer Josèlio Carneiro seit Jahren an, Sklavenarbeiter zu beschäftigen, 1995 entdeckt die Bundespolizei auf seinem Besitz einen geheimen Friedhof. Doch die Ermittlungen werden eingestellt, zuständige Staatsanwältin der Region ist Carneiros Tochter.
Die von Manuel Ferreira dos Santos borgt sich Geld von Verwandten, fährt mit dem Bus tausende Kilometer, fahndet seit letztem November auf eigene Faust nach den Mördern ihres Vaters, bisher vergeblich, sie sind weiter auf freiem Fuß.

Seine Familie lebt verelendet in Imperatriz, bekannt als Pistoleiro-Hauptstadt des Landes, gehört zum ärmsten, zurückgebliebensten Teilstaat Brasiliens, zu Maranhão.
An dessen malerischer Atlantikküste schläft in einer Lehmkate Ricardo wie tot in der Hängematte, verkrustetetes Blut auf der Stirn, Wunden am Körper. „Pssst, weck ihn nicht auf“, sagt seine Mutter, „der war Sklave auf einer Parà-Fazenda, konnte abhauen, ist erst heute gekommen - sie haben ihn nicht gekriegt.“

Den zweiten Ex-Sklaven treffe ich ausgerechnet in Rio de Janeiro: Ein Fotograf, der bei Naturaufnahmen im Amazonas-Urwald von Pistoleiros eingefangen wird, mehrere Monate lang für einen Latifundista mit zig anderen den Privatflugplatz bauen muß, immer scharf bewacht. Erst als der fertig ist, werden alle davongejagt. Eine Anzeige machen? Der Fotograf hält das für zwecklos, ist froh, davongekommen zu sein. In Amazonien, sagt selbst das Militär, sind an die achtzig Prozent aller Wirtschaftsaktivitäten illegal. Eine Art Niemandsland, sagen dortige Bischöfe. Sogar Indios werden versklavt, für Anbau und Ernte von Epadù, der brasilianischen Coca-Pflanze.
Chavier Plassat, Rechtsanwalt, Dominikaner, hätte gut in Lyon bleiben können. Stattdessen riskiert er für umgerechnet keine neunhundert Mark monatlich nun schon zwölf Jahre sein Leben dort, wo Brasiliens neofeudale Sklavenhalter am brutalsten sind. Mini-Büro in Araguaina, magerste Ausstattung, schwüle Hitze bis über vierzig Grad. „In Süd-Parà ist das wie Wilder Westen, da funktioniert der Staat nicht, kriege ich Morddrohungen, stehe auf einer Todesliste, wie viele von der CPT.“ 2001 werden in Parà zehn Gewerkschafts-und Landlosenführer ermordet, in ganz Brasilien neunundzwanzig, alle engagiert gegen die moderne Sklaverei. Es hätte auch Plassat treffen können, wie andere CPT-Mitarbeiter, sogar Padres, in den Jahren zuvor. Ganz verstreut auf dem Riesenterritorium Brasiliens, vierundzwanzig mal so groß wie Deutschland, sind es nur 225 festangestellte Aktivisten wie Plassat, teils von der Caritas gezahltes Durchschnittsgehalt um die fünfhundert Mark umgerechnet - und an die fünfhundert Freiwillige, darunter Landarbeiter und einige Ausländer. Alle sind bestgehaßt, machen den neofeudalen Fazendeiros, auch dem Großgrundbesitzer an der Staatsspitze, Präsident Fernando Henrique Cardoso, zunehmend Ärger. Denn nur die kirchliche CPT, keine Linkspartei, Gewerkschaft oder NGO, enthüllt so kontinuierlich und gutfundiert, wie im Drittweltland mit den meisten deutschen Investitionen bis heute das System der „Escravidão“ funktioniert: Anwerber, im Volksmund Gatos, Kater, genannt, versprechen Männern, auch Minderjährigen, aus Elendsgebieten der kraß unterentwickelten Nord-und Nordost-Teilstaaten gute Löhne und beste Unterbringung auf weit entfernten Riesenfazendas. Springen diese nach teils tagelanger Fahrt dort vom LKW, erwarten sie drei Sklaverei-Varianten: Aufseher, Pistoleiros mit scharfen Hunden stellen klar, daß ab sofort gratis gearbeitet wird, jedes Aufmucken, gar Fluchtversuche hart bestraft werden.

Oder: Angeworbene werden im Glauben gelassen, daß der Fazendeiro zum Monatsende schon zahlen wird, dies aber schließlich immer wieder unter Vorwänden hinauszögert, gar nicht mehr erscheint, die Leute von seinen bewaffneten Aufsehern in Schach halten läßt. Die Löhne einklagen? Etwa mit Hilfe der regionalen Justiz, gewöhnlich ebenso wie die Militärpolizei völlig auf der Fazendeiro-Seite? Die des Schreibens, Lesens, Rechnens Unkundigen wüßten auch gar nicht, wie man das macht. Zumal die nächste Polizeiwache oft Hunderte von Kilometern entfernt ist, kaum bereit, diese abgehungerten, abgehärmten, armseligen Figuren überhaupt anzuhören.

Weltweit rund 20 Millionen in Schuldsklaverei wie in Brasilien

Die dritte, gängigste und raffinierteste Sklaverei-Variante: Gewöhnlich erst auf der Fazenda eröffnen Anwerber und Aufseher, daß vor irgendwelcher Lohnzahlung erst einmal die Kosten für den Antransport, für Unterbringung und Verpflegung sowie die Arbeitsgeräte abgetragen werden müssen – alle sozusagen beim Fazendeiro zunächst beträchtliche Schulden haben. Natürlich werden die unverschämt hoch angesetzt – darüber herumdiskutieren, gar streiten, vor den Pistolenmännern mit den Killergesichtern wie in Wild-West-Filmen? Nicht ratsam, jeder Landarbeiter dieser Regionen weiß das nur zu gut, kennt die harten Sitten, übernommen aus der Kolonialzeit. Alle paar Tage wird auf irgendeiner Hinterland-Farm jemand nur deshalb auf der Stelle erschossen, weil er den bewaffneten Wiegemeistern vorwarf, weniger Kilo aufzuschreiben, als er an Zuckerrohr oder Früchten auf die Waage gelegt hatte. Manchmal steht sowas sogar in den Zeitungen. Meist verscharrt man den Mann irgendwo; nach dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Richter“ bleibt der Mord gewöhnlich folgenlos.

Auf der Sklavenfarm sitzen die Arbeiter nun in der Falle, fügen sich gewöhnlich in ihr Schicksal, glauben mangels Rechenkenntnissen gelegentlich sogar, was man ihnen da an „Schulden“ präsentiert. Der Fazendeiro setzt das Leistungspensum dann absurd hoch an, Lebensmittel gibt es zu überteuerten Preisen nur im Farmladen – was die „Divida“ weiter ansteigen läßt. Nur zu oft werden Angeworbene auf diese Weise Jahre festgehalten, kriegen nie einen einzigen Centavo zu sehen, sind froh, wenn sie irgendwann dort heil wieder wegkommen. Geronimo Moreira, CPT-Anwalt Plassat kennt den Fall, übernachtete letztes Jahr mit seinen Anwerbern auf dem Weg zu einer abgelegenen Parà-Fazenda, als ihm ein alter Mann zuflüstert:“Geh nicht da hin – wer dort reingeht, kommt nie wieder raus.“ Geronimo Moreira begreift, macht sich sofort davon:“Den Alten hielten sie schon zwanzig Jahre auf der Fazenda gefangen – als ich ihn traf, hatte man ihn kurz für ein paar Einkäufe herausgelassen – immer bewacht von Farm-Pistoleiros.“

Verdeckte Strukturen

Man sieht nur, was man weiß – wer etwa als drittweltbewegter Rucksacktourist mit der Rumpelbus durch Parà oder Maranhão fährt, gar an solchen Sklavenarbeiter-Fazendas halt macht, braucht schon gehörige Kenntnisse, um zu durchschauen, in welchen Sozialstrukturen er sich da bewegt. Manche Farmen erreichen beinahe die Größe deutscher Bundesländer, sind umzäunt, bewacht, von der vorbeiführenden Straße aus, gewöhnlich ein simpler Erdweg, sieht man höchstselten einen Landarbeiter. Und sollte etwa eine Inspektion der Bundespolizei drohen, lassen sich Sklaven notfalls leicht verstecken.

„Viele Sklavenarbeiter werden bis heute schon beim simpelsten Fluchtversuch ermordet, was abschreckend wirken soll. Doch auch von denen, die es schaffen, kommen nur die wenigstens zur CPT, geben uns Informationen“, sagt Plassats Companheiro Isidoro Revers, ein brasilianischer Historiker. „Manchmal muß so ein entlaufener Sklave an die vierhundert Kilometer durch den Urwald laufen – und ist dann immer noch nicht an einem halbwegs zivilisierten Ort, um beispielsweise eine Anzeige zu machen, hat erstmal enorme Überlebensprobleme. Viele, die entkommen, sterben auf der Flucht an Krankheiten, vor Hunger – auch deshalb erfahren wir nichts vom Schicksal der anderen.“

Doch inzwischen kennen Revers und Anwalt Plassat viele berüchtigte Fazendas, auch die Tricks der Besitzer, stellen eigene Ermittlungen an, hören von Entflohenen, suchen diese auf. Und aktivieren dann über vertrauliche Kontakte sofort Justizministerium und Bundespolizei in Brasilia, fordern den per Gesetz vorgeschriebenen Einsatz der sogenannten Spezialeinheit „Equipe movel“. Weil ihr 2001 Gelder, Personal und unumgängliche Transportmittel wie Hubschrauber gekürzt wurden, kommt sie gewöhnlich viel zu spät, vergeht laut Plassat häufig ein ganzer Monat, haben die betreffenden Großgrundbesitzer Wind bekommen, die Männer, manchmal Hunderte, schon davongejagt. Dennoch gibt es Erfolge. „Allein in Süd-Parà wurden 2001 etwa 1500 Sklavenarbeiter befreit, in ganz Brasilien weit über 2000 – aber das ist eben nur die Spitze des Eisbergs. Selbst das Arbeitsministerium räumt ein, daß auf jeden befreiten Sklaven drei weiterhin festgehaltene entfallen. Wir sagen aus Erfahrung, daß es noch viel, viel mehr sind.“ Die Bußgelder – nur umgerechnet etwa einhundert Mark pro entdecktem Escravo – werden meist garnicht bezahlt, Prozesse kommen nicht voran, Straffreiheit dominiert. Auf manchen Farmen entdeckt die Bundespolizei bis zu fünfmal hintereinander immer wieder Sklavenarbeiter.

Interamerikanischer Gerichtshof klagt Brasiliens Regierung an

Auf CPT-Initiative hat in Washington der interamerikanische Gerichtshof wegen der fortdauernden Sklaverei bereits drei Prozesse gegen Brasilien eingeleitet. „Auch in Deutschland organisierten wir vor zwei Jahren eine Briefaktion, die Staatschef Fernando Henrique Cardoso auffordert, mit der Sklaverei Schluß zu machen. Doch Entscheidendes ist nicht geschehen, die Sklaverei nimmt sogar wieder zu.“ Letzten Oktober ist Plassat wieder in Deutschland, hält Vorträge, versucht die Öffentlichkeit zu informieren, nimmt mit Galgenhumor und beißender Ironie, daß die rotgrüne Bundesregierung den Großgrundbesitzer Cardoso auch noch umhätschelt:“Da hält sich allen Ernstes die Auffassung, Brasilien sei doch jetzt eine Demokratie, mit einem erleuchteten Sozialdemokraten an der Staatsspitze – doch der Kontrast zwischen Cardosos Auslandspropaganda und der Realität ist nun mal enorm.“ Wenn der FU-Ehrendoktor zu offiziellen Besuchen nach Berlin kommt, verzichten Claudia Roth und Joseph Fischer natürlich auch bewußt auf jegliche Kritik an der fortdauernden Sklaverei, an Killerkommandos, Massenfolterungen, an der Amazonasvernichtung.

Unerklärter Bürgerkrieg: jährlich über 40000 Getötete aus politischen und kriminellen Motiven—
Und Cardoso tönt jedesmal, Deutschland gehöre zu den Ländern, mit denen man die besten Beziehungen überhaupt unterhalte. Gerhard Schröder zählt ihn zu den fortschrittlichsten Staatschefs der Erde, eröffnet mit ihm gar die Expo. Kein Problem für den Kanzler, daß bereits 1996 ein Internationales Tribunal mit Persönlichkeiten der UNO und des Weltkirchenrates den „Social-Democrata“ Cardoso immerhin als politisch Hauptverantwortlichen für grausige Massaker an Landlosen benennt. Jene rund zweihundert Militärpolizisten einer Sondereinheit , die in jenem Jahr just im Sklaverei-Teilstaate Pará nach amtlichen Angaben bei einem Blutbad neunzehn Landarbeiter, nach kirchlichen viel mehr tötete, sind weiter auf freiem Fuß bzw. im Dienst. „Immer mehr hochbewaffnete Fazendeiro-Milizen werden auch in Pará gebildet“, sagt Bischof Tomas Balduino, Präsident der CPT Ende 2001, „das ist hier wie Bürgerkrieg.“
 

Editoriale Anmerkung:
Dieser Artikel wurde uns vom Autor zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt..

V
om Autor erschien zuletzt:

Unter dem Zuckerhut
Brasilianische Abgründe


Picus Verlag Wien, 2001