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Die Akkumulation des Kapitals und der Imperialismus: Rosa Luxemburg

Von Werner Hofmann

02/02   trend onlinezeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin

Als die bewegendsten Vorgänge des Wirtschaftslebens in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg drängten sich den Zeitgenossen die rasche Oligopolisierung weiter Bereiche der Wirtschaft, der Kampf um den Weltmarkt in der Zeit der verschärften Schutzzollpolitik und schließlich das Streben der Großmächte nach kolonialem Besitz auf. Hat auf marxistischer Seite Hilferding vor allem die Monopoltendenzen im neuen Wirtschaftsleben untersucht, so hat Rosa Luxemburg (geb. 1870 in Zamocz bei Lublin, ermordet 1919 in Berlin), die zu den Exponenten des revolutionären Flügels in der deutschen Arbeiterbewegung der Zeit gehört, besonders für die expansionistischen Tendenzen des Wirtschaftssystems eine theoretische Erklärung gesucht. Ihr Werk „Die Akkumulation des Kapitals" (1913) (1), dem wir im weiteren folgen, ist von großem Einnuß auf andere Imperialismustheorien geworden und hat im Mittelpunkt der theoretischen Auseinandersetzung des zeitgenössischen Marxismus gestanden.

l. Kritik der Marxschen Reproduktionsschemata

Rosa Luxemburg setzt an bei den bis dahin in der deutschen ökonomischen Literatur vernachlässigten Marxschen Schemata der erweiterten Reproduktion des Kapitals. Als besonders wichtig erscheint hierbei der Austausch zwischen den zwei Produktionsabteilungen, durch den beide in ihrem Wachstum miteinander verklammert werden: Die Erzeugung derjenigen Konsumtionsmittel durch Abteilung II, die in den Verbrauch der Unternehmer und Arbeiter von I eingehen (ausgedrückt in den Größen v1 + mav1+mr1) muß wertgleich sein der Erzeugung derjenigen Produktionsmittel in Abteilung I, die der Ausdehnung von Abteilung II dienen (ausgedrückt durch die Wertgrößen C2 + m ac2; vgl. oben, S. 69). Also: v1 + mav1 +mr1 = c2 + mac2.

Marx faßt nun, wie Rosa Luxemburg meint, den Prozeß so auf, „. . . daß die Akkumulation in der Abteilung II vollkommen abhängig und beherrscht ist von der Akkumulation in I." So entsteht der Eindruck, „daß die ganze Akkumulationsbewegung von I eingeleitet und aktiv betätigt, von II passiv mitgemacht wird. Diese Abhängigkeit findet auch den Ausdruck in der folgenden exakten Regel: die Akkumulation kann nur in beiden Abteilungen zugleich, und zwar nur unter der Bedingung stattfinden, daß die Abteilung der Lebensmittel jeweilig genau um soviel ihr konstantes Kapital erweitert, als die Kapitalisten der Produktionsmittelabteilung ihr variables Kapital und ihren persönlichen Konsumtionsfonds erweitern. ... Wir haben nun nachzuprüfen, ob diese strenge Regel der kapitalistischen Akkumulation den tatsächlichen Verhältnissen entspricht" (S. 84 f.).

„Damit tatsächlich akkumuliert, d. h. die Produktion erweitert wird, dazu ist noch eine andere Bedingung notwendig: eine Erweiterung der zahlungsfähigen Nachfrage nach Waren. Wo rührt nun die ständig wachsende Nachfrage her, die der fortschreitenden Erweiterung der Produktion im Marxschen Schema zugrunde liegt" (S. 88)?

„Nach dem Marxschen Schema geht die Bewegung von der Abteilung I aus, von der Produktion der Produktionsmittel. Wer braucht diese vermehrten Produktionsmittel? Das Schema antwortet: die Abteilung II braucht sie, um mehr Lebensmittel herstellen zu können. Wer braucht aber die vermehrten Lebensmittel? Das Schema antwortet: eben die Abteilung I, weil sie jetzt mehr Arbeiter beschäftigt. Wir drehen uns offenbar im Kreise. Lediglich deshalb mehr Konsummittel herstellen, um mehr Arbeiter erhalten zu können, und lediglich deshalb mehr Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen Standpunkt eine Absurdität" (S. 89).

Bei Marx „geht die Akkumulation vonstatten, ohne daß im geringsten ersichtlich wäre, für wen, für welche neuen Konsumenten schließlich die Produktion immer mehr erweitert wird. Das Schema setzt etwa folgenden Gang voraus: Die Kohlenindustrie wird erweitert, um die Eisenindustrie zu erweitern. Diese wird erweitert, um die Maschinenindustrie zu erweitern. Diese wird erweitert, um die Produktion der Konsumtionsmittel zu erweitern. Diese wird ihrerseits erweitert, um die wachsende Armee der Kohlen-, Eisen- und Maschinenarbeiter sowie der eigenen Arbeiter zu erhalten. Und so ,ad infinitum' im Kreise..." (S. 255).

Das Schema erweckt so den „Anschein, als ob die kapitalistische Produktion ausschließlich selbst ihren gesamten Mehrwert realisierte und den kapitalisierten Mehrwert für die eigenen Bedürfnisse verwendete" (S. 254).

In Wahrheit ist es „ausgeschlossen, daß die Arbeiter und die Kapitalisten selbst das Gesamtprodukt realisieren können. Sie können stets nur das variable Kapital, den verbrauchten Teil des konstanten Kapitals und den konsumierten Teil des Mehrwerts selbst realisieren, auf diese Weise aber nur die Bedingungen für die Erneuerung der Produktion in früherem Umfang sichern. Der zu kapitalisierende Teil des Mehrwerts hingegen kann unmöglich von den Arbeitern und Kapitalisten selbst realisiert werden. Die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Akkumulation ist also in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten besteht, eine unlösbare Aufgabe" (S. 272).

2. Die Notwendigkeit einer nichtkapitalistischen Umwelt

„Das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion vermag uns also den Prozeß der Akkumulation, wie er in der Wirklichkeit vorgeht und sich geschichtlich durchsetzt, nicht zu erklären. Woran liegt das? An nichts anderem, als an den Voraussetzungen des Schemas selbst. Dieses Schema unternimmt es, den Akkumulationsprozeß unter der Voraussetzung darzustellen, daß Kapitalisten und Arbeiter die einzigen Vertreter der gesellschaftlichen Konsumtion sind. ... Diese Voraussetzung ist theoretischer Notbehelf, in Wirklichkeit gab und gibt es nirgends eine sich selbst genügende kapitalistische Gesellschaft mit ausschließlicher Herrschaft der kapitalistischen Produktion" (S. 270).

„Die kapitalistische Produktionsweise als solche umfaßt bis jetzt, nach mehreren Jahrhunderten ihrer Entwicklung, erst noch einen Bruchteil der Gesamtproduktion der Erde, ihr Sitz ist bisher vorzugsweise das kleine Europa, in dem sie auch noch ganzer Gebiete wie die bäuerliche Landwirtschaft, das selbständige Handwerk und großer Landstrecken nicht Herr geworden ist, ferner große Teile Nordamerikas und einzelne Strecken auf dem Kontinent der übrigen Weltteile" (S. 279).

Nicht nur in der von Marx untersuchten Epoche der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals", sondern auch in ihrem Fortgang bedarf diese Wirtschaftsweise l. der nichtkapitalistischen Schichten innerhalb der eigenen Gesellschaft, 2. der nichtkapitalistischen Räume in 'der Weltwirtschaft. Und zwar dienen ihr beide Sphären nach R. Luxemburg nicht nur als Abnehmer ihres wachsenden Warenangebots, sondern auch als Lieferanten von Produktionsmitteln (vor allem von billigen Rohstoffen), von Lebensmitteln (etwa aus der bäuerlichen Wirtschaft) sowie von zusätzlichen Arbeitskräften:

Wir sehen, „daß der Kapitalismus auch in seiner vollen Reife in jeder Beziehung auf die gleichzeitige Existenz nichtkapitalistischer Schichten und Gesellschaften angewiesen ist. Dieses Verhältnis erschöpft sich nicht durch die nackte Frage des Absatzmarktes für das .überschüssige Produkt' . . . Der Akkumulationsprozeß des Kapitals ist durch alle seine Wertbeziehungen und Sachbeziehungen: konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert an nichtkapitalistische Produktionsformen gebunden. Letztere bilden das gegebene historische Milieu jenes Prozesses. Die Kapitalakkumulation kann so wenig unter der Voraussetzung der ausschließlichen und absoluten Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt werden, daß sie vielmehr ohne das nichtkapitalistische Milieu in jeder Hinsicht undenkbar ist" (S. 286 f.).

„Die kapitalistische Produktion ist von Anbeginn in ihran Bewegungsformen und -gesetzen auf die gesamte Erde als Schatzkammer der Produktivkräfte berechnet. In seinem Drange nach Aneignung der Produktivkräfte zu Zwecken der Ausbeutung durchstöbert das Kapital die ganze Welt, verschafft sich Produktionsmittel aus allen Winkeln der Erde, errafft oder erwirbt sie von allen Kulturstufen und Gesellschaftsformen" (S. 279).

So ergibt sich, „daß die kapitalistische Akkumulation zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung bedarf, in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärts schreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses Milieu vorfindet" (S. 278 f.).

3. Der Kampf um die Erweiterungssphären des Kapitals

In dem solcherart gekennzeichneten expansiven Ausgreifen des modernen Kapitalismus sind nach R. Luxemburg ...

„.. .drei Phasen zu unterscheiden: der Kampf des Kapitals mit der Naturalwirtschaft, der Kampf mit der Warenwirtschaft und der Konkurrenzkampf des Kapitals auf der Weltbühne um die Reste der Akkumulationsbedingungen" (S. 289).

a) Die Auflösung der Naturalwirtschaft

„Der Kapitalismus bedarf zu seiner Existenz und Fortentwicklung nichtkapitalistischer Produktionsformen als seiner Umgebung. Aber nicht mit jeder dieser Formen ist ihm gedient. Er braucht nichtkapitalistische soziale Schichten als Absatzmarkt für seinen Mehrwert, als Bezugsquellen seiner Produktionsmittel und als Reservoirs der Arbeitskräfte für sein Lohnsystem. Zu allen diesen Zwecken kann das Kapital mit naturalwirtschaftlichen Produktionsformen nichts anfangen. In allen naturalwirtschaftlichen Formationen ... ist die Produktion für den Selbstbedarf das Ausschlaggebende der Wirtschaft, daher kein oder geringer Bedarf nach fremden Waren und in der Regel auch kein Überfluß an eigenen Produkten oder zum mindesten kein dringendes Bedürfnis, überschüssige Produkte loszuwerden. Was das wichtigste jedoch: alle naturalwirtschaftlichen Produktionsformen beruhen auf dieser oder jener Art Gebundenheit sowohl der Produktionsmittel wie der Arbeitskräfte. ... Die Naturalwirtschaft setzt somit den Bedürfnissen des Kapitals in jeder Hinsicht starre Schranken entgegen. Der Kapitalismus führt deshalb vor allem stets und überall einen Vernichtungskampf gegen die Naturalwirtschaft in jeglicher historischer Form, auf die er stößt, gegen die Sklavenwirtschaft, gegen den Feudalismus, gegen den primitiven Kommunismus, gegen die patriarchalische Bauernwirtschaft. ... Die ökonomischen Zwecke des Kapitalismus im Kampfe mit naturalwirtschaftlichen Gesellschaften sind im einzelnen:

1. sich wichtiger Quellen von Produktivkräften direkt zu bemächtigen, wie Grund und Boden, Wild der Urwälder, Mineralien, Edelsteine und Erze, Erzeugnisse exotischer Pflanzenwelt, wie Kautschuk usw;

2. Arbeitskräfte ,frei' zu machen und zur Arbeit für das Kapital zu zwingen;

3. die Warenwirtschaft einzuführen;

4. Landwirtschaft von Gewerbe zu trennen" (S. 289 f.).

Ökonomischer Druck verbindet sich dabei mit den Mitteln außerökonomischer Gewalt. Zeugnis hierfür legen nach R. Luxemburg nicht nur zahlreiche Vorgänge in der europäischen Wirtschaftsgeschichte, sondern vor allem auch in der zeitgenössischen Kolonialpolitik ab.

b) Die Unterordnung der einfachen Warenwirtschaft

„Die zweite wichtigste Vorbedingung, sowohl zur Erwerbung von Produktionsmitteln wie zur Realisierung des Mehrwerts, ist die Hineinbeziehung der naturalwirtschaftlichen Verbände, nachdem und indem sie zerstört werden, in den Warenverkehr und in die Warenwirtschaft. Alle nichtkapitalistischen Schichten und Gesellschaften müssen für das Kapital zu Warenabnehmern werden und müssen ihm ihre Produkte verkaufen" (S. 306).

Auch hierbei geht es ohne ökonomischen und außerökonomischen Zwang nicht ab:

„Die Handelsbeziehungen der ostindischen Kompagnien mit den Gewürzländern waren so gut Raub, Erpressung und grober Schwindel unter der Flagge des Handels, wie heute die Beziehungen der amerikanischen Kapitalisten zu den Indianern in Kanada, denen sie Pelze abkaufen, oder der deutschen Händler zu den Afrikanegern. Das klassische Beispiel des .sanften' und .friedliebenden' Warenhandels mit rückständigen Gesellschaften ist die moderne Geschichte Chinas, durch die sich, wie ein roter Faden, seit Beginn der vierziger Jahre, das ganze 19. Jahrhundert hindurch die Kriege der Europäer ziehen, deren Zweck war, China gewaltsam dem Warenverkehr zu erschließen. Durch Missionare provozierte Christenverfolgungen, von Europäern angezettelte Tumulte, periodische blutige Kriegsgemetzel, ... schwere Kriegskontributionen, mit dem ganzen System von öffentlicher Schuld, europäischen Anleihen, europäischer Kontrolle der Finanzen und europäischer Besetzung der Festungen im Gefolge, erzwungene Eröffnung von Freihäfen und erpreßte Konzessionen zu Eisenbahnbauten an europäische Kapitalisten, das waren die Geburtshelfer des Warenhandels in China vom Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bis zum Ausbruch der chinesischen Revolution" (S. 306 f.).

„Allgemeines Resultat des Kampfes zwischen Kapitalismus und einfacher Warenwirtschaft ist dies: das Kapital tritt selbst an Stelle der einfachen Warenwirtschaft, nachdem es die Warenwirtschaft an Stelle der Naturalwirtschaft gesetzt hatte. Wenn der Kapitalismus also von nichtkapitalistischen Formationen lebt, so lebt er, genauer gesprochen, von dem Ruin dieser Formationen, und wenn er des nichtkapitalistischen Milieus zur Akkumulation unbedingt bedarf, so braucht er es als Nährboden, auf dessen Kosten, durch dessen Aufsaugung die Akkumulation sich vollzieht. ... Der Akkumulationsprozeß hat die Bestrebung, überall an Stelle der Naturalwirtschaft die einfache Warenwirtschaft, an Stelle der einfachen Warenwirtschaft die kapitalistische Wirtschaft zu setzen, die Kapitalproduktion als die einzige und ausschließliche Produktionsweise in sämtlichen Ländern und Zweigen zur absoluten Herrschaft zu bringen" (S. 334 f.).

Damit aber eröffnet sich eine bedeutungsvolle Perspektive:

„Das Endresultat einmal erreicht was jedoch nur theoretische Konstruktion bleibt —, wird die Akkumulation zur Unmöglichkeit: die Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwerts verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe. In dem Moment, wo das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion der Wirklichkeit entspricht, zeigt es den Ausgang, die historische Schranke der Akkumulationsbewegung an, also das Ende der kapitalistischen Produktion. Die Unmöglichkeit der Akkumulation bedeutet kapitalistisch die Unmöglichkeit der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte und damit die objektive geschichtliche Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus. Daraus ergibt sich. die v/iderspruchsvolle Bewegung der letzten, imperialistischen Phase als der Schlußperiode in der geschichtlichen Laufbahn des Kapitals" (S. 335).

Schon heute zeigt sich daher nach Luxemburg die dritte, letzte Form des kapitalistischen Expansionsstrebens: der Konkurrenzkampf des Kapitals mit seinesgleichen im zwischennationalen Raum.

c) Weltkonkurrenz und Imperialismus

„Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde. Gemessen jedoch an der gewaltigen Masse des bereits akkumulierten Kapitals der alten kapitalistischen Länder, .. . gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad der Entfaltung der Produktivkräfte des Kapitals, erscheint das seiner Expansion noch verbleibende Feld als ein geringer Rest. Demgemäß gestaltet sich das internationale Vorgehen des Kapitals auf der Weltbühne. Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und an Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt, wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals, wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen ... Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwickelung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten" (S. 361).

Hierbei entwickelt sich der „Militarismus" als eine neue Sphäre der Kapitalakkumulation, zu Lasten der arbeitenden sowie der nichtkapitalistischen Schichten der Gesellschaft (S. 367 ff.).

Alles in allem: „Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der.Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist" (S. 379 f.).

4. Würdigung

1. Natürlich trifft es zu, daß das von Marx seinen Reproduktionsschemata zugrunde gelegte reine Zwei-Klassen-Konzept und die Voraussetzung ausschließlich kapitalistischer Produktion eine außerordentliche Vereinfachung darstellt. Auch ist die Zersetzung vorindustrieller Wirtschaftsformen durch die moderne Produktionsweise eine Erfahrungstatsache. Luxemburg verwischt aber die versdüenenen Ebenen von theoretisch-typisierender und unmittelbar praktischer Betrachtung, wenn sie die geschichtliche Tatsache der Zerstörung vorkapitalistischer Wirtschaftsformationen theoretisch mit der Unmöglichkeit einer Kapitalakkumulation im rein kapitalistischen Milieu begründet.

2. Die Grundthese von der Unmöglichkeit einer Kapitalerweiterung in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft beruht auf einem schwerwiegenden theoretischen Fehler. Bei Betrachtung der Marxschen Akkumulationsschemata nimmt R. Luxemburg an, daß die „Abteilung I" vermehrte Produktionsmittel nur für „Abteilung II" produziere (vgl. Zitat oben, S. 159 t.) Daraus folgt natürlich, daß Abteilung II mit den zusätzlichen Produktionsmitteln wieder in vermehrtem Umfang Konsumgüter für den Bedarf der Unternehmer und Arbeiter produzieren muß. Die Frage, woher die notwendige zusätzliche Nachfrage nach Konsumgütern komme, stellt sich hierbei nur, weil R. Luxemburg vernachlässigt, daß Abteilung I Produktionsmittel nicht nur für den Bedarf von II erzeugt, sondern auch für ihren eigenen Erweiterungsbedarf. Wie schon Marx hervorgehoben hat, ist Bedingung jeder Wirtschaftserweiterung die Erzeugung von Produktionsmitteln für das beschleunigte Wachstum der Produktionsmittel hervorbringenden Wirtschaftszweige selbst. Insoweit ist die Ausdehnung der Erzeugung von Vorprodukten in der Tat ein teilweise von der gleichzeitigen Entwicklung in II unabhängiges Glied der Bewegung; und in dieser „Produktion um der Produktion willen" liegt keinerlei „Absurdität", wie Luxemburg meint. Solche „Verlängerung der Produktionswege" (Böhm-Bawerk) erfordert natürlich auch vermehrte Arbeitskräfte, die entlohnt werden (im Sinne von Marx zu bezeichnen mit der Größe mav1 und die ihre Kaufkraft gegen Konsumgüter umsetzen wollen. (Vgl. dazu besonders Marx, ,Das Kapital" I, S. 606 f.; zitiert oben, S. 68 f.) In einer Wirtschaft mit starker Ausdehnung der Produktionsmittelerzeugung ist das Problem nun keineswegs, woher etwa die Kaufkraft für das gleichzeitige Angebot an Konsumgütern kommen könne, sondern vielmehr umgekehrt, wie das von der Ausdehnung der Vorproduktion noch nicht berührte Angebot an Konsumwaren ausreichen soll, um die bei der Erzeugung von Produktionsmitteln entstandenen Lohneinkommen abzudecken. Es entsteht ein Lohnüb erhang, gespeist aus dem Sektor der Produktionsmittel, gegenüber dem verzögerten Wachstum des Angebots an Konsumgütern, und diese Form von Akkumulationsinflation hat sowohl die Sowjetunion bis zum zweiten Weltkrieg als auch der Entwicklungsraum in der Weltwirtschaft von heute mittlerweile durchgekostet. Rosa Luxemburgs Theorie beruht also auf der Vernachlässigung der Größe mav1 besonders mav1 im Prozeß der Wirtschaftserweiterung. Damit bricht ihre Beweisrührung in sich zusammen. (Vgl. hierzu besonders N. Bucharin, Imperialismus etc., S. 20.)

3. Im übrigen würde auch der Austausch mit dem nichtkapitalistischen Milieu unter der Voraussetzung von R. Luxemburg selbst das Problem der Nachfrage nicht lösen können. Denn: „Wer soll die Waren kaufen, die aus einer nichtkapitalistischen Umgebung importiert werden? Wenn es aus prinzipiellen Gründen für die .exportierten' Waren keine Nachfrage gegeben haben sollte, dann kann für die .importierten' Waren ebenso wenig eine Nachfrage bestehen." (P. M. Sweezy, Theorie, S. 162.)

Anmerkung:

1) Im weiteren zitiert nach Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. VI, Berlin 1923. (Unter Einschluß von R. Luxemburgs Antikritik: Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben; als selbständige Schrift erstmals erschienen Berlin 191G.)

 

Editoriale Anmerkung:

Der Text stammt aus Werner Hofmann, Sozialökonomische Studientexte, Band 3, Theorie der Wirtschaftsentwicklung, Göttingen März 1966, Dritter Teil, Erster Abschnitt: Die sozialistische Lehre von „Monopolkapitalismus", „Imperialismus" und „allgemeiner Krise", S.158ff

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R. Luxemburg Hauptwerk "Die Akkumulation des Kapitals" gibt es komplett online bei http://www.jpmarat.de/deutsch/rl/lu05_005.html