Kanonen und Kapitalismus
Die militärische Revolution als Ursprung der Moderne

von Robert Kurz

02/02
 
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Es gibt zahlreiche Versionen von der Geburt der Moderne. Nicht einmal über die Datierung sind sich die Historiker einig. Die einen lassen die Moderne bereits im 15. und 16. Jahrhundert mit der sogenannten "Renaissance" beginnen (ein Begriff, der erst im 19. Jahrhundert von Jules Michelet erfunden wurde, wie der französische Historiker Lucien Febvre bewiesen hat). Die anderen sehen die eigentliche Zäsur, den take off der Modernisierung, erst im späten 18. Jahrhundert, als die Philosophie der Aufklärung, die Französische Revolution und der Beginn der Industrialisierung die Welt erschütterten. Aber welche Datierung die modernen Historiker und Philosophen für die Geburt ihrer eigenen Welt auch bevorzugen, in einem sind sie sich doch einig: Fast immer werden positive Errungenschaften als die ursprüngliche Triebfeder angenommen.

Prominente Gründe für den Aufstieg der Modernisierung sollen wahlweise die künstlerischen und wissenschaftlichen Innovationen der italienischen Renaissance, die großen Entdeckungsreisen seit Kolumbus, die protestantisch-calvinistische Idee von der Selbstverantwortung des Individuums, die aufklärerische Befreiung vom irrationalen Aberglauben oder die Entstehung der modernen Demokratie in Frankreich und in den USA gewesen sein. Auf technisch-industriellem Gebiet wird nicht zuletzt die Erfindung der Dampfmaschine und des mechanischen Webstuhls als "Startschuß" der modernen gesellschaftlichen Entwicklung genannt.

Diese letztere Erklärung hat besonders der Marxismus hervorgehoben, weil sie mit seiner philosophischen Doktrin des "historischen Materialismus" in Einklang steht. Der eigentliche Motor der Geschichte, so behauptet diese Doktrin, sei die Entwicklung der materiellen "Produktivkräfte", die immer wieder mit zu eng gewordenen "Produktionsverhältnissen" in Konflikt geraten und eine neue Form der Gesellschaft erzwingen würden. Deshalb ist für den Marxismus der entscheidende Punkt der Transformation die Industrialisierung: Erst die Dampfmaschine, so die vereinfachte Formel, habe die "Fesseln der alten, feudalen Produktionsverhältnisse" gesprengt.

Dabei fällt allerdings ein eklatanter Widerspruch in der marxistischen Argumentation auf. Denn im berühmten Kapitel über die "ursprüngliche Akkumulation des Kapitals" befaßt sich Karl Marx in seinem Hauptwerk mit Zeiträumen, die Jahrhunderte vor der Dampfmaschine liegen. Ist das nicht eine Selbstwiderlegung des "historischen Materialismus"? Wenn die "ursprüngliche Akkumulation" und die Erfindung der Dampfmaschine derart weit historisch auseinanderfallen, dann können die industriellen Produktivkräfte nicht die entscheidende Ursache für die Geburt des modernen Kapitalismus gewesen sein. Zwar bleibt es richtig, daß sich die kapitalistische Produktionsweise erst mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts endgültig durchgesetzt hat; aber wenn wir nach den eigentlichen Wurzeln für diese Entwicklung suchen, dann müssen wir viel tiefer ansetzen.

Es ist ja auch logisch, daß der erste Keim der Moderne oder besser gesagt der "Urknall" ihrer Dynamik einem noch weitgehend vormodernen Milieu entstammen mußte, denn sonst hätte es kein "Ursprung" im strengen Sinne des Wortes sein können. Insofern ist die sehr frühe "erste Ursache" und die sehr späte "volle Durchsetzung" kein Widerspruch. Wenn es auch richtig ist, daß sich für manche Weltregionen und soziale Gruppen der Beginn der Modernisierung fast bis in die Gegenwart verschiebt, so ist es doch ebenso richtig, daß der früheste Anstoß umso weiter in der Vergangenheit geschehen sein muß, wenn man die (vom Standpunkt des Lebens einer Generation oder gar eines einzelnen Menschen aus betrachtet) ungeheure zeitliche Ausdehnung gesellschaftlicher Prozesse berücksichtigt.

Was also war in einer relativ fernen Vergangenheit das Neue, das in der Folge unausweichlich die Geschichte der Modernisierung hervorgebracht hat? Man kann dem historischen Materialismus durchaus das Zugeständnis machen, daß keinem bloßen Wandel der Ideen und Mentalitäten, sondern einer Entwicklung auf der Ebene der harten materiellen Tatsachen die größte und wichtigste Bedeutung zukam. Es war jedoch keine Produktivkraft, sondern im Gegenteil eine durchschlagende Destruktivkraft, die der Modernisierung den Weg gebahnt hat: nämlich die Erfindung der Feuerwaffen. Obwohl dieser Zusammenhang seit langem bekannt ist, blieb er doch in den berühmtesten und folgenreichsten Theorien der Modernisierung (den Marxismus eingeschlossen) völlig unterbelichtet.

Es war der deutsche Wirtschaftshistoriker Werner Sombart, der pikanterweise kurz vor dem Ersten Weltkrieg in seiner Studie "Krieg und Kapitalismus" (1913) ausführlicher auf diese Frage einging; freilich nur, um dann wie so viele der damaligen deutschen Intellektuellen selber der Kriegsbegeisterung zu verfallen. Erst in den letzten Jahren sind die rüstungstechnischen und kriegsökonomischen Ursprünge des Kapitalismus wieder zum Thema gemacht worden, so von dem deutschen Ökonomen Karl Georg Zinn in seinem Buch "Kanonen und Pest" (1989) und von dem US-amerikanischen Neuhistoriker Geoffrey Parker in seiner Arbeit "Die militärische Revolution" (1990). Aber auch diese Untersuchungen haben nicht den großen Widerhall gefunden, den sie verdienen. Offensichtlich können die moderne westliche Welt und ihre Ideologen nur schwer die Einsicht akzeptieren, daß der letzte historische Grund ihrer heiligen Begriffe von "Freiheit" und "Fortschritt" in der Erfindung der teuflischsten Mordinstrumente der Menschheitsgeschichte zu finden ist. Und dieser Zusammenhang gilt auch noch für die moderne Demokratie, denn die "militärische Revolution" ist bis heute ein heimlicher Beweggrund der Modernisierung geblieben. Gerade die Atombombe war eine genuin westlich-demokratische Erfindung.

Die Innovation der Feuerwaffen hat die vorkapitalistischen Formen der Herrschaft zerstört, denn sie machte das feudale Rittertum militärisch lächerlich. Schon vor den Feuerwaffen hatte man die gesellschaftlichen Folgen von wirksamen Distanzwaffen geahnt, denn das Zweite Lateranische Konzil verbot im Jahr 1129 den Einsatz der Armbrust gegen Christen. Nicht umsonst galt die von außereuropäischen Kulturen um das Jahr 1000 nach Europa importierte Armbrust als die spezielle Waffe der Räuber, Outlaws und Rebellen bis hin zu legendären Figuren wie Robin Hood. Als die noch viel wirksameren Distanzwaffen der "Feuerrohre" aufkamen, besiegelten sie den Untergang der gepanzerten und berittenen Kriegsherren.

Aber die Feuerwaffe lag nicht mehr in den Händen einer Opposition "von unten" gegen die feudale Herrschaft, sondern sie führte zu einer "Revolution von oben" durch die Fürsten und Könige. Denn die Produktion und Mobilisierung der neuen Waffensysteme war nicht auf der Ebene von lokalen und dezentralen Strukturen möglich, wie sie bis dahin die gesellschaftliche Reproduktion geprägt hatten, sondern erforderte eine völlig neue soziale Organisation auf mehreren Ebenen. Die Feuerwaffen, vor allem die großen Kanonen, konnten nicht mehr in kleinen Werkstätten produziert werden wie die vormodernen Hieb- und Stichwaffen. Deshalb bildete sich eine besondere Rüstungsindustrie heraus, die in großen Fabriken Kanonen und Musketen produzierte. Gleichzeitig entstand eine neue militärische Defensiv-Architektur in Gestalt riesiger Bollwerke, die den Kanonen trotzen sollten. Es kam zu einem Innovations-Wettlauf zwischen Offensiv- und Defensivwaffen und zu einem Rüstungswettlauf zwischen den Staaten, der bis heute nicht aufgehört hat.

Durch die Feuerwaffen veränderte sich auch die Struktur der Armeen grundsätzlich. Die Krieger konnten sich nicht mehr selbst ausrüsten, sondern mußten sich ihre Waffen von einer gesellschaftlichen Zentralgewalt geben lassen. Deshalb trennte sich die militärische von der bürgerlichen Organisation der Gesellschaft. An die Stelle der von Fall zu Fall für Feldzüge mobilisierten Bürger oder lokalen Herren mit ihren bewaffneten Familien traten "stehende Heere": Es entstand "das Militär" als besondere soziale Gruppe und die Armee wurde zu einem sozialen Fremdkörper in der Gesellschaft. Der Status des Offiziers verwandelte sich aus einer persönlichen Verpflichtung der reichen Bürger in einen modernen "Beruf". Im Zusammenhang mit dieser neuen militärischen Organisation und der neuen Kriegstechnik nahm auch die Größe der Armeen sprunghaft zu: "Die bewaffneten Streitkräfte wuchsen zwischen 1500 und 1700 um das Zehnfache" (Geoffrey Parker).

Rüstungsindustrie, Rüstungswettlauf und die Erhaltung permanent organisierter, von der bürgerlichen Gesellschaft getrennter und gleichzeitig stark vergrößerter Armeen führten notwendig zu einer radikalen Umwälzung der Ökonomie. Der aus der Gesellschaft herausgelöste militärische Großkomplex erforderte eine "permanente Kriegswirtschaft". Diese neue Ökonomie des Todes legte sich wie ein Leichentuch auf die naturalwirtschaftlichen Strukturen der alten Agrargesellschaften. Weil Rüstung und Militär sich nicht mehr auf die lokale agrarische Reproduktion stützen konnten, sondern großräumig und in anonymen Zusammenhängen mit Ressourcen versorgt werden mußten, waren sie auf die Vermittlung des Geldes angewiesen. Warenproduktion und Geldwirtschaft als Grundelemente des Kapitalismus erhielten ihren entscheidenden Anstoß in der frühen Neuzeit durch die Entfesselung der Militär- und Rüstungsökonomie.

Diese Entwicklung erzeugte und begünstigte die kapitalistische Subjektivität und ihre Mentalität des abstrakten "Plusmachens". Der permanente finanzielle Bedarf der Kriegswirtschaft führte in der zivilen Gesellschaft zum Aufstieg der Geld- und Handelskapitalisten, der großen Geldsammler und Kriegsfinanziers. Aber auch die neue Organisation der Armeen selber brachte die kapitalistische Mentalität hervor. Die alten agrarischen Krieger verwandelten sich in "Soldaten", das heißt in Empfänger von "Sold". Sie waren die ersten modernen "Lohnarbeiter", die ihr Leben vollständig durch Geldeinkommen und Warenkonsum reproduzieren mußten. Und deshalb kämpften sie nicht mehr für idealisierte Ziele, sondern nur noch für Geld. Ihnen war es gleich, wen sie totschossen, wenn nur der Sold "stimmte"; und so wurden sie zu den ersten Repräsentanten der "abstrakten Arbeit" (Marx) für das moderne warenproduzierende System.

Den Hauptleuten und Führern der "Soldaten" kam es darauf an, durch Plünderungen Beute zu machen und diese in Geld zu verwandeln. Dabei sollte der output der Beute größer sein als der input der Kriegskosten. Das war die Geburt der modernen betriebswirtschaftlichen Rationalität. Die meisten Generäle und Söldnerführer der frühen Neuzeit legten ihr Beute-Geld gewinnbringend an und wurden zu Teilhabern des Geld- und Handelskapitals. Nicht der friedliche Kaufmann, der fleißige Sparer und der ideenreiche Produzent stand also am Anfang des Kapitalismus, ganz im Gegenteil: Wie die "Soldaten" als blutige Handwerker der Feuerwaffen die Prototypen der modernen Lohnarbeiter waren, so die "Geld machenden" Heerführer und Condottieri die Prototypen des modernen Unternehmertums und seiner "Risikobereitschaft".

Als freie Unternehmer des Todes waren die Condottieri jedoch angewiesen auf die großen Kriege der staatlichen Zentralgewalten und deren Finanzierungsfähigkeit. Das wechselhafte moderne Verhältnis von Markt und Staat hat hier seinen Ursprung. Um die Rüstungsindustrien und Bollwerke, die riesigen Armeen und die Kriege finanzieren zu können, mußten die Staaten ihre Bevölkerung bis aufs Blut auspressen, und zwar der Sache entsprechend in einer ebenfalls neuen Form: An die Stelle der alten Naturalabgaben trat die monetäre Besteuerung. Die Menschen wurden also gezwungen, "Geld zu verdienen", um ihre Steuern an den Staat bezahlen zu können. Auf diese Weise forcierte die Kriegswirtschaft nicht nur direkt, sondern auch indirekt das marktwirtschaftliche System. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert stieg die Besteuerung des Volkes in den europäischen Ländern um bis zu 2000 Prozent.

Natürlich ließen sich die Menschen nicht freiwillig in die neue Rüstungs- und Geldwirtschaft hineinziehen. Sie konnten dazu nur durch blutige Unterdrückung gezwungen werden. Die permanente Kriegswirtschaft der Feuerwaffen erzeugte für einige Jahrhunderte den permanenten Volksaufstand und damit den permanenten Krieg nach innen. Um die ungeheuren Abgaben auspressen zu können, mußten die staatlichen Zentralgewalten einen ebenso ungeheuren Apparat der Polizei und der Verwaltung aufbauen. Alle modernen Staatsapparate stammen aus dieser Geschichte der frühen Modernisierung. An die Stelle lokaler Selbstverwaltung trat die zentralistische und hierarchische Verwaltung durch eine Bürokratie, deren Kern von den Apparaten der Besteuerung und der inneren Unterdrückung gebildet wurde.

Auch die positiven Errungenschaften der Modernisierung trugen immer das Brandmal dieser Ursprünge. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts war sowohl technologisch als auch organisations- und mentalitätsgeschichtlich ein Abkömmling der Feuerwaffen, der frühmodernen Rüstungsproduktion und ihrer gesellschaftlichen Folgeprozesse. Insofern ist es kaum überraschend, daß die rasante kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte seit der ersten industriellen Revolution niemals anders als in einer destruktiven Form vor sich gehen konnte, selbst noch bei den scheinbar unschuldigsten technischen Erneuerungen. Nicht nur technologisch, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Struktur kann die moderne westliche Demokratie nicht verbergen, daß sie ein Abkömmling der frühmodernen Rüstungs- und Militärdiktatur ist. Unter der dünnen Oberfläche der demokratischen Abstimmungs-Rituale und der politischen Diskurse finden wir das Monstrum eines Apparats, der die scheinbar freien Staatsbürger permanent verwaltet und diszipliniert im Namen der totalen Geldwirtschaft und der damit bis heute verbundenen Kriegsökonomie. In keiner Gesellschaft der Geschichte gab es jemals einen derart hohen prozentualen Anteil von Staatsbeamten und Menschenverwaltern, Soldaten und Polizisten; keine hat jemals einen derart großen Teil ihrer Ressourcen für Rüstung und Militär verschleudert.

Die bürokratischen Diktaturen der "nachholenden Modernisierung" im Osten und Süden mit ihren zentralistischen Apparaten waren nicht die Antipoden, sondern die Wiederholungstäter der kriegsökonomischen westlichen Geschichte, ohne diese einholen zu können. Die am meisten bürokratisierten und militarisierten Gesellschaften sind strukturell immer noch die westlichen Demokratien. Auch der Neoliberalismus ist ein spätes Kind der Kanonen, wie die gigantische Rüstung der "Reaganomics" und die Geschichte der 90er Jahre bewiesen haben. Die Ökonomie des Todes wird das unheimliche Erbe der modernen marktwirtschaftlichen Gesellschaft bleiben, bis der Killer-Kapitalismus sich selbst zerstört hat.
 

Editoriale Anmerkung:

Der Text ist eine Spiegelung von
http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz_kanonen-und-kapitalismus_folha.html